Ein fassungsloser Schrei kam über Johannas Lippen. »Wer ist da?« rief Lothar mit scharfer Stimme.
Langsam trat Johanna hinter der Säule hervor. Lothar und Anastasius blickten sie verwundert an.
»Wer seid Ihr?« wollte Lothar wissen.
»Johannes Anglicus, Euer Gnaden. Priester und Leibarzt Seiner Heiligkeit Papst Sergius’.«
Lothar fragte mißtrauisch: »Wie lange seid Ihr schon hier unten?«
Johanna dachte rasch nach. »Seit mehreren Stunden, Hoheit. Ich bin hierhergekommen, um für die Gesundheit des Heiligen Vaters zu beten. Doch meine Müdigkeit war offenbar größer, als ich dachte, denn ich bin eingeschlafen und gerade erst erwacht.«
Lothar musterte Johanna mißbilligend. Wahrscheinlicher war, daß dieser kleine Priester in der Kapelle gefangen wurde, als er und Anastasius hereingekommen waren. Hier gab es keinen Platz, an den er sich hätte flüchten oder wo er sich hätte verstecken können. Aber im Grunde spielte es keine Rolle. Denn wieviel hatte dieser Priester schon hören und – was noch wichtiger war – begreifen können? Sehr wenig. Nein, dieser Mann stellte keine Gefahr dar; offensichtlich war er nur ein kleiner, unbedeutender Geistlicher. Es war am besten, ihn nicht weiter zu beachten.
Anastasius dagegen war zu einem anderen Schluß gelangt. Offensichtlich hatte dieser Johannes Anglicus gelauscht. Aber warum? War er ein Spitzel? Nicht für Sergius, soviel stand fest. Dem Papst mangelte es an Verschlagenheit, Spitzel einzusetzen. Aber wenn der Mann nicht für Sergius spionierte, für wen dann? Und weshalb? Anastasius beschloß, diesen kleinen ausländischen Priester von nun an scharf beobachten zu lassen.
Auch Gerold betrachtete Johanna verwundert. »Ihr kommt mir bekannt vor, Vater«, sagte er. »Haben wir uns schon einmal |400|gesehen?« Angestrengt musterte er sie im trüben Licht. Plötzlich veränderte sich sein Gesichtsausdruck; er starrte Johanna an wie jemand, der soeben ein Gespenst gesehen hatte. »Mein Gott«, sagte er mit heiserer Stimme. »Das kann doch nicht wahr sein …«
»Kennt Ihr Euch?« fragte Anastasius.
»Wir haben uns einmal in Dorstadt getroffen«, sagte Johanna rasch. »Ich habe dort einige Jahre an der Domschule studiert. Meine Schwester …«, sie betonte das Wort kaum merklich, »… hat während dieser Zeit bei Markgraf Gerold und seiner Familie gewohnt.«
Ihre Augen blitzten Gerold eine stumme Warnung zu: Sag nichts.
Sofort hatte Gerold sich wieder in der Gewalt. »Ja, natürlich«, sagte er. »Ich kann mich noch gut an Eure Schwester erinnern. Aber …«
»Genug jetzt«, unterbrach Lothar ihn ungeduldig. »Was habt Ihr mir zu berichten, Graf?«
»Meine Botschaft ist nur für Eure Ohren bestimmt, Euer Gnaden.«
Lothar nickte. »Also gut. Die anderen können gehen. Wir reden später weiter, Anastasius.«
Als Johanna sich zum Gehen wandte, berührte Gerold sie am Arm. »Wartet auf mich. Ich würde gern mehr über … Eure Schwester erfahren.«
Vor der Kapelle angelangt, ging Anastasius sofort seiner Wege. Johanna wartete nervös auf dem Flur, unter den neugierigen Blicken von Lothars Diener. Die Situation war äußerst gefährlich. Ein unbedachtes Wort, und Johannas wahre Identität war enthüllt. Ich sollte fortgehen, bevor Gerold aus der Kapelle kommt, sagte sie sich, sehnte sich aber viel zu sehr danach, ihn zu sehen. Also blieb sie, wo sie war, von einer Mischung aus Furcht und freudiger Erwartung erfüllt.
Dann wurde die Tür der Kapelle geöffnet, und Gerold erschien. »Bist du es wirklich?« fragte er. »Aber wie …?«
Lothars Diener beobachtete sie neugierig.
»Nicht hier«, sagte Johanna. Sie führte Gerold zu dem kleinen Zimmer, in dem sie ihre Kräuter und Arzneien aufbewahrte. Drinnen zündete sie die Öllampe an; flackernd erwachte die Flamme zum Leben und umschloß die beiden Menschen mit einem sanften, gelben Kreis aus Licht.
|401|Dann blickten sie einander schweigend an, noch immer von tiefem Staunen erfüllt, sich nach so langer Zeit wiederzubegegnen. Siebzehn Jahre waren vergangen, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten, und Gerold hatte sich verändert: Sein dichtes rotes Haar wies die ersten grauen Strähnen auf, und um seine blauen Augen und den breiten, sinnlichen Mund lagen neue Falten, doch er war immer noch der schönste Mann, den Johanna je gesehen hatte. Sein Anblick ließ ihr Herz schneller schlagen.
