In einen golddurchwirkten, scharlachroten Seidenumhang gehüllt und auf einem weißen Zelter, der ebenfalls einen Umhang sowie goldenes Zaumzeug trug, ritt Johanna in feierlichem Zug zu ihrer Weihe- und Krönungszeremonie in der Peterskirche. Aus jeder Tür, jedem Fenster entlang der Via Sacra hingen Flaggen und Banner und flatterten in einem Meer aus Farben, und der Boden war mit duftender Myrte bestreut. Dichtgedrängt säumten die jubelnden Menschen die Straßen und stießen und schubsten sich, um einen Blick auf den neuen Papst zu erhaschen.
Tief in Gedanken und Erinnerungen versunken, nahm Johanna den Lärm der Menge kaum wahr. Sie dachte an Matthias und an ihren alten Lehrer Aeskulapius und an Bruder Benjamin. Diese Menschen hatten an sie geglaubt, hatten sie ermutigt – doch einen Tag wie diesen hätte sich wohl keiner von ihnen auch nur erträumt. Johanna konnte es selbst kaum glauben.
Als sie das erste Mal in die Rolle eines Mannes geschlüpft war – damals, bevor sie in die Bruderschaft des Klosters Fulda aufgenommen wurde –, hatte Gott nicht die Hand gegen sie erhoben. Aber würde er ihr erlauben, heute auf den Thron des heiligen Petrus zu steigen? Diese Frage ließ sie nicht los, und sie fand keine Antwort darauf.
Die päpstliche Garde, von Gerold geführt, eskortierte Johanna zu Pferde. Wachsam hielt Gerold den Blick auf die Menschenmengen gerichtet, welche die Straßen säumten. Hin und wieder durchbrach jemand den Wall aus Leibern, den die Wachen bildeten, und jedesmal glitt Gerolds Hand zum Schwert an seiner Hüfte, bereit, Johannas Leben zu verteidigen. Doch er hatte keinen Grund, das Schwert aus der Scheide zu ziehen; denn die Leute wollten nur den Saum von Johannas Umhang küssen und ihren Segen empfangen.
Dieserart immer wieder unterbrochen, bewegte die lange |486|Prozession sich nur langsam und schwerfällig durch die gewundenen Straßen zur Leostadt. Als sie schließlich vor der Peterskirche hielt, hatte die Sonne ihren höchsten Punkt am Himmel erreicht. Die Kardinäle, Bischöfe und Diakone nahmen hinter Johanna Aufstellung, als sie vom Pferd stieg und zur Kathedrale ging. Langsam stieg sie die Treppe hinauf und betrat das funkelnde Innere des Domes.
Das uralte und komplizierte Ritual der Krönungszeremonie, die ordo coronatis, dauerte mehrere Stunden. Zwei Bischöfe führten Johanna zum Oratorium des heiligen Gregor, wo ihr feierlich Meßgewand, Stola und Pallium überreicht wurden, bevor sie zum Hochaltar schritt, wo anschließend das langwierige Zeremoniell der Weihe oder Salbung stattfand. Dann folgte die eigentliche Messe; der vielen Gebete und Anrufungen wegen, die aufgrund der überragenden Bedeutung dieses Gottesdienstes stattfanden, dauerte die Messe um einiges länger als üblich.
Die ganze Zeit stand Johanna aufrecht und in würdevoller Haltung da, wenngleich das Gewicht der schweren Priesterumhänge – die von Gold und Juwelen so steif und fest waren wie die eines byzantinischen Fürsten – auf ihren Schultern lastete. Doch ungeachtet ihres prachtvollen und ehrfurchtgebietenden Äußeren, kam Johanna sich angesichts der riesigen Verantwortung, die ihr auferlegt wurde, klein und schwach vor. Sie versuchte sich einzureden, daß all jene, die vor ihr hier gestanden hatten, auch gezweifelt und gezittert haben mußten. Und dennoch hatten sie irgendwie die Kraft gefunden, ihre gewaltigen Aufgaben anzugehen.
Aber sie alle waren Männer gewesen.
Eustathius, der Erzpriester, begann die letzte Anrufung: »Wir bitten dich, allmächtiger Gott, segne deinen Diener Johannes Anglicus und schenke ihm deine Gnade …«
Wird Gott mich tatsächlich segnen? fragte sich Johanna. Oder wird sein Zorn mich in dem Augenblick zerschmettern, da mir die päpstliche Krone aufgesetzt wird?
Der Bischof von Ostia trat vor; er trug ein Kissen aus weißer Seide in den Händen, auf dem die Tiara lag. Johanna stockte der Atem, als die Krone über sie erhoben wurde. Dann spürte sie, wie das Gewicht des goldenen Kleinods sich auf ihren Kopf senkte.
Nichts geschah.
|487|»Es lebe unser erhabener Papst Johannes Anglicus, durch Gottes Wille und mit seinem Segen unser höchster Bischof und Oberhirte der Christenheit!« rief Eustathius.
Der Chor sang Laudes, als Johanna sich der Versammlung zuwandte.
Der donnernde Jubel der Menschenmassen begrüßte Johanna, als sie auf den Stufen der Peterskirche erschien. Tausende von Gläubigen hatten seit Stunden in der glühenden Sonne ausgeharrt, um ihren neu gekrönten Papst zu begrüßen. Es war der Wille dieser Menschen gewesen, daß Johanna die Tiara tragen sollte, und dieser Wunsch äußerte sich nun in einem gewaltigen Chor überschwenglicher und freudiger Jubelrufe: »Papst Johannes! Papst Johannes! Papst Johannes!«
Johanna begrüßte die Menschen lächelnd und mit erhobenen Armen. Sie spürte, wie ein Glücksgefühl in ihr aufstieg. Gott hatte tatsächlich erlaubt, daß dies alles geschah; also konnte es nicht gegen seinen Willen verstoßen. Alle Zweifel und Ängste Johannas verflogen und wichen einer wunderschönen und strahlenden Gewißheit: Dies ist meine Bestimmung, und dies sind die mir von Gott anvertrauten Menschen.
Sie wurde geheiligt durch die Liebe, die sie für diese Menschen empfand, denen sie an jedem Tag ihres Lebens im Namen Gottes dienen würde.
Und vielleicht würde der Allmächtige ihr am Ende vergeben.
Gerold stand in der Nähe auf der Treppe des Domes und beobachtete Johanna mit tiefem Erstaunen. Sie strahlte vor Glück und innerer Heiterkeit. Eine Freude, für die es keine Worte gab, hatte ihr Innerstes verwandelt und ihr Gesicht mit beinahe überirdischem Glanz erfüllt. Nur Gerold, der Johanna so gut kannte, konnte erahnen, was jetzt in ihr vorgehen mochte: Eine wahrhaftige Segnung des Geistes, die ungleich bedeutsamer, inniger und tiefer war als die vorausgegangene förmliche Zeremonie.
In diesen Augenblicken sprach Gott aus ihr.
Gerold sah, wie Johanna den Jubel der Menge entgegennahm, und sein Herz wurde von der schmerzlichen Einsicht erfüllt, daß er diese Frau für immer verloren hatte – und daß er sie zugleich mehr liebte als je zuvor.
|488|Johannas erste Amtshandlung als Papst war ein Fußmarsch durch die Stadt. Von einer Abordnung optimates und päpstlichen Gardisten begleitet, besuchte sie nacheinander jeden der sieben Kirchenbezirke, sprach mit den Bewohnern und hörte sich ihren Kummer und ihre Nöte an.
Als ihr Fußmarsch sich dem Ende näherte, führte Desiderius, der Erzdiakon, Johanna fort vom Fluß und die Via Lata hinauf.
»Was ist mit dem Campus Martius?« fragte sie.
Die Mitglieder des päpstlichen Gefolges schauten einander verwundert an. Der Campus Martius – das Marsfeld – war eine sumpfige, schwüle, tief gelegene Gegend, die an die Ufer des Tiber grenzte; es war der ärmste Teil der Stadt. In den großen Tagen der römischen Republik hatte der Campus Martius der Anbetung des heidnischen Gottes Mars gedient; dort war der Exerzierplatz der Stadt gewesen. Jetzt durchstreiften verwilderte Hunde, zerlumpte Bettler, Diebe und andere Halunken die einst so stolzen Straßen.
»Wir können es nicht riskieren, uns dorthin zu begeben, Heiligkeit«, sagte Desiderius. »Das Viertel ist von Typhus und Cholera verseucht.«
Doch Johanna ging bereits in Richtung Fluß, flankiert von Gerold und den päpstlichen Gardisten. Desiderius und dem Rest des Gefolges blieb keine andere Wahl, als ihnen zu folgen.
Reihen von insulae – die beengten, heruntergekommenen Mietskasernen, in denen die Armen hausten – standen dicht an dicht zu beiden Seiten der schmutzigen Straßen, die sich entlang des Flußufers hinzogen; die verrottenden Bretter und Balken bogen sich wie die Rücken uralter, geschundener Arbeitspferde. Einige insulae waren zusammengebrochen; die Trümmerhaufen aus verfaulenden Balken lagen dort, wo sie zu Boden gestürzt waren, und versperrten die schmalen Straßen, über die sich die Bögen der verfallenden Aqua Marcia spannten; dieses Aquädukt hatte einst zu den größten architektonischen Wundern der Welt gehört. Jetzt aber tröpfelte trübes Wasser aus seinen eingestürzten Mauern, das sich in faulig riechenden, schwarzen Pfützen auf den Straßen sammelte: Brutplätze für Krankheiten.
Gruppen von Bettlern kauerten um Töpfe herum, in denen übelriechendes Essen über kleinen Feuern aus Zweigen und |489|getrocknetem Dung kochte. Die Straßen waren von einer dunklen, öligen Schicht überzogen, die der Tiber bei Hochwassern hinterlassen hatte. Müll und Exkremente verstopften die Abflüsse; in der Sommerhitze stieg der Gestank schier unerträglich in die unbewegte Luft und zog Schwärme von Fliegen, Ratten und anderes Ungeziefer an.
»Gütiger Himmel«, hörte Johanna Gerold murmeln, der neben ihr ging. »Dieses