Sie gelangten an die Weggabelung, als die Sonne noch tief am Himmel stand, doch die Männer des Bischofs waren bereits wach und warteten ungeduldig auf die Rückkehr ihres Kameraden. Als Johanna und ihr Bruder erzählten, was geschehen war, wurden die Männer mißtrauisch. Sie nahmen Johannes’ Jagdmesser mit dem Hirschhorngriff und untersuchten es sorgfältig. Johanna flüsterte ein Dankgebet, daß sie daran gedacht hatte, die Waffe in einem Bach gründlich zu säubern und sämtliche Blutspuren zu beseitigen. Dann ritten die Männer in den Wald, um den Leichnam ihres Gefährten zu bergen, wobei sie Johanna und Johannes mitnahmen. Als die Leute des Bischofs den gelbgefiederten Pfeil entdeckten, der aus dem Körper des Toten ragte, fanden sie die Geschichte bestätigt, die die Kinder ihnen erzählt hatten. Aber was sollten sie mit dem Leichnam ihres Kameraden anfangen? Es war unmöglich, ihn den ganzen Weg nach Dorstadt mitzuführen; denn die Reise dauerte vierzehn Tage, und die Frühlingssonne hatte bereits Kraft und schien warm vom Himmel. Schließlich beerdigten die Männer ihren Gefährten im Wald und stellten ein grob gezimmertes Holzkreuz am Grab auf. Johanna sprach ein Gebet, das die Leute des Bischofs tief beeindruckte; denn wie ihr toter Gefährte beherrschten sie kein Latein.
Da sie damit gerechnet hatten, ein Mädchen zu eskortieren, wußten die Männer zu Anfang nicht so recht, was sie mit Johannes anfangen sollten. Johanna beharrte standhaft darauf, von ihrem Bruder begleitet zu werden, und da den Gesandten des Bischofs durch den Mord an ihrem Kameraden ein Mann fehlte, willigten sie schließlich ein.
Es war eine beschwerliche Reise nach Dorstadt, zumal die Männer der Eskorte es eilig hatten, nach Hause zu kommen, so daß sie jeden Tag lange und hart ritten. Doch die Beschwernisse der Reise machten Johanna nichts aus; sie war |108|fasziniert von der Landschaft, die sich ständig veränderte, und von der neuen Welt, die sich jeden Tag vor ihr auftat. Endlich war sie frei – frei von Ingelheim und den Zwängen und Beengtheiten ihres dortigen Lebens. Sie ritt mit der gleichen Freude, voller Neugier und Staunen, durch stille kleine Dörfer wie durch große, geschäftige Städte. Johannes hingegen wurde immer mürrischer, da es an ausreichend Nahrung und Muße fehlte. Johanna versuchte, ihn zu besänftigen, doch seine Stimmung wurde durch die beinahe mütterliche Besorgtheit der Schwester nur noch schlechter.
Zur Mittagszeit des zehnten Tages erreichten sie den Bischofspalast – müde, schmutzig und sattelwund. Der Kammerherr warf einen mißbilligenden Blick auf die beiden schmutzigen Kinder in ihrer speckigen, abgerissenen Bauernkleidung und erteilte sofort den Befehl, Johanna und ihren Bruder zu baden und beiden saubere Sachen zu besorgen, bevor ihnen die Erlaubnis erteilt werden dürfe, vor den Bischof zu treten.
Für Johanna, die an Katzenwäschen in dem kleinen Bach gewöhnt war, der hinter dem Grubenhaus vorüberplätscherte, war das Bad ein außerordentliches Erlebnis. Im Bischofspalast gab es Badezimmer im Innern, sogar mit geheiztem Wasser! Von einem solchen Luxus hatte Johanna noch nie gehört. Sie blieb fast eine Stunde in dem warmen Bad, während Dienstmägde sie abschrubbten, bis ihre Haut gerötet war und brannte. Johannas Rücken jedoch wuschen die Frauen mit äußerster Behutsamkeit, wobei sie beim Anblick der gezackten Narben mitleidig mit den Zungen schnalzten. Dann wuschen sie Johannas Haar und flochten die lange, weißgoldene Pracht zu zwei schimmernden Zöpfen, die nach vorn über Schultern und Brust hingen und Johannas Gesicht umrahmten. Schließlich brachten die Frauen ihr eine neue Tunika aus grünem Leinen. Der Stoff war so weich und das Gewebe so fein, daß Johanna kaum glauben konnte, daß es von Menschenhand gemacht war.
Als sie angezogen war, brachten die Dienstmägde ihr einen goldgerahmten Spiegel. Johanna nahm ihn, schaute hinein und – erblickte das Gesicht einer Fremden. Sie hatte ihre eigenen Züge noch nie so deutlich betrachten können – nur in verschwommenen, verzerrten Bruchstücken, als Abbild im trüben Wasser des Dorfteichs. Johanna konnte es kaum fassen, mit welcher Schärfe und Deutlichkeit dieser Spiegel das |109|Bild ihres Gesichts wiedergab. Sie hielt sich den Spiegel näher vor die Augen und begutachtete sich mit kritischem Blick.
Hübsch war sie nicht; aber das wußte sie längst. Sie besaß weder die hohe blasse Stirn, noch das schön geformte Kinn, noch die zierliche, zerbrechliche Gestalt, die von fahrenden Musikanten besungen und von Liebhabern bevorzugt wurde. Sie hatte ein frisches, gesundes, jungenhaftes Aussehen. Ihre Stirn war zu niedrig, ihr Kinn zu fest und ihre Schultern zu gerade, als daß man sie als hübsch hätte bezeichnen können. Doch ihr Haar – das Haar ihrer Mutter – war wundervoll, und sie hatte schöne Augen: tiefliegend, von graugrüner Farbe, und umrahmt von dichten Wimpern. Johanna zuckte die Achseln und legte den Spiegel zur Seite. Der Bischof hatte sie nicht herbestellt, damit sie herausfand, ob sie hübsch war oder nicht.
Johannes wurde ins Zimmer geführt, nicht minder prächtig als seine Schwester in eine Tunika und einen Umhang aus blauem Leinen gekleidet. Die beiden Kinder wurden zum Kammerherrn geführt.
»So ist’s schon besser«, sagte der Mann und betrachtete die Geschwister anerkennend. »Viel besser. Nun denn – folgt mir.«
Sie gingen einen langen Flur hinunter, dessen Wände mit riesigen Bildteppichen bedeckt waren, herrlich gearbeitet und mit Gold- und Silberfäden durchwirkt.
Vor Nervosität schlug Johanna das Herz bis zum Hals. Jetzt würde sie dem Bischof gegenübertreten! Ob ich es wohl schaffe, seine Fragen zu beantworten? Ob er mich an der Domschule aufnimmt?
Von einem Moment auf den anderen fühlte Johanna sich unsicher und alldem nicht mehr gewachsen. Sie versuchte, sich auf irgend etwas anderes zu konzentrieren als auf die fremde Umgebung, doch ihr Verstand war vollkommen leer. Sie dachte an Aeskulapius und an das Vertrauen, das er in sie setzte, indem er diese Audienz ermöglicht hatte, und ihr Magen verkrampfte sich.
Vor einer gewaltigen, doppelflügeligen Eichentür blieben sie stehen. Aus dem dahinterliegenden Raum erklangen lautes Stimmengewirr und das Klappern von Tellern. Der Kammerherr nickte dem Pagen zu, der an einer Seite der Tür stand, worauf der Mann die schweren Türflügel aufschwingen ließ.
Johanna und ihr Bruder betraten den dahinter liegenden Saal – und blieben abrupt stehen, starrten mit offenem Mund |110|umher. Ungefähr zweihundert Personen hatten sich im Saal versammelt; sie saßen an langen Tischen, die üppig mit den köstlichsten Speisen gedeckt waren. Platten, mit verschiedenen Sorten gebratenen und gerösteten Wildfleischs belegt – Kapaune, Wildgänse, Moorhühner und Lendenstücke vom Hirsch und vom Wildschwein –, standen auf den Tischen bunt durcheinander, jedoch in bequemer Reichweite der Speisenden, die große Stücke von dem zarten Fleisch mit den Fingern abrissen, es sich in den Mund stopften, herunterschlangen und sich die Lippen dann an den Ärmeln abwischten. In der Mitte des größten Tisches – bereits zur Hälfte verzehrt, aber noch immer zu erkennen – lag der gewaltige Kopf eines gebratenen Ochsen in einer Pfütze aus Fett und Saucen. Außerdem gab es Fleischbrühe, Pasteten, Gemüsesuppen, Walnüsse, Feigen, Datteln, weißen und roten Konfekt, Kuchen, Gebäck und andere Süßigkeiten, die Johanna nicht kannte. Noch nie im Leben hatte sie so viele Speisen an ein und demselben Ort gesehen.
»Ein Lied! Ein Lied!« Zinnbecher wurden rhythmisch und beharrlich auf die Tischplatten gehämmert. »Na los, Widukind, ein Lied!« Ein hochgewachsener, hellhäutiger junger Mann wurde von seinen Nachbarn aufmunternd angestoßen und erhob sich lachend.
»Ik gihorta dat seggen
dat sih urhettun aenon moutin,
Hiltibrant enti Hadubrant …«
Johanna war erstaunt. Der junge Mann sang sein Lied auf Theodisk, der Sprache des gemeinen Volkes – der Dorfpriester hätte sie als ›Sprache der Heiden‹ bezeichnet -, und nicht auf Latein.
»Ich hörte sagen,
daß sich die Herausforderer einzeln trafen,
Hildebrand und Hadubrand,
zwischen zwei beiden Heeren …«
Die Männer erhoben sich, fielen ein und hielten ihre Becher in die Höhe.
»… Sohn und Vater sahen nach ihrem Panzer,
schlossen ihr Kettenhemd, gürteten ihr Schwert
über ihre Brünnenringe, die beiden Helden,
als sie zum Kampf anritten …«
|111|Ein seltsames Lied für die Tafel eines Bischofs! Johanna blickte verstohlen auf Johannes; der aber hörte gespannt zu, und seine Augen strahlten vor Erregung.
Mit einem donnernden Jubelschrei beendeten die Männer das Lied. Laut rumpelte und scharrte Holz über den Fußboden, als die Feiernden mit den Stühlen wieder an die langen, aus Brettern gezimmerten Tische rückten.
Mit einem verschmitzten Lächeln erhob sich nun ein anderer Mann. »Ich habe gehört«, rief er mit lauter Stimme, »wie sich in einer Ecke des Saales etwas aufrichtete, und … na?« Erwartungsvoll hielt er inne.
»Jawohl! Ein Rätsel!« brüllte jemand, und die Menge grölte beifällig. »Stelle uns ein Rätsel, Haido! Ja! Laß es uns hören!«
Der Mann namens Haido wartete, bis der Lärm verebbt war.
»Ich habe gehört, wie sich in einer Ecke des Saales etwas aufrichtete«, wiederholte er dann und fuhr fort: »Größer wurde es, und es schwoll an, und feucht war’s. Die stolze Maid ergreift dies knochenlose Wunder mit den Händen …«
Wissendes Kichern erhob sich unter den Gästen.
»… und streichelt es zärtlich und knetet es sanft, auf daß es weiter wachse und größer werde und ihr Lust und Freude bereite.« Haidos Augen blitzten vor Vergnügen, als er den Blick durch den Saal schweifen ließ. »Was ist das?«
»Guck dir zwischen die Beine!« rief jemand. »Dann findest du die Antwort. Auch wenn sie bestimmt ein wenig dürftiger ausfällt, als du es dir erhofft hast!« Diesem Zwischenruf folgten donnerndes Gelächter und ein Hagel verschiedenster obszöner Gesten von fast allen Tischen. Johanna beobachtete das Treiben fassungslos. Das war die Residenz des Bischofs?
»Falsch!« rief Haido fröhlich in den Saal. »Es ist nicht, was ihr alle meint!«
»Dann sag uns die richtige Antwort! Die Antwort! Die Antwort!« Wieder riefen die Gäste an den Tischen rhythmisch und hämmerten dazu mit ihren Trinkbechern im Takt.
Haido wartete einen Augenblick, um die Spannung zu erhöhen.
»Es ist Hefeteig!« rief er dann triumphierend und setzte sich, während eine weitere Woge Gelächter durch den Saal brandete.
Als das Lachen allmählich verebbte, sagte der Kammerherr zu den Geschwistern: »Kommt mit.« Dann führte er Johanna |112|und ihren Bruder auf die gegenüberliegende Seite des Saales, wo auf einem Podium die Speisetafel des Bischofs stand. Der Bischof saß auf einem reich bestickten Sitzkissen in der Mitte, immer noch kichernd. Er war in kostbare Seide gekleidet, die jedoch mit Fettspritzern und Weintropfen gesprenkelt war.
Bischof Fulgentius sah ganz anders aus, als Johanna ihn sich vorgestellt hatte. Er war ein großer, stiernackiger Mann; die Haare auf seiner dicken Brust und die massigen, muskulösen Schultern schimmerten durch seinen dünnen Seidenumhang. Er hatte den gewaltigen Schmerbauch und das gerötete Gesicht eines Mannes, der mit leidenschaftlicher Freude dem Wein und dem Essen zusprach. Als Johanna und Johannes näher kamen, beugte der Bischof sich zur Seite und hielt ein blutrotes Stück Konfekt an die Lippen einer drallen Frau, die neben ihm saß. Die Frau nahm einen Bissen von der Süßigkeit; dann flüsterte sie dem Bischof etwas ins Ohr, und beide lachten.
Der Kammerherr räusperte sich. »Die Männer sind mit dem Kind aus Ingelheim eingetroffen, Eminenz.«
Der Bischof schaute seinen Bediensteten mit fragenden Blicken an. »Was? Kind? Welches Kind?«
»Das, nach dem Ihr habt schicken lassen, Eure bischöfliche Gnaden. Die Anwärterin für die Domschule, die Euch empfohlen wurde. Von dem Grie…«
»Ach, ja.« Der Bischof winkte ungeduldig ab. »Jetzt fällt’s mir wieder ein.« Er legte der dicken Frau den Arm um die Schultern, während er Johanna und Johannes musterte. »Was ist das, Widukind? Sehe ich schon doppelt?«
»Nein, bischöfliche Gnaden. Der Dorfpriester von Ingelheim hat seinen Sohn ebenfalls geschickt. Die beiden Kinder sind heute eingetroffen und wollten nicht getrennt werden.«
»Aha.« Das Gesicht des Bischofs strahlte vor Erheiterung. »Was sagt man dazu? Ich verlange eins, und ich bekomme zwei. Wenn der Kaiser doch ebenso großzügig wäre wie diese Geistlichen vom Lande!«
Der Tisch erbebte vor Gelächter. Einige Rufe ertönten; darunter: »Hört, hört!« und: »Amen!«
Der Bischof streckte den Arm aus und riß das Bein eines Brathähnchens ab. Dann sagte er zu Johanna: »Bist du wirklich die kleine Gelehrte, als die du mir angekündigt und empfohlen wurdest?«
|113|Johanna zögerte; sie wußte nicht, was sie auf diese seltsam formulierte Frage erwidern sollte. Schließlich sagte sie: »Ich habe fleißig studiert, Eminenz.«
»Pah! Studiert!« schnaubte der Bischof und nahm einen Bissen vom Hähnchenbein. »An der Domschule wimmelt es von Dummköpfen, die angeblich studieren, aber rein gar nichts wissen. – Was weißt du, Kind?«
»Ich kann lesen und schreiben, Eminenz.«
»Welche Schrift? Theodisk oder Latein?«
»Theodisk, Latein und Griechisch.«
»Griechisch? Höre sich das einer an! Sogar unser hochgeschätzter Odo kann kein Griechisch. Stimmt’s, Odo?« Der Bischof grinste einen schmalgesichtigen Mann an, der ein paar Stühle entfernt saß.
Odos Mund verzog sich zu einem humorlosen Lächeln. »Es ist eine heidnische Sprache, Eminenz. Eine Sprache von Götzendienern und Häretikern.«
»Sehr richtig, sehr richtig.« Die Stimme des Bischofs klang spöttisch. »Alles, was Odo sagt, ist richtig. Odo hat immer recht. Nicht wahr, Odo?«
Der Angesprochene verzog das Gesicht. »Ihr wißt sehr genau, Eminenz, daß ich Euren letzten … wunderlichen Einfall nicht gutheiße. Es ist gefährlich – und noch dazu wider den göttlichen Willen – eine Frau in die Domschule aufzunehmen.«
Von einem der hinteren Tische rief eine Männerstimme: »So, wie sie aussieht, ist sie noch keine Frau.« Wieder brandete eine Woge von Gelächter durch den Saal, begleitet von schlüpfrigen Bemerkungen.
Eine brennende Röte stieg Johanna von der Kehle bis in die Wangen. Wie konnten diese Leute sich im Beisein des Bischofs derart benehmen?
Der Lärm legte sich allmählich, und der Mann, den der Bischof mit Odo angeredet hatte, fuhr fort: »Außerdem ist es sinnlos, eine Frau an der scola aufzunehmen. Frauen sind von Natur aus nur in sehr begrenztem Maße fähig, logische Schlüsse zu ziehen.« Er streifte Johanna mit einem abfälligen Blick; dann schaute er den Bischof wieder an. »Ihre natürlichen Körpersäfte sind kalt und feucht und von daher für eine nennenswerte Hirntätigkeit ungeeignet, zumal die brauchbaren Teile des weiblichen Hirns ohnehin winzig klein sind. |114|Frauen sind nicht imstande, höhere Begriffe oder gar gedankliche Konzepte spiritueller und moralischer Natur zu begreifen.«
Johanna starrte den Mann an.
»Ich habe diese Meinung bereits des öfteren gehört«, sagte der Bischof. Er lächelte Odo mit dem Gesichtsausdruck eines Mannes an, der sich köstlich amüsierte. »Aber wie erklärt Ihr Euch dann die gelehrten Errungenschaften dieses Mädchens? Ihre Kenntnis des Griechischen, zum Beispiel? Eine Sprache, die nicht einmal Ihr, der Lehrmeister Odo« – er dehnte die Worte genüßlich – »beherrscht.«
»Sie hat sich dieser Fähigkeit gebrüstet; aber einen Beweis haben wir nicht zu sehen oder zu hören bekommen«, sagte Odo eingeschnappt. »Ihr seid leichtgläubig, Eminenz. Die angeblichen Griechischkenntnisse dieses Mädchens könnten erlogen sein. Reine Erfindung, als unser griechischer Freund uns von ihren Fähigkeiten berichtet hat, um uns zu imponieren.«
Das war zuviel. Zuerst beleidigte dieser abscheuliche Mann sie, und jetzt wagte er es auch noch, Aeskulapius anzugreifen! Johanna setzte bereits zu einer heftigen Erwiderung an, als sie den mitleidigen und zugleich warnenden Blick eines rothaarigen Ritters auffing, der neben dem Bischof saß.
Tu’s nicht, gab der Mann ihr ohne Worte zu verstehen. Johanna zögerte. Sie war verdutzt, diese Botschaft in den tiefblauen Augen des Ritters so deutlich gelesen zu haben. Er wandte sich dem Bischof zu und flüsterte ihm irgend etwas ins Ohr. Der Bischof nickte, beugte sich vor und sagte zu dem schmalgesichtigen Mann: »Also gut, Odo. Stellt sie auf die Probe.«
»Eminenz?«
»Stellt das Mädchen auf die Probe. Findet heraus, ob sie für den Unterricht an der Domschule geeignet ist.«
»Hier, Eminenz? Das scheint mir nicht der angemessene Ort und die richtige Zeit zu …«
»Hier und jetzt, Odo. Was spricht dagegen? Wir alle werden von diesem Beispiel der Gelehrsamkeit profitieren.«
Der Mann namens Odo runzelte die Stirn. Er wandte sich Johanna zu. Sein schmales Gesicht zielte wie eine Axt auf sie.
»Quincunque vult. Was bedeutet das?«
Johanna war erstaunt. Eine so leichte Frage? Vielleicht war |115|es eine Falle. Genau! Wahrscheinlich versuchte dieser Mann, sie in Sicherheit zu wiegen, um dann erbarmungslos zuzuschlagen. Vorsichtig erwiderte sie: »Das ist der Lehrsatz, der besagt, daß die drei Personen der Dreifaltigkeit kosubstantiell sind. Die Zweinaturenlehre. Daß Jesus Christus so vollkommen göttlich ist, wie er vollkommen menschlich gewesen ist.«
»Woher stammt dieser Lehrsatz?«
»Er wurde auf dem ersten Konzil in Nicäa aufgestellt.«
»Confessio Fidei. Was ist das?«
»Das ist der falsche und schädliche Lehrsatz« – Johanna wußte, was sie sagen mußte; Aeskulapius hatte sie in dieser Frage ausdrücklich zur Vorsicht gemahnt –, »der besagt, daß Christus vor allem ein menschliches Wesen war, und erst in zweiter Linie göttlicher Natur. Wobei die Göttlichkeit Christi wiederum dadurch entstanden sein soll, daß er von seinem Vater adoptiert wurde.« Sie betrachtete Odos Gesicht, doch es war nichts darin zu lesen. »Filius non proprius, sed adoptivus«, fügte Johanna sicherheitshalber hinzu.
»Erkläre uns, weshalb das eine Irrlehre und Häresie ist.«
»Wenn Jesus Christus durch einen Akt der Gnade der Sohn Gottes wäre und nicht von Natur aus, müßte er sich dem Vater unterwerfen. Doch so zu denken ist Ketzerei und eine Schändlichkeit« – Johanna zitierte genau aus dem Gedächtnis –, »weil der Heilige Geist nicht nur dem Vater entspringt, sondern auch dem Sohne; es gibt nur einen Sohn, und dieser ist kein angenommener Sohn, ›in utraque natura proprium eum et non adoptivum filium Dei confitemur‹.«
Die Leute am Tisch schnippten beifällig mit den Fingern. »Litteratissima!« rief jemand durch den Saal.
»Sie ist ein erstaunliches kleines Ding, nicht wahr?« murmelte eine Frauenstimme dicht hinter Johanna, nur einen Hauch zu laut.
»Tja, Odo«, sagte der Bischof im Plauderton. »Was meint Ihr dazu? Hatte der Grieche recht, was das Mädchen angeht, oder nicht?«
Odo sah aus, als hätte er einen kräftigen Schluck Essig getrunken. »Wie es scheint, besitzt das Mädchen einiges Wissen über die orthodoxe Theologie. Aber dieses Wissen als solches beweist noch gar nichts.« Er sprach in herablassendem Tonfall, als würde er über ein anderes Kind reden. »Bei einigen Frauen ist – wie auch bei manchen Tieren – die Fähigkeit zur Nachahmung |116|besonders hoch entwickelt, und dies erlaubt es ihnen, sich die Worte der Männer einzuprägen, sie zu wiederholen und auf diese Weise den Anschein der Gelehrsamkeit zu erwecken. Aber diese Fähigkeit zur Nachahmung darf nicht mit der wahren Vernunft verwechselt werden, die ihrem ganzen Wesen nach eine rein männliche Eigenschaft ist. Denn, wie allgemein bekannt«, Odos Stimme wurde fester und bekam einen autoritären, herrischen Beiklang, denn nun bewegte er sich auf vertrautem Boden, »ist die niedere Stellung der Frau gegenüber dem Manne angeboren.«
»Warum?« Johanna kam das Wort über die Lippen, noch ehe ihr bewußt geworden war, überhaupt etwas gesagt zu haben.
Odos schmallippiger Mund verzog sich zu einem häßlichen Lächeln. Er sah aus wie der Fuchs, der das Kaninchen in die Enge getrieben hat. »Deine Unwissenheit, Kind, offenbart sich schon in dieser Frage. Denn der heilige Paulus selbst hat es als unumstößliche Wahrheit befunden, daß Frauen dem Manne unterlegen sind, was den körperlichen Entwurf, die Rangfolge und die Willenskraft anbelangt.«
»Was den körperlichen Entwurf, die Rangfolge und die Willenskraft anbelangt?« wiederholte Johanna.
»Jaaa.« Odo sprach langsam und betont, als würde er zu einem geistig zurückgebliebenen Kind reden. »Was den körperlichen Entwurf angeht, weil Gott den Adam zuerst schuf und die Eva später; was die Rangfolge betrifft, weil die Eva erschaffen wurde, um dem Adam als Gesellin und Gespielin zu dienen, und was die Willenskraft anbelangt, weil die Eva der Verführung durch den Teufel nicht widerstehen konnte und von dem Apfel aß.«
Die an den Tischen Versammelten nickten zustimmend. Auf dem Gesicht des Bischofs lag ein ernster Ausdruck. Dem rothaarigen Ritter, der neben ihm saß, waren seine Gedanken nicht anzusehen.
Odo grinste hämisch. Johanna verspürte ein Gefühl tiefer Abneigung gegenüber diesem fuchsgesichtigen Mann. Für einen Augenblick stand sie schweigend da und zupfte sich an der Nase.
»Wie kann«, sagte sie schließlich, »die Frau dem Mann im körperlichen Entwurf unterlegen sein? Denn weil Gott sie als zweite schuf, hat er sie aus Adams Rippe gemacht, wohingegen Adam aus feuchtem Lehm geknetet wurde.«
|117|An einigen Tischen im hinteren Teil der Halle erklang beifälliges Kichern.
»Und was die Rangfolge angeht«, die Worte sprudelten aus Johanna hervor, während ihr der Kopf vor Gedanken schwirrte, als sie die logische Kette ihrer Argumentation zusammenfügte, »sollte die Frau dem Mann vorgezogen werden, weil Eva innerhalb des Paradieses erschaffen wurde, Adam aber außerhalb.«
Erneut wurden Gemurmel und Gekicher unter den Zuhörern laut. Das Grinsen auf Odos Gesicht verrutschte leicht.
Johanna fand ihre Argumentationskette zu interessant, als daß sie groß darüber nachgedacht hätte, ob es besser gewesen wäre, den Mund zu halten. »Und was die Willenskraft betrifft, sollte die Frau als dem Mann überlegen betrachtet werden« – das war ein starkes Stück; aber nun gab es kein Zurück mehr –, »denn Eva aß aus Liebe zum Wissen und zum Lernen von dem Apfel, während Adam nur davon aß, weil Eva ihn gefragt hat, ob er ein Stück haben will.«
Schockiertes Schweigen im Saal. Odos blasse Lippen waren vor Zorn fest zusammengepreßt. Der Bischof starrte Johanna an, als könne er nicht glauben, was er da gerade gehört hatte.
Sie war zu weit gegangen.
Manche Gedanken sind gefährlich.
Aeskulapius hatte Johanna gewarnt, doch sie hatte sich so sehr in das Streitgespräch verwickeln lassen, daß sie den Rat ihres Lehrers vergessen hatte. Aber dieser Mann, dieser Odo, war so sehr von sich selbst eingenommen – und so versessen darauf, sie, das kleine Mädchen, vor dem Bischof zu demütigen –, daß sie nicht hatte an sich halten können. Johanna wußte, daß sie nun ihre Chance vertan hatte, auf die Domschule aufgenommen zu werden, doch sie war fest entschlossen, diesem widerlichen kleinen Mann nicht die Genugtuung zu verschaffen, ihren Schmerz und Kummer genießen zu können. Mit emporgerecktem Kinn stand Johanna vor dem hohen Tisch, und in ihren Augen funkelte Trotz.
Die Stille im Saal dehnte sich schier endlos. Aller Augen waren auf den Bischof gerichtet, dessen abschätzender Blick noch immer auf Johanna ruhte. Dann kam – langsam, sehr langsam – ein tiefer, rollender Laut über seine Lippen, und sein Schmerbauch hüpfte auf und ab.
Die dralle Frau neben ihm kicherte nervös. Dann explodierte der Saal in einem Ausbruch von Geräuschen. Die Leute grölten und jubelten, hämmerten auf die Tischplatten und lachten; sie lachten so heftig, daß ihnen die Tränen über die Wangen strömten, so daß sie sie mit den Ärmeln abwischten. Johanna schaute auf den rothaarigen Ritter. Er grinste breit. Ihre Blicke trafen sich, und er zwinkerte Johanna zu.
»Nun, mein lieber Odo«, sagte der Bischof, als er wieder zu Atem gekommen war, »jetzt werdet Ihr’s wohl zugeben müssen. Das Mädchen hat Euch überlistet!«
Odo bedachte den Bischof mit einem giftigen Blick. »Was ist mit dem Jungen, Eminenz? Möchtet Ihr, daß ich auch ihn auf die Probe stelle?«
»Nein, nein. Wir nehmen ihn ebenfalls, weil das Mädchen so sehr an ihm hängt. Wir nehmen sie beide! Ich muß gestehen, daß die Erziehung des Mädchens offenbar ein bißchen …«, er suchte nach dem passenden Begriff, »… unorthodox gewesen ist. Aber sie ist höchst belebend. Genau das, was die scola braucht! Tja, Odo, Ihr habt soeben zwei neue Schüler bekommen. Gebt gut auf sie acht!«
Entsetzt starrte Johanna den Bischof an. Was hatte er damit gemeint? Konnte es sein, daß dieser scheußliche kleine Kerl ihr Lehrer an der Domschule war? Der Mann, der sie unterrichten würde?
Was hatte sie nur verbrochen!
Odo spähte seine schmale Nase entlang auf den Bischof. »Ihr habt gewiß schon Vorkehrungen getroffen, Eminenz, was die Unterbringung dieses Kindes angeht, oder irre ich mich? In den Unterkünften der Jungen kann sie ja nicht wohnen.«
»Äh … die Unterbringung.« Der Bischof zögerte. »Wartet einmal. Ich …«
»Das Mädchen kann bei mir wohnen, Eminenz«, wurde er von dem rothaarigen Ritter unterbrochen. »Meine Gemahlin und ich haben zwei Töchter, die das Mädchen mit Freuden aufnehmen würden. Sie wäre eine gute Gefährtin für meine Gisla.«
Johanna betrachtete den Ritter. Er war ein Mann in der Blüte seines Lebens, vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt, kräftig gebaut, stattlich und ansehnlich, mit hohen Wangenknochen und einem gepflegten Vollbart. Sein dichtes Haar, das in der |119|Tat einen ungewöhnlichen roten Farbton besaß, war in der Mitte gescheitelt und fiel ihm in dichten Locken bis auf die Schultern. Seine unglaublich blauen Augen blickten klug und gütig.
»Ausgezeichnet, Gerold.« Der Bischof klopfte ihm freundschaftlich auf den Rücken. »Damit wäre dann alles geregelt. Das Mädchen wird bei Euch wohnen.«
Ein Diener kam mit einem Servierbrett voller Süßigkeiten herbei. Beim Anblick der kandierten Leckerbissen, die von geschmolzener Butter trieften, wurden Johannas Augen groß.
Der Bischof lächelte. »Nach eurer langen Reise seid ihr bestimmt hungrig, Kinder. Kommt her zu mir, und setzt euch.« Er rückte näher zu der drallen Frau neben ihm und schuf auf diese Weise Platz zwischen sich und dem rothaarigen Ritter.
Johanna und Johannes umrundeten den Tisch und setzten sich. Der Bischof höchstpersönlich trug ihnen Süßigkeiten auf. Johannes schlang sie gierig herunter; er nahm große Bissen vom klebrigen Zuckerkuchen, so daß der Puderzucker einen weißen Schnäuzer über seiner Oberlippe bildete.
Dann wandte der Bischof seine Aufmerksamkeit der drallen Frau neben ihm zu. Sie tranken aus demselben Becher und lachten und kicherten. Der Bischof streichelte ihr übers Haar und brachte ihre kunstvolle Frisur in Unordnung. Johanna knabberte an einem Honigkuchen, schaffte ihn aber nicht, zumal er übelkeiterregend süß war. Sie sehnte sich fort von diesem Ort, von dem Lärm, den unbekannten Menschen und dem seltsamen Benehmen des Bischofs.
Der rothaarige Ritter namens Gerold wandte sich an Johanna. »Du hast einen langen Tag hinter dir. Möchtest du gehen?«
Johanna nickte. Als Johannes sah, daß die beiden sich erhoben, nahm er rasch einen letzten großen Bissen Kuchen und stand ebenfalls auf.
»Nein, Sohn.« Gerold legte Johannes die Hand auf die Schulter. »Du bleibst hier.«
»Ich möchte aber mit meiner Schwester gehen«, sagte Johannes wehleidig.
»Dein Platz ist hier bei den anderen Jungen. Wenn die Mahlzeit beendet ist, wird der Kämmerer dir dein Quartier zeigen.«
|120|Johannes erbleichte, beherrschte sich aber und erwiderte nichts.
»Das ist ein interessantes Stück.« Gerold zeigte auf das Messer mit dem Hirschhorngriff, das Johannes um die Hüfte geschnallt trug. »Darf ich es mal sehen?«
Der Junge zog das Messer unter dem Gürtel hervor und reichte es Gerold. Der drehte und wendete es und betrachtete bewundernd den Griff. Die Klinge funkelte und spiegelte das flackernde Licht der Fackeln an den Wänden des Saales. Johanna mußte daran denken, wie die Klinge im Kerzenlicht des Grubenhauses geschimmert hatte, bevor sie sich ins Pergament des Buches von Aeskulapius fraß und die Schrift vernichtete, verzehrte, auslöschte.
»Ein schönes Stück. Roger hat ein Schwert, dessen Griff ähnlich gearbeitet ist. Roger!« rief Gerold einem jungen Burschen zu, der an einem Tisch in der Nähe saß. »Komm einmal her, und zeig diesem jungen Mann dein Schwert.«
Roger streckte ein langes eisernes Schwert mit kunstvoll gearbeitetem Griff vor.
Johannes betrachtete die Waffe ehrfürchtig. »Darf ich’s mal anfassen?«
»Wenn du möchtest, darfst du es in die Hand nehmen.«
»Du bekommst ein eigenes Schwert«, sagte Gerold. »Und einen Bogen. Auch eine Lanze, falls du kräftig genug dafür bist. Erzähl es ihm, Roger.«
»Ja. Wir bekommen jeden Tag Unterricht in Waffenkunde und machen Kampfübungen.«
In Johannes’ Augen spiegelten sich Erstaunen und Freude.
»Siehst du die kleine Kerbe? Hier, an der Seite der Klinge? Da hab’ ich einen Schlag gegen das schwere Schwert des Waffenmeisters persönlich geführt!«
»Wirklich?« Johannes war fasziniert.
Gerold fragte Johanna: »Sollen wir gehen? Ich glaube, deinem Bruder wird es jetzt nichts mehr ausmachen, wenn wir ihn allein lassen.«
Am Türeingang blieb Johanna stehen und blickte zu Johannes zurück. Das Schwert quer auf dem Schoß, redete er lebhaft auf Roger ein. Johanna verspürte einen seltsamen Widerwillen, sich vom Bruder zu trennen. Sie mußte daran denken, daß sie beide häufiger Gegner als Freunde gewesen waren, doch der Bruder war Johannas einziges Bindeglied an zu |121|Hause – an eine Welt, die ihr vertraut war und die sie begreifen konnte. Ohne ihn war sie ganz allein.
Gerold war vorausgegangen und schritt den Flur hinunter. Er war ein sehr großer Mann, und seine langen Beine trugen ihn rasch davon. Johanna mußte kleine Laufschritte machen, um zu Gerold aufzuschließen.
Mehrere Minuten sprachen sie kein Wort. Dann, plötzlich, sagte Gerold: »Du hast deine Sache sehr gut gemacht. Beim Streitgespräch mit Odo, meine ich.«
»Ich glaube, er kann mich nicht leiden.«
»Das glaube ich allerdings auch. Odo wacht aufmerksam über seine Würde – so, wie ein Mann über seine Münzen wacht, wenn kaum noch welche übrig sind.«
Johanna blickte zu Gerold auf und lächelte ihn an. Sie mochte diesen Mann.
Sie folgte einer spontanen Regung und beschloß, sich ihm anzuvertrauen.
»Die Frau, die neben dem Bischof saß – war sie sein … Eheweib?« Johanna brachte dieses Wort nur stockend hervor, so peinlich war ihr diese Frage. Fast ihr ganzes Leben lang war sie sich der schmachvollen Unschicklichkeit der Ehe ihrer Eltern bewußt gewesen, wenngleich auf kindliche Weise: Ohne über diese Sache reden zu können oder gar imstande zu sein, sie in vollem Umfang zu begreifen, hatte Johanna sie bis in ihr Innerstes empfunden. Einmal hatte Aeskulapius ihr Unbehagen gespürt, was diese Sache betraf, und er hatte ihr gesagt, daß derartige Ehen bei der niederen Priesterschaft nichts Ungewöhnliches seien.
Aber bei einem Bischof …
»Eheweib? Ach, du meinst Theda.« Gerold lachte. »Nein, mein Herr Bischof gehört nicht zu den Männern, die heiraten. Theda ist eine seiner Geliebten.«
Geliebte! Der Bischof hatte Geliebte!
»Du bist schockiert? Das brauchst du nicht zu sein. Fulgentius – mein Herr Bischof – ist kein Mann der frommen Gesinnung. Er hat Amt und Würden von seinem Onkel geerbt, seinem Vorgänger auf dem Bischofsstuhl. Fulgentius hat nie die Priesterweihe empfangen, und er versucht auch gar nicht erst, sich den Anschein von Tugendhaftigkeit zu geben, wie du gewiß bemerkt hast. Aber du wirst schon noch erkennen, daß er ein tüchtiger Mann in seinem Amt ist und ein guter Mann |122|dazu. Er bewundert die Gelehrsamkeit, wenngleich er selbst kein Gelehrter ist. Aber es war Fulgentius, der die hiesige Domschule gegründet hat.«
Gerold hatte nüchtern und sachlich zu Johanna gesprochen – nicht wie ein Erwachsener zu einem Kind, sondern wie zu jemandem, von dem man weiß, daß er versteht. Das gefiel Johanna. Doch was Gerold gesagt hatte, war beängstigend. War es mit dem Bischofsamt vereinbar, ein solches Leben zu führen? Immerhin war ein Bischof ein Fürst der Kirche. Durfte ein Bischof Geliebte haben? Alles war so anders, als Johanna erwartet hatte.
Sie gelangten an das äußere Tor des Bischofspalasts. Pagen, in Gewänder aus roter Seide gekleidet, ließen die gewaltigen Flügel aus Eiche aufschwingen, und das flackernde Licht aus dem fackelerhellten Gang fiel nach draußen in die Dunkelheit.
»Komm«, sagte Gerold. »Du wirst dich besser fühlen, wenn du eine Nacht geschlafen hast.« Rasch ging er zu den Stallungen.
Unsicher folgte Johanna ihm hinaus in die kalte Nacht.
»Da ist es!« Gerold wies zur linken Seite hinüber, und Johanna folgte mit dem Blick der Richtung seines ausgestreckten Armes. In der Ferne konnte sie die dunklen Umrisse mehrerer Gebäude erkennen, die sich vor einem Himmel abzeichneten, der vom Mondlicht erhellt wurde. »Dort ist Villaris, mein Heim – und nun auch das deine, Johanna.«
Selbst in der Dunkelheit bot Villaris einen prachtvollen Anblick. Die Umgegend beherrschend, lagen die Gebäude in einem kleinen Wäldchen auf der Kuppe eines Hügels. Johanna blickte staunend auf die Burganlage. Villaris sah riesengroß aus. Es umfaßte vier hohe Gebäude aus dicken Holzbohlen, die durch eine Reihe von Höfen und durch wundervolle überdachte Säulengänge miteinander verbunden waren. Gerold und Johanna ritten durch die dicke Palisade aus Eiche, die den Haupteingang schützte, und kamen an mehreren Außengebäuden vorbei: einer Kochstube, einer Bäckerei, einem Stall, einem Getreidespeicher und zwei Scheunen. Auf einem kleinen Vorhof stiegen sie von den Pferden, und Gerold legte die Zügel seines Tieres in die wartenden Hände des Stallmeisters. Fackeln aus Harz, die in regelmäßigen Abständen angebracht |123|waren, erhellten ihren Weg, als sie einen langen, fensterlosen Gang hinunterschritten, an dessen Wänden lange Reihen schimmernder Waffen hingen: lange Schwerter, Speere, Armbrüste und die kurzen, schweren, einseitig geschliffenen Schwerter, die von den gefürchteten fränkischen Fußsoldaten bevorzugt wurden.
Gerold und Johanna gelangten auf einen zweiten, größeren Hof, der von überdachten Säulengängen umgeben war, und gingen darüber hinweg in die Wohnhalle des Hauptgebäudes – eine großer, hoher Raum, der mit reich verzierten Wandteppichen geschmückt war. In der Mitte der Halle stand die schönste Frau, die Johanna je gesehen hatte, von ihrer Mutter abgesehen. Doch während Gudrun hochgewachsen war, mit weißblondem Haar und heller Haut, war diese Frau klein und zierlich, mit pechschwarzem Haar und großen, stolzen dunklen Augen, die sich auf Johanna richteten und sie mit einem Ausdruck musterten, der deutliches Mißfallen zeigte.
»Was hat das zu bedeuten?« fragte die Frau unvermittelt, als Gerold und Johanna näher kamen.
Gerold beachtete ihre schroffe Frage nicht. Statt dessen sagte er: »Johanna, das ist meine Frau Richild, Markgräfin zu Villaris und Herrin dieses Anwesens. Richild, darf ich dir Johanna von Ingelheim vorstellen? Sie ist heute eingetroffen, um ihre Studien an der scola aufzunehmen.«
Johanna machte den unbeholfenen Versuch eines Hofknickses, den Richild mit verächtlichem Blick zur Kenntnis nahm, bevor sie sich wieder an Gerold wandte. »Sie soll auf die Domschule gehen? Soll das ein Scherz sein?«
»Fulgentius hat sie aufgenommen. Für die Dauer ihrer Studienzeit wird Johanna hier auf Villaris wohnen.«
»Hier?«
»Sie kann sich ein Bett mit Gisla teilen. Gisla könnte zur Abwechslung mal eine vernünftige Gefährtin gebrauchen.«
Die anmutigen schwarzen Augenbrauen Richilds hoben sich, und sie blickte herablassend auf Johanna. »Sie sieht wie eine colona aus den finstersten Wäldern des Nordens aus.«
Johanna errötete angesichts der Beleidigung, ein Bauerntrampel zu sein.
»Du vergißt dich, Richild!« ermahnte Gerold seine Frau mit Schärfe in der Stimme. »Johanna ist Gast in diesem Hause.«
Richild zog die Nase hoch. »Nun ja«, sie betastete prüfend |124|den Stoff des neuen grünen Leinenumhangs, den Johanna trug, »immerhin scheint sie sauber zu sein.« Mit herrischer Geste gab sie einem Diener ein Zeichen. »Führe sie ins Schlafgemach.« Dann eilte sie ohne ein weiteres Wort aus der Halle.
Bald darauf lag Johanna neben der schnarchenden Gisla (die nicht einmal aufgewacht war, als Johanna neben sie unter die Decke kroch) auf einer weichen Strohmatratze im Schlafgemach im Obergeschoß und fragte sich, wie es ihrem Bruder ergehen mochte. Neben wem schlief Johannes jetzt wohl? Vorausgesetzt, er konnte überhaupt schlafen. Sie jedenfalls bekam kein Auge zu; in ihrem Kopf wirbelten beängstigende Gedanken und Gefühle umher. Sie sehnte sich nach der vertrauten Umgebung, nach zu Hause und besonders nach ihrer Mutter. Sie wollte in die Arme genommen und liebkost und ›kleine Wachtel‹ genannt werden. Sie hätte nicht klammheimlich davonlaufen sollen, ohne ein Wort des Abschieds. Gudrun hatte sie verleugnet, als der Gesandte des Bischofs gekommen war; daran gab es nichts zu deuteln. Doch Johanna wußte, daß ihre Mutter es aus einem Übermaß an Liebe getan hatte – weil sie es nicht ertragen konnte, ihre Tochter fortgehen zu sehen. Nun sah sie, Johanna, ihre Mutter vielleicht nie mehr wieder. Sie hatte die Gelegenheit zur Flucht blindlings beim Schopf gepackt, ohne über die möglichen Folgen nachzudenken. Es war klar, daß sie nie mehr nach Hause zurückkehren konnte. Der Vater würde sie ihres Ungehorsams wegen totschlagen. Jetzt gehörte sie hierher, in diesen seltsamen, freudlosen Landstrich, und hier mußte sie nun bleiben, sei es zum Guten oder zum Schlechten.
Mama, dachte Johanna, während sie in die bedrohliche, beängstigende Finsternis des unbekannten Zimmers starrte, und eine einzelne Träne rann ihr über die Wange.