Das Frühstück war vorbei. Die Rechnungen für die an diesem Tag abreisenden Gäste waren vorbereitet. Alles lief wunderbar. Bis Honeys Mutter anrückte.
»Hannah! Die Mädels und ich, wir haben uns das Hirn zermartert, aber wir haben nichts gefunden. Wir müssen in die Schlacht ziehen und brauchen deine Hilfe. Komm bitte zu mir, sobald du fertig bist. Und meine Enkelin, ist die auch da? Die brauche ich vielleicht ebenfalls.«
Schlechte Neuigkeiten! Honey hatte eigentlich vorgehabt, sich bei Steve Doherty zu erkundigen, ob er Fortschritte im Fall Templeton-Jones gemacht hatte. Das konnte sie jetzt vergessen.
Gloria Cross schien so wild entschlossen zu sein wie John Wayne bei der Vorbereitung auf die Landung in der Normandie. Sie hatte sogar die gleiche Haltung angenommen. Zum Glück sah sie nicht auch noch aus wie er. Sie war braun gebrannt und unglaublich lebendig für ihr Alter. Sie trug ein sandfarbenes Wildlederkostüm mit blauen Paspeln. An ihren Ohrläppchen baumelten schwere Perlenohrringe, so groß wie Wachteleier. Ein dazu passendes Perlencollier mit Goldfassung – Modeschmuck, zum Niederknien schön – schmiegte sich um ihren Hals. Heute war sie noch lebhafter als sonst, denn sie war gerade von einer Kreuzfahrt mit dem Senioren-Salsa-Club zurückgekehrt.
Eine Wolke französischen Parfüms waberte hinter ihr her, nachdem sie, ohne auch nur anzuklopfen, die Tür zum Büro aufgestoßen hatte. Das war allerdings gerade verwaist, weil Honey sich im Augenblick um einen zehnjährigen irischen Jungen kümmerte, der sein Skateboard nicht mehr finden konnte.
»Ich werde alle bitten, danach Ausschau zu halten, Kenny«, |136|versprach Honey dem besorgt blickenden Knirps. »Komm nach dem Mittagessen wieder zu mir. Ich wette, dass es bis dahin aufgetaucht ist.«
Sie konnte ihm an der Nasenspitze ansehen, dass er ihr das wirklich glaubte. Kenny war blond, hatte blaue Augen, und bis jetzt hatte er das Vertrauen zu den Erwachsenen noch nicht verloren. Ein, zwei Jahre, dann würde er zu einem missmutigen Teenager herangewachsen sein, ehe er sich dann in fünf, sechs weiteren Jahren zum absoluten Herzensbrecher seines Jahrgangs mausern würde.
So, ein Problem war gelöst – wenn auch nur zeitweilig. Schon zog das nächste herauf.
Honeys Mutter schaute verwirrt. In diesem Zustand lassen sich Menschen normalerweise in einen Sessel fallen. Gloria dagegen schwebte in den Sessel hinein. Niemals würde sie so zusammensacken.
»Mach die Tür zu. Das hier ist eine Privatangelegenheit«, kommandierte Gloria.
Honey tat, wie man ihr befohlen hatte. Dann setzte sie sich hin und zog die Schuhe aus. Hoffentlich würden ihre Füße nun nicht so sehr anschwellen, dass sie nachher nicht mehr hineinpasste.
Die dünnen Augenbrauen ihrer Mutter, die ihre Eleganz einem Top-Kosmetiksalon zu verdanken hatten, wurden fragend hochgezogen. »Wer ist bitte der Kerl in den Gummistiefeln?«
»Kam er auf einem Motorrad angefahren?«
»Er lungert draußen herum und glotzt durchs Fenster herein.« Glorias Miene wurde säuerlich. »Sag bloß nicht, dass das dein neuester Verehrer ist. Also bitte, meine Liebe! Gummistiefel!«
Honey schwieg. Auf dem Motorrad würde sie bestimmt nicht noch einmal mitfahren. Sie würde die erste Fahrt auch niemandem eingestehen, erst recht nicht ihrer Mutter irgendwelche Einzelheiten darüber verraten. Steve hatte es zwar nicht ausdrücklich gesagt, aber sie ging davon aus, dass die Informationen, die er ihr gegeben hatte, vertraulich waren.
|137|»Ich kenne ihn nicht. Er versucht vielleicht, all seinen Mut zusammenzunehmen, um hereinzukommen und nach einem Job zu fragen. Ich dachte, du wärst hier, um dich nach der Morduntersuchung zu erkundigen?«
»Also, enttäusche mich nicht. Du willst doch nicht sagen, dass ihr noch niemanden geschnappt habt?«
»Doch, leider.«
»Dann ist es ja gut, dass ich wegen einer anderen Sache hier bin. Jemand versucht nämlich, unseren Laden, das Second Hand Rose, zu ruinieren.«
Honey schaute fragend. »Was habt ihr denn gemacht?«
»Nichts. Die anderen haben was gemacht. Klammheimlich und auf die kriminelle Tour. Aber die sollen nicht glauben, dass sie damit durchkommen. Ich hab mich mächtig ins Zeug gelegt, und ich denke nicht daran, klein beizugeben.«
Honey kam ein beängstigender Gedanke, und ihr wurde ganz mulmig im Magen. Ihre Mutter hatte die unangenehme Angewohnheit, ihr ständig irgendwelche völlig unpassenden Männer vorzuführen – potenzielle Ehegatten der schlimmsten Sorte. Honey ahnte, es könnte wieder so ein Versuch der Eheanbahnung drohen. Sie schaute Gloria sorgenvoll an. »Hat das etwas mit einem Mann zu tun, Mutter?«
Tiefe Stirnfalten gruben sich in das glatte Make-up ihrer Mutter. Die dünnen Augenbrauen verzogen sich zu eleganten Dreiecken.
»Hannah! Es geht um etwas viel Ernsteres als einen Mann! Es geht um Geld!«
»Aha.«
Honey setzte sich auf. Ja, für Männer hatte ihre Mutter viel übrig. Sie war überzeugt, auf diesem Gebiet die absolute Expertin zu sein, die Einzige, die für ihre Tochter den Richtigen finden konnte. Außerdem hielt sie natürlich auch für sich selbst noch Ausschau nach einem passenden Exemplar. Nicht wirklich ernsthaft, nur ab und zu, rein zum Vergnügen. Geld jedoch besaß für Gloria einen wesentlich höheren Stellenwert. Geld plus Mann gleich Ehemann. Wie ging noch mal dieser Spruch aus |138|Stolz und Vorurteil von dem jungen Mann mit Vermögen, der dringend eine Ehefrau braucht?1 Heute war es das Gleiche in Grün. Jane Austen, das können wir mindestens genauso gut! Honeys Mutter war in ihrem Element.
»Gut. Dann hol mal tief Luft und erzähle mir alles.« Honey merkte, dass sie selbst auch kräftig durchatmete.
Die rosa Lippen ihrer Mutter formten einen Schmollmund. »Wie ich ja bereits mehrfach erwähnt habe, geht es um den Laden.« Nachdem sie dies hervorgesprudelt hatte, zog sie ein Taschentuch heraus und tupfte sich vorsichtig die Augen, um bloß nicht die Wimperntusche zu verschmieren. »Man hat uns die Kündigung geschickt! Und zwei Wochen Frist gegeben! Mehr nicht!«
»Das ist ja furchtbar«, sagte Honey und meinte es auch.
Das Second Hand Rose war ein Kleiderladen, den ihre Mutter und ein halbes Dutzend andere betuchte und sozial eingestellte Damen der Gesellschaft als eine Art Kooperative betrieben. Hier konnte man Kleider hinbringen, aus denen man herausgewachsen war oder die man nicht mehr mochte. Die eine Hälfte der Verkaufseinnahmen ging an den Laden, die andere an Wohltätigkeitseinrichtungen. Honeys Mutter liebte das Geschäft, da es ja mit Kleidung von höchster Qualität handelte. Sie hatte noch nie in ihrem Leben hinter einer Ladentheke gestanden. Sie hatte stets die andere Seite bevorzugt, da sie immer lieber Geld ausgegeben als etwas verkauft hatte. Doch das hier war etwas anderes. Im Laden blühte der Handel mit Kleidern und Klatsch Er war ein Riesenerfolg – zum Einen geschäftlich und dann, weil er Honey an zwei Tagen in der Woche ihre Mutter vom Leib hielt. Wenn der Laden schließen müsste, wäre das wirklich furchtbar.
Honey merkte, wie ihr rechtes Lid nervös zu zucken begann. Wenn sie nicht aufpasste, würden ihre schrecklichsten Albträume wahr werden. Dann wollte ihre Mutter vielleicht im Hotel helfen. Schlimmer ginge es nicht. Weit gefehlt!
|139|Gloria Cross seufzte und stopfte sich das Taschentuch in den Ärmel. »Ich dachte, wir könnten zwischenzeitlich das Second Hand Rose hier bei dir unterbringen. Nur bis wir einen neuen Laden gefunden haben. Mit ein bisschen frischer Farbe wäre Maurice Clouts alter Laden für uns gar nicht so übel.«
Honey lief es eiskalt über den Rücken. »Letzte Woche war schon ein Interessent da«, behauptete sie.
Das war eine glatte Lüge. Der alte Frisiersalon war seitlich ans Hotel angebaut. Der Eingang lag in einer kleinen Seitenstraße. Viele Jahre lang war Maurice Clout der Pächter gewesen. Dann hatte ihn seine Arthritis – und die Tatsache, dass er lieber seine Zeit im Wettbüro verbrachte – zum Aufgeben gezwungen. Die Idee ihrer Mutter war an sich schon ein Albtraum. Aber es konnte noch schlimmer kommen, denn was als Zwischenlösung anfing, konnte sehr leicht zur Dauereinrichtung werden.
Gloria Cross hatte die Augen zu schmalen Schlitzen verengt und schaute ihre Tochter vorwurfsvoll an. »Ich bestehe darauf. Du schuldest mir immer noch Geld für dieses neumodische Dampfbad, das du eingebaut hast.«
Die Sauna. Die Idee war ihr damals gut und einleuchtend erschienen, und der Preis war verlockend gewesen. Der Verkäufer auch. Ein großer, blonder Schwede mit kantigem Kinn und straffem Po.
Honeys Mutter blickte säuerlich. »Niemals hättest du diesen hölzernen Dampftopf kaufen dürfen. Wer will denn schweinchenrosa aussehen, mein Gott?«
Honey drehte die Augen zur Decke. Sie hätte erwidern können, dass Rosa immerhin Mary Janes Lieblingsfarbe war. Allerdings lag ein Körnchen Wahrheit im Argument ihrer Mutter. Die Sauna wurde von den Gästen nicht so angenommen, wie Honey es sich erhofft hatte. Und nun würde sie Honey in alle Ewigkeit verfolgen – zumindest, solange ihre Mutter am Leben war und die Bank noch Rückzahlungsraten an sie überwies.
»Wir wollen doch nichts überstürzen. Das kommt alles ein bisschen plötzlich. Warum setzen wir uns nicht zusammen, ich hole uns einen Kaffee, und du erzählst mir, was geschehen ist.«
|140|Während Honey Kaffee einschenkte, begann ihre Mutter mit ihrer Geschichte.
»Wallace & Gates Holdings, denen das Gebäude gehört, haben uns bisher immer sehr gut behandelt. William Wallace ist richtig nett. Der hätte uns nie rausgeworfen.« Plötzlich beugte sie sich vor, zwinkerte und tätschelte Honeys Knie. »Wir sind der gleiche Jahrgang, weißt du. Er war ein ziemlich toller Hecht, ehe er auf einmal so senil wurde.«
»Ah, verstehe. Das heißt, er ist über siebzig. Es sei denn, er ist Braveheart, der original schottische Held William Wallace. Dann würde er jetzt auf die sechs- oder siebenhundert zusteuern.«
Gloria Cross verzog das Gesicht. »Sei bitte nicht so albern. Das können wir jetzt wirklich nicht brauchen. Diese Sache musst du ernst nehmen.«
»Ja, das mache ich doch.« Es würde ungeheure Konsequenzen haben, wenn sie ihre Mutter als Nachbarin hätte. Honey zwang sich also, ernsthaft über die Angelegenheit nachzudenken. »Ihr habt doch diesen Laden schon fünf Jahre. Wieso wollen sie euch denn jetzt plötzlich loswerden?«
Mehr Miete, das war wahrscheinlich der Grund.
Ihre Mutter zuckte ratlos die Achseln. »Keine Ahnung. Aber das werde ich noch herausfinden. Ich werde mich in die Höhle des Löwen begeben, sozusagen.«
Da musste der Mordfall warten. Honey sprang auf. »Ich komme mit.«
Jetzt hatte sie eine Mission zu erfüllen. Eine chinesische Weisheit besagt, dass eine Frau im Haus Frieden bedeutet, zwei Frauen im Haus dagegen Krieg. Das war eine kurze, knappe und sehr zutreffende Zusammenfassung von Honeys Lebenslage.
Alle anderen Pläne mussten jetzt zurückstehen, zum Beispiel Honeys Vergnügen des Monats – der Einkauf eines schicken Paar Schuhe, das sie bei Jollys gesehen hatte. Nicht zu spitz, keine allzu hohen Absätze, zum richtigen Preis, genau was sie suchte. Doch jetzt war es wesentlich wichtiger, ihre Mutter bei Laune zu halten – insbesondere, wenn das bedeutete, dass sie |141|sich nicht in unmittelbarer Nähe des Green River Hotels einnistete. Das hatte absolute Toppriorität!
Honey schnappte sich ihre Autoschlüssel.
»Also, dann los.«
»Ich warne dich. Bei William Wallace kann ein Mädchen wirklich weiche Knie bekommen.«
»Dieses Mädchen hier nicht«, sagte Honey entschlossen und fügte im Geist hinzu: »Es sei denn, Mel Gibson spielt ihn und trägt einen Kilt.«
»Bei dem schon.«
Honey schaute ihre Mutter an. Sie hatte einen verträumten Zug um die Augen. Das konnte nur eines heißen. »Nein, das hast du nicht!«
Gloria zuckte die Achseln. »Ich bin alt genug, um zu wissen, was ich will.«
Steve Doherty rief an, als Honey gerade ihren Sicherheitsgurt einhakte.
»Was gibt’s Neues?«, erkundigte sie sich.
»Nicht viel. Wir warten noch darauf, dass sich die Eigentümer des leerstehenden Ladens melden, in dem wir die Tote gefunden haben. Die Räumlichkeiten sollen wohl renoviert werden. Ich habe die Leute gebeten, mir eine Liste der Firmen zu geben, die vielleicht in den letzten paar Tagen dort gearbeitet haben. Was machst du gerade?«
Honey erklärte die Sache mit dem Laden ihrer Mutter. »Wir sind auf dem Weg zu Mr. Wallace von Wallace & Gates. Denen gehört der Laden, den meine Mutter gemietet hat.«
»Das ist aber mal ein Zufall. Die sind auch die Eigentümer des Geschäfts mit der toten Lady.«