Gerold trat einen Schritt auf sie zu, und dann lagen sie sich in den Armen und hielten einander so fest, daß Johanna durch den dicken Stoff ihres Priestergewands das harte Metall von Gerolds Kettenpanzer spürte.
»Johanna«, flüsterte er bewegt und streichelte ihr übers Haar. »Mein Schatz. Ich hätte nie gedacht, dich noch einmal wiederzusehen.«
»Gerold.« Das Wort füllte ihr Inneres vollkommen mit Gefühlen aus und verdrängte alle anderen Gedanken.
Behutsam fuhr er mit dem Finger über die dünne Narbe auf ihrer linken Wange. »Die Normannen?«
»Ja.«
Er beugte sich nieder und küßte die Narbe sanft; seine Lippen waren warm auf ihrer Wange. »Dann haben sie damals auch dich entführt? Dich und … Gisla?«
Gisla. Gerold durfte es nie erfahren. Sie durfte ihm niemals erzählen, welch schreckliches Schicksal seiner ältesten Tochter im Innern des Domes von Dorstadt widerfahren war.
»Die Normannen haben nur Gisla entführt. Ich … konnte entkommen.«
Er blickte sie erstaunt an. »Aber wie? Und wohin? Meine Männer und ich haben die ganze Gegend nach dir abgesucht, ohne eine einzige Spur zu finden.«
Mit knappen Worten erzählte Johanna ihm, was geschehen war – so viel, wie sie ihm in der Kürze der Zeit und unter diesen schwierigen Umständen berichten konnte: von ihrer Flucht nach Fulda und ihrer Aufnahme in die Bruderschaft, als Johannes Anglicus; von der Beinahe-Aufdeckung ihrer Identität und dem knappen Entkommen aus dem Kloster; von ihrer Pilgerreise nach Rom und ihrem Aufstieg zum Leibarzt des Papstes.
»Und in der ganzen Zeit«, sagte Gerold langsam, nachdem |402|Johanna geendet hatte, »hast du nie daran gedacht, mir eine Botschaft zukommen zu lassen?«
Johanna hörte den Schmerz und die tiefe Verwunderung in seiner Stimme. »Ich … ich dachte, du wolltest mich nicht. Richild sagte mir, es wäre deine Idee gewesen, mich mit dem Sohn des Hufschmieds zu verheiraten, und daß du sie gebeten hättest, sich um die Sache zu kümmern.«
»Und das hast du ihr geglaubt?« Abrupt ließ er sie los. »Großer Gott, Johanna, hast du mich wirklich nicht besser gekannt?«
»Ich … ich wußte nicht, was ich davon halten sollte. Du warst fort … und ich konnte mir nicht sicher sein, weshalb. Und Richild … sie wußte Bescheid über uns. Sie wußte, was am Flußufer geschehen war. Wie aber hätte sie davon wissen können, wenn du es ihr nicht gesagt hättest?«
»Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, daß ich nie einen Menschen so sehr geliebt habe wie dich.« Seine Stimme schwankte. »Ich hätte mein Pferd damals beinahe zuschanden geritten, um nach Villaris zu gelangen. Denn ich wußte ja, dort warst du, und ich konnte es vor Ungeduld kaum ertragen, dich wiederzusehen … dich zu fragen, ob du meine Frau werden willst.«
»Deine Frau?« fragte Johanna benommen. »Aber … Richild …?«
»Während ich fort war, ist irgend etwas geschehen – etwas, das mir geholfen hat, zu erkennen, wie trist und leer die Ehe für Richild und mich gewesen ist und wie wichtig du für mein Glück warst. Ich war heimgekehrt, um mich von Richild scheiden zu lassen und dich zu heiraten, wenn du mich wolltest.«
Johanna schüttelte den Kopf. »So viele Mißverständnisse«, sagte sie traurig. »So viel Leid. So viel versäumtes Glück.«
»So viel«, sagte Gerold, »das wir noch nachholen können.« Er zog sie an sich und küßte sie. Es war so, als würde man eine Schreibtafel aus Wachs über ein Feuer halten: Was die Jahre geschrieben hatten, wurde aufgelöst und schmolz dahin, und sie beide standen wieder im Frühlingssonnenschein am Ufer des Flusses unterhalb des Hügels von Villaris, jung, übermütig und glücklich über ihre neu entdeckte Liebe.
Nach langer Zeit löste Gerold sich von Johanna. »Hör zu, mein Schatz«, sagte er heiser, »ich trete aus Lothars Diensten aus. Ich habe es ihm schon gesagt, gerade eben, in der Kapelle.«
|403|»Und er war einverstanden? Er wird dich gehen lassen?« fragte Johanna skeptisch. Lothar war kein Mann, der ohne weiteres auf Verpflichtungen ihm gegenüber verzichtete.
»Zuerst hat er sich geweigert, aber schließlich konnte ich ihn doch überzeugen. Meine Freiheit hat allerdings ihren Preis. Ich mußte Lothar Villaris und alle meine Ländereien übergeben. Jetzt bin ich kein reicher Mann mehr, Johanna. Aber ich habe zwei kräftige Arme und gute Freunde, die mir helfen werden. Einer von ihnen ist Siconulf, der Prinz von Benevento. Ich habe mich mit ihm angefreundet, als wir gemeinsam am Feldzug des Kaisers gegen die Obodriten teilgenommen haben. Siconulf braucht jetzt treue und verläßliche Männer; denn er wird von seinem Rivalen Radelchis hart bedrängt. Wirst du mich begleiten, Johanna? Willst du meine Frau werden?«
Beim Geräusch von Schritten auf dem Flur trennten sie sich hastig. Augenblicke später flog die Tür auf, und ein Mann steckte den Kopf ins Zimmer. Es war Florintinus, einer der päpstlichen Notare.
»Ah!« sagte er. »Da seid Ihr ja, Johannes Anglicus! Ich habe schon überall nach Euch gesucht.« Er blickte scharf von Johanna zu Gerold und wieder zurück. »Habe ich Euch bei irgend etwas … gestört?«
»Aber nein«, sagte Johanna rasch. »Was kann ich für Euch tun, Florintinus?«
»Ich habe schreckliche Kopfschmerzen«, erwiderte er. »Da habe ich mich gefragt, ob Ihr mir eines Eurer Mittel geben könntet.«
»Sehr gern, selbstverständlich«, erwiderte Johanna höflich.
Florintinus blieb in der Tür stehen und unterhielt sich mit Gerold über Belanglosigkeiten, während Johanna rasch eine Mischung aus Lavendel und Gurkenkraut bereitete und sie in Maulbeerensaft abkochte. Dann gab sie Florintinus das Mittel. Der Notar bedankte sich und ging.
»Hier können wir uns nicht unterhalten«, sagte Johanna zu Gerold, als sie wieder allein waren. »Es ist zu gefährlich.«
»Wann sehe ich dich wieder?« fragte er drängend.
Johanna dachte nach. »Es gibt da einen vestalischen Tempel an der Via Appia, gleich vor der Stadt. Dort treffen wir uns morgen früh nach der Terz, ja?«
Er nahm sie in die Arme und küßte sie noch einmal – zuerst zärtlich, dann mit einer Leidenschaft, die Johanna mit heftigem |404|Verlangen erfüllte. »Bis morgen«, flüsterte Gerold, und dann war er aus der Tür und ließ Johanna zurück, der mit einer schwindelerregenden Mischung aus Gefühlen der Kopf schwirrte.
Arighis spähte in das Dämmerlicht des beginnenden Morgens und ließ den Blick über den Hof des Laterans schweifen, um sich zu vergewissern, daß alles in Ordnung war. Man hatte ein brennendes Kohlenbecken auf den Hof gebracht und neben der großen Bronzestatue der Wölfin abgestellt. Ein Paar kurze Schüreisen waren in das brennende Becken gesteckt worden; die Spitzen wurden allmählich rotglühend von der Hitze der Flammen. Neben dem Becken stand der Scharfrichter, auf sein Schwert gestützt.
Die ersten Sonnenstrahlen stachen über den Horizont. Es war eine ungewöhnliche Zeit für eine öffentliche Bestrafung dieser Art; üblicherweise wurden Hinrichtungen oder Verstümmelungen erst nach der Morgenmesse vollzogen. Trotz der frühen Stunde hatte sich bereits eine Zuschauermenge eingefunden – die sensationslüsternen Gaffer kamen stets sehr zeitig, damit sie die besten Aussichtsplätze bekamen, so daß sie ja nichts verpaßten. Viele hatten ihre Kinder mitgebracht, die nun aufgeregt über den Hof tollten und das bevorstehende Spektakel mit Spannung erwarteten.
Arighis hat mit Absicht eine so frühe Stunde für Benedikts Bestrafung gewählt: Sergius schlief noch, und der Haushofmeister wollte verhindern, daß der Papst erwachte und es sich noch einmal anders überlegte. Mochte man ihn, Arighis, später auch der übertriebenen Eile bezichtigen – es machte ihm nichts aus. Er wußte genau, was er tat und warum.
Arighis hatte das Amt des vicedominus nun seit mehr als zwanzig Jahren inne. Sein ganzes Erwachsenenleben hatte er in päpstlichen Diensten verbracht, und stets hatte er dafür zu sorgen versucht, daß in der römischen Regierung, diesem riesigen Bienenstock aus administrativen und kirchlichen Ämtern, alles glatt und reibungslos vonstatten ging. Mit den Jahren war Arighis zu der Ansicht gelangt, daß man den päpstlichen Hof tatsächlich als eine Art gewaltiges Lebewesen betrachten konnte, als uraltes Geschöpf, dessen zukünftiges Wohlergehen allein in seiner, Arighis’ Verantwortung lag.
|405|Und dieses Wohlergehen war bedroht. In weniger als einem Jahr hatte Benedikt den päpstlichen Hof in ein Zentrum der Korruption, des Machthandels und des Ämterkaufs verwandelt. Habgierig, durchtrieben und rücksichtslos, war Benedikt zu einer bösartigen Geschwulst im Leib der Kirche geworden, und die einzige Möglichkeit, den Patienten zu retten, bestand darin, diese Geschwulst zu entfernen. Benedikt mußte sterben.
Sergius war nicht hart und entschlossen genug, den Hinrichtungsbefehl zu erteilen; deshalb fiel es Arighis zu, diese Last auf seine Schultern zu nehmen – was er ohne Zögern tat, wußte er doch, daß er im Interesse der heiligen Mutter Kirche handelte.
Alles war bereit. »Holt den Gefangenen«, befahl Arighis den Wachen.
Benedikt wurde auf den Hof geführt. Seine prächtige Kleidung war schmutzig und zerknittert, sein Gesicht müde und ausgezehrt von einer schlaflosen Nacht im Kerker. Er ließ den Blick über den Hof schweifen. »Wo ist Sergius?« fragte er scharf. »Wo ist mein Bruder?«
»Seine Heiligkeit darf nicht gestört werden«, sagte Arighis.
Benedikt fuhr zu ihm herum. »Was glaubt Ihr, was Ihr tut, Arighis? Ihr habt meinen Bruder gestern abend doch gesehen! Er war betrunken; er wußte nicht mehr, was er sagte. Laßt mich mit ihm reden, und Ihr werdet sehen, daß er das Urteil gegen mich zurücknimmt.«
»Fangt an«, befahl Arighis den Wachen.
Die Männer zerrten Benedikt in die Mitte des Hofes und zwangen ihn auf die Knie. Dann packten sie seine Arme und drückten sie auf den Sockel des Bronzestandbilds der Wölfin, so daß die gefesselten Hände des Delinquenten nebeneinander auf der steinernen Oberfläche ruhten.
Ein Ausdruck des Entsetzens legte sich auf Benedikts Gesicht. »Nein! Hört auf!« schrie er; dann starrte er hinauf zu den Fenstern des Patriarchums und begann zu rufen: »Sergius! Sergius! Ser…«
Das Schwert fuhr hernieder. Benedikt kreischte, als seine abgetrennten Hände zu Boden fielen und Blut verspritzten.
Die Menge schrie und jubelte. Der Scharfrichter nagelte Benedikts Hände auf ein Brett, das er an der Flanke der Wölfin festband. Dort würde es, der uralten Gewohnheit entsprechend, |406|einen Monat hängen bleiben, als Warnung für alle, sich nicht zu der Sünde des Diebstahls verleiten zu lassen.
Ennodius, der Arzt, trat vor. Er zog die beiden rotglühenden Schürhaken aus dem Kohlenbecken und drückte sie fest auf Benedikts blutende Armstümpfe. Der beißende, Übelkeit erregende Geruch von verbranntem Fleisch breitete sich aus. Wieder schrie Benedikt markerschütternd; dann sank er bewußtlos zusammen. Ennodius kniete neben ihm nieder, sich um die Wunden zu kümmern.
Gespannt beugte Arighis sich vor. Die meisten Männer starben nach einer solchen Verletzung – wenn nicht auf der Stelle, vom Schock und dem Schmerz, so doch kurz darauf an der Entzündung und dem Blutverlust. Aber einige der Stärksten überlebten. Mitunter sah man einen von ihnen durch die Straßen Roms streifen; die gräßlichen Verstümmelungen verrieten die Art des Verbrechens: abgetrennte Lippen bei jenen, die unter Eid gelogen hatten; abgehackte Füße bei Sklaven, die versucht hatten, ihrem Herrn zu entfliehen; ausgestochene Augen bei jenen, die es nach den Frauen oder Töchtern ihrer Herren gelüstet hatte.
Die erschreckende Möglichkeit, daß auch Benedikt überleben könnte, hatte Arighis veranlaßt, Ennodius zu bitten, sich um den Verurteilten zu kümmern. Auf Johannes Anglicus’ Dienst hatte Arighis wohlweislich verzichtet; der fränkische Arzt besaß so große Fähigkeiten, daß er Benedikt vielleicht gerettet hätte.
Ennodius erhob sich. »Das Urteil Gottes ist vollzogen«, verkündete er ernst. »Benedikt ist tot.«
Gelobt sei Jesus Christus, dachte Arighis bei sich. Das Papsttum ist gerettet.
Johanna stand in der Schlange im lavatorium und wartete darauf, daß sie die rituelle Handwaschung vor der Messe vollziehen konnte. Vom Schlafmangel waren ihre Lider schwer und die Augen gerötet; die ganze Nacht hatte sie sich im Bett unruhig hin und her gewälzt, während ihre Gedanken bei Gerold gewesen waren. Gestern nacht waren längst vergessen geglaubte Empfindungen wiedererwacht – mit einer Kraft, die Johanna gleichermaßen erstaunte wie verängstigte.
Gerolds Rückkehr hatte das beunruhigende Verlangen ihrer Jugend wieder zum Leben erweckt. Wie mag es wohl sein, wieder |407|als Frau zu leben? fragte sich Johanna. Sie war es gewöhnt, eigenverantwortlich zu handeln; sie hatte die unumschränkte Gewalt über ihr eigenes Schicksal. Doch von Rechts wegen mußte eine Frau ihr Leben vollkommen in die Hände ihres Gatten legen. Konnte sie jemandem so sehr vertrauen, und sei es Gerold?
Gib dich nie einem Mann hin. – Die Worte ihrer Mutter erklangen wie warnende Glockenschläge in ihrem Innern.
Sie brauchte Zeit, mit dem Aufruhr fertig zu werden, den die widerstreitenden Gefühle in ihrem Herzen ausgelöst hatten. Doch Zeit gehörte zu jenen Dingen, die sie nicht besaß.
Arighis erschien neben ihr. »Kommt«, sagte er drängend und zog sie aus der Schlange der Wartenden. »Seine Heiligkeit braucht Euch.«
»Geht es ihm so schlecht?« fragte Johanna besorgt, während sie Arighis den Gang hinunter folgte, der zum Schlafgemach des Papstes führte. Johanna runzelte die Stirn. Sie hatte Sergius gestern abend ein Brechmittel gegeben; die fetten Speisen und der Wein waren längst aus seinem Körper, und die hohe Dosis Colchicum hätte normalerweise jeden neuerlichen Gichtanfall verhindern müssen.
»Es geht ihm in der Tat schlecht«, beantwortete Arighis Johannas Frage. »Es macht ihm schwer zu schaffen.«
»Was macht ihm schwer zu schaffen?«
»Benedikt ist tot.«
»Was!«
»Das Urteil wurde heute morgen vollstreckt. Er war sofort tot.«
»Großer Gott!« Johanna schritt schneller aus. Sie konnte sich vorstellen, welche Wirkung diese Nachricht auf Sergius hatte.
Dennoch war sie entsetzt, als sie ihn zu Gesicht bekam. Sergius war kaum wiederzuerkennen. Sein Haar war wirr; die Augen rot und geschwollen vom Weinen, und er hatte sich die Wangen blutig gekratzt. Er kniete neben dem Bett, schaukelte vor und zurück und wimmerte wie ein kleines Kind.
»Heiligkeit!« sagte Johanna ihm mit scharfer Stimme ins Ohr. »Sergius!«
Er schaukelte weiter, blind und taub vor Kummer. Es war offensichtlich, daß man in seinem derzeitigen Zustand nicht mit |408|ihm reden konnte. Johanna nahm ein Fläschchen Bilsenkrauttinktur aus ihrem Ranzen, tröpfelte eine bestimmte Menge auf einen Löffel und hielt ihn Sergius an die Lippen. Geistesabwesend schluckte er das Mittel.
Nach einer Weile wurden seine Bewegungen langsamer; dann hielt er ganz inne und blickte Johanna an, als hätte er sie nie zuvor gesehen.
»Weine um mich, Johannes. Meine Seele ist verdammt bis in alle Ewigkeit.«
»Unsinn«, erwiderte Johanna mit fester Stimme. »Ihr habt genau das getan, was das Gesetz verlangt.«
Sergius schüttelte den Kopf. »›Du sollst nicht sein wie Kain; denn in ihm war das Böse, und er tötete seinen Bruder‹«, zitierte er.
»Und weshalb hat er ihn getötet? Weil Kains Taten böse waren, die seines Bruders dagegen rechtschaffen«, antwortete Johanna. »Benedikt aber war nicht rechtschaffen, Heiligkeit. Er hat Euch und Rom verraten.«
»Und jetzt ist er tot, weil ich es so befohlen habe! O Gott!« Er schlug sich klagend an die Brust und jammerte vor Seelenqual.
Johanna mußte einen Weg finden, Sergius von seinem Kummer abzubringen, oder er würde sich in einen neuerlichen Anfall hineinsteigern. Sie packte ihn fest bei den Schultern und sagte: »Ihr müßt die Ohrenbeichte ablegen.«
Diese Form des Sakraments der Buße und Versöhnung – der Betreffende legte eine vertrauliche und ordentliche Beichte ad auriculum ab, »für das Ohr« eines Priesters –, war im fränkischen Reich weit verbreitet. Doch in Rom hielt man immer noch starr am Althergebrachten fest: Die Beichte wurde öffentlich abgelegt, wie auch die Buße öffentlich verhängt wurde, und zwar nur einmal im Leben.
Sergius ließ sich Johannas Vorschlag durch den Kopf gehen; dann sagte er: »Ja. Ja, ich werde beichten.«
»Dann werde ich einen der Kardinäle zu Euch bitten«, erwiderte Johanna. »Soll ich jemand Bestimmten schicken?«
»Ich werde meine Beichte vor dir ablegen.«
»Vor mir?« Einem einfachen Priester und obendrein einem Ausländer? Johanna war eine unpassende Kandidatin, dem Papst als Beichtvater – oder besser, als Beichtmutter – zu dienen. »Seid Ihr sicher?«
|409|»Ich möchte keinen anderen.«
»Also gut.« Johanna schaute Arighis an. »Laßt uns bitte allein.«
Bevor er das Zimmer verließ, bedachte der Haushofmeister Johanna mit einem dankbaren Blick.
Sergius begann, und Johanna lauschte mit stummem Mitgefühl dem langen Gefühlserguß aus Leid und Trauer, Bedauern und Reue. Angesichts einer derart gepeinigten, belasteten Seele war es kein Wunder, daß Sergius Ruhe und Vergessen zu finden versuchte, indem er sich so oft betrank.
Die Beichte hatte jene Wirkung, die Johanna sich erhofft hatte; nach und nach fiel die wilde Verzweiflung von Sergius ab und wich einer tiefen Erschöpfung und Müdigkeit. Jetzt stellte er für sich und andere keine Gefahr mehr dar.
Doch nun kam der knifflige Teil: das Auferlegen der Buße, die der Vergebung der Sünden vorausgehen mußte. Gewiß erwartete Sergius, eine sehr strenge Buße auferlegt zu bekommen – eine öffentliche Kasteiung beispielsweise auf den Stufen des Petersdomes. Doch eine derartige Buße würde nur bewirken, daß in Lothars Augen die Stellung Sergius’ und des Papsttums geschwächt wurde, und das mußte um jeden Preis vermieden werden. Andererseits durfte die Buße, die Johanna Sergius auferlegte, nicht zu leicht sein, oder er würde sie zurückweisen.
Plötzlich kam ihr eine Idee.»Zum Zeichen der Buße«, sagte sie, »werdet Ihr auf den Wein und das Fleisch aller vierbeinigen Tiere verzichten, von dieser Stunde an bis zur Stunde Eures Todes.«
Das Fasten war eine übliche Form der Buße; doch für gewöhnlich mußte der Sünder nur für einige Monate auf bestimmte Genüsse verzichten, allenfalls für ein Jahr. Lebenslange Abstinenz war eine sehr strenge Strafe – besonders für Sergius, der so gern in Tafelfreuden schwelgte. Doch die Buße hätte den zusätzlichen Vorteil, daß Sergius nie wieder in betrunkenem Zustand zu einem ganz anderen, grausamen und widerwärtigen Menschen würde.
Sergius senkte demütig den Kopf. »Bete mit mir, Johannes.«
Sie kniete neben ihm nieder. In vielerlei Hinsicht war Sergius wie ein Kind – schwach, sprunghaft und fordernd. Doch Johanna wußte, daß er im Grunde seines Herzens ein guter Mensch war. Und in diesem Augenblick war er alles, was |410|zwischen Anastasius und dem Thron des heiligen Petrus stand.
Nachdem sie gebetet hatten, erhoben sie sich. Sergius packte Johanna, hielt sie fest.»Geh nicht«, bettelte er. »Ich möchte nicht allein sein.«
Johanna bedeckte Sergius’ Hand mit der ihren. »Ich werde Euch nicht allein lassen«, versprach sie feierlich.
Als Gerold durch das verfallende Portal die Ruine des vestalischen Tempels betrat, sah er voller Enttäuschung, daß Johanna noch nicht eingetroffen war. Nur Geduld, sagte er sich, es ist noch früh. Er setzte sich mit dem Rücken an eine der schlanken Säulen aus Granit, um zu warten.
Wie die meisten heidnischen Monumente in Rom, war auch dieser Tempel aller kostbaren Metalle beraubt worden: Die vergoldeten Rosetten, die einst die Deckenfelder der Kuppel verziert hatten, waren ebenso verschwunden wie die goldenen, erhabenen Reliefs, mit denen das Giebeldreieck des pronaos geschmückt gewesen war. Die Nischen an den Wänden waren leer; die Marmorstatuen hatte man zu den Kalkbrennöfen gekarrt, um Baumaterial für die Wände der christlichen Kirchen daraus zu gewinnen. Seltsamerweise hatte das Standbild der Göttin selbst die Stürme der Zeit überstanden: Es befand sich noch in seinem Schrein unter der Kuppel. Eine Hand der Figur war abgebrochen, und die Falten des Gewands waren im Laufe der Jahrhunderte von Wind und Wetter aufgerauht, die Konturen verwischt worden. Dennoch besaß das Standbild noch immer eine bemerkenswerte Ausdruckskraft und Anmut – uralte Zeugnisse der Kunstfertigkeit eines heidnischen Bildhauers.
Vesta, die römische Göttin von Heim und Herd. Sie symbolisierte alles, was Johanna für Gerold bedeutete: Leben, Liebe, ein wiedererwachtes Gefühl der Hoffnung. Er atmete tief durch und nahm die duftende, frische feuchte Luft des Morgens in sich auf. Er fühlte sich so gut wie seit Jahren nicht mehr. In letzter Zeit war Gerold bedrückt gewesen und der Eintönigkeit seines Lebens müde geworden, ohne sich dagegen zu wehren; er hatte diese Monotonie und Lustlosigkeit als unvermeidliche Auswirkungen seiner Jahre betrachtet, denn er wurde bald dreiundvierzig – ein alter Mann.
Jetzt wußte er, daß er sich geirrt hatte. Er war weit davon |411|entfernt, des Lebens müde zu sein – er war hungrig darauf. Er fühlte sich vital und voller Leben, als hätte er aus dem sagenhaften Jungbrunnen getrunken. Die Jahre, die noch vor ihm lagen, waren nicht mehr grau, sondern strahlten in leuchtenden Farben und waren voller Versprechen. Er würde Johanna heiraten, und dann würden sie nach Benevento ziehen und dort in Frieden und Liebe zusammenleben. Vielleicht waren ihnen sogar Kinder vergönnt – noch war es nicht zu spät dafür. So, wie Gerold sich im Augenblick fühlte, erschien ihm nichts unmöglich.
Er fuhr zusammen, als Johanna plötzlich durchs Portal geeilt kam. Ihr Priesterumhang bauschte sich hinter ihr, und ihre Wangen waren vor Anstrengung vom schnellen Laufen gerötet; ihr kurzgeschnittenes, weißgoldenes Haar fiel ihr lockig in die Stirn und betonte die tiefliegenden Augen; es waren Augen, die Gerold wie Seen aus Licht in einem dunklen Heiligtum anzogen. Wie, um alles in der Welt, hatte sie sich so lange unentdeckt als Mann verkleiden können? In seinen wissenden Augen sah sie sehr weiblich und sehr begehrenswert aus.
»Johanna.« So, wie er das Wort aussprach, war es einerseits ein Name, andererseits ein Flehen.
Johanna hielt vorsichtigen Abstand zwischen ihnen beiden. Sie wußte, daß ihr letzter Widerstand schmelzen würde, wenn sie sich in Gerolds Umarmung verlor.
»Ich habe ein Pferd für dich mitgebracht«, sagte er. »Wenn wir sofort losreiten, können wir in drei Tagen in Benevento sein.«
Sie holte tief Luft.»Ich gehe nicht mit dir.«
»Aber … wieso?«
»Ich kann Sergius nicht allein lassen.«
Für einen Moment war er zu betroffen, als daß er irgend etwas hätte erwidern können. Dann brachte er mühsam hervor: »Warum nicht?«
»Er braucht mich. Er ist … schwach.«
»Er ist der Papst, Johanna, und kein Kind, das bemuttert werden muß.«
»Ich bemuttere ihn nicht; ich kümmere mich um seine Gesundheit. Die Ärzte von der scola wissen nichts über die Krankheit, an der er leidet.«
»Und welche Krankheit ist das?«
|412|»Falls ich ihn jetzt allein lasse«, erwiderte Johanna, »wird Sergius sich binnen eines halben Jahres zu Tode trinken.«
»Dann laß ihn doch. Es ist sein Leben«, sagte Gerold grob. »Was hat das mit uns beiden zu tun?«
Sie blickte ihn schockiert an. »Wie kannst du so etwas sagen?«
»Großer Gott, haben wir nicht schon genug geopfert? Der Frühling unseres Lebens liegt bereits hinter uns. Laß uns jetzt nicht die Zeit verschwenden, die uns noch bleibt!«
Johanna wandte sich ab, damit er nicht sehen konnte, wie tief seine Worte sie getroffen hatten. Gerold trat zu ihr und packte ihr Handgelenk.
»Ich liebe dich, Johanna. Komm mit mir – jetzt, wo noch Zeit ist.«
Die Berührung seiner Hand prickelte ihr auf der Haut und entfachte ihr Verlangen. Sie hatte den gefährlichen Wunsch, ihn zu umarmen, seine Lippen auf den ihren zu spüren. Dann aber – peinlich berührt von ihrer Schwäche und ihren schändlichen Gefühlen – überkam sie ein plötzlicher, unerklärlicher Zorn auf Gerold. »Was erwartest du eigentlich von mir?« rief sie. »Daß ich mit dir durchbrenne wie ein verliebtes junges Mädchen, wenn du bloß mit dem kleinen Finger winkst? Ich habe mir hier ein Leben aufgebaut – ein schönes Leben. Ich bin unabhängig, frei im Handeln und Denken. Ich werde geachtet und gebraucht. Ich habe hier Möglichkeiten, von denen andere Frauen nicht einmal träumen können. Warum sollte ich das alles aufgeben? Wofür? Um den Rest meines Lebens in irgendeiner dunklen, beengten Wohnung mit Kochen und Nähen zu verbringen?«
»Wenn ich von einer Frau nicht mehr erwarten würde«, sagte Gerold leise, »wäre ich längst wieder verheiratet.«
»Dann heirate doch!« erwiderte Johanna heftig. »Ich werde dich nicht aufhalten!«
Gerold schüttelte langsam den Kopf. Mit ruhiger Stimme fragte er: »Was ist geschehen, Johanna? Mit dir stimmt doch etwas nicht.«
»Ich habe mich verändert, das ist alles. Ich bin nicht mehr das naive und liebeskranke Mädchen, das ich in Dorstadt gewesen bin. Ich bin jetzt mein eigener Herr. Und das werde ich nicht aufgeben – nicht für dich, und nicht für sonst einen Mann!«
|413|»Habe ich dich darum gebeten?« entgegnete Gerold mit ruhiger Stimme.
Doch Johanna war jetzt keinen sachlichen Argumenten mehr zugänglich. Gerolds Nähe, seine Freundlichkeit, sein Verständnis, seine starke körperliche Anziehungskraft waren eine Qual für sie; es war, als würde eine Schlange sich um ihren freien Willen winden, zudrücken und ihn ersticken. Verzweifelt versuchte Johanna, diese Umklammerung zu sprengen. »Du kannst es einfach nicht hinnehmen, stimmt’s? Du kannst den Gedanken nicht ertragen, daß ich nicht bereit bin, um deinetwillen mein jetziges Leben aufzugeben, nicht wahr? Daß es eine Frau gibt, die deinem berühmten männlichen Charme widerstehen kann?«
Sie hatte ihn verletzen wollen, und es war ihr gelungen.
Gerold schaute sie an, als hätte er eine vollkommen Fremde vor sich. »Ich dachte, du liebst mich«, sagte er steif. »Offensichtlich war das ein Irrtum. Verzeih mir; ich werde dich nie mehr belästigen.« Er ging zum Portal des Tempels, zögerte, drehte sich dann noch einmal um. »Das bedeutet, daß wir uns nie wieder sehen. Möchtest du das wirklich?«
Nein! Johanna hätte es am liebsten laut hinausgeschrien. Das möchte ich nicht! Lieber möchte ich sterben! Doch ein anderer Teil ihres Selbst gemahnte sie, diese Worte unausgesprochen zu lassen. »Ja, das möchte ich wirklich«, sagte sie statt dessen. Ihre Stimme hörte sich an, als käme sie aus weiter Ferne.
Hätte er nur ein einziges weiteres Wort über die Liebe und die Sehnsucht gesagt, wäre sie ihm in die Arme gefallen. Doch er drehte sich abrupt um und ging durchs Portal. Johanna hörte, wie er die Stufen des Tempels hinunterrannte.
Noch einen Augenblick, und er würde für immer aus ihrem Leben verschwunden sein.
Plötzlich schlug Johanna das Herz bis zum Hals; die Mauern, die sie in ihrem Innern errichtet hatte, stürzten ein, und die aufgestauten Gefühle brachen sich gewaltsam Bahn.
Sie rannte zum Portal. Gerold ritt im Galopp die Straße hinunter. Einen Augenblick später bog er um eine Gebäudeecke und war verschwunden.
Tage später, als die Wogen ihrer aufgewühlten Gefühle sich allmählich glätteten, konnte Johanna ruhiger und besonnener |414|darüber nachdenken, was geschehen war. Sie war schrecklich ungerecht gewesen; das war ihr klar. Welche verzweifelte Regung hatte sie dazu getrieben, Gerold so schreckliche Dinge zu sagen? Als Johanna an ihr Gespräch im vestalischen Tempel dachte, kam sie sich in den eigenen Augen wie eine Fremde vor. Das war nicht sie selbst gewesen.
Aegra amans, dachte sie. Vergil hatte nur allzu recht: Die Liebe war eine Art Krankheit. Sie veränderte den Menschen und bewirkte, daß er sich eigenartig und unvernünftig benahm. Johanna war froh, daß dieses Thema endgültig für sie abgeschlossen war. Es hatte schrecklich weh getan, sich auf diese Weise von Gerold zu trennen; nun aber sah sie ein, daß es so auf jeden Fall am besten war.
Natürlich war es so am besten.
Aber warum verspürte sie dann diese schreckliche, schmerzliche innere Leere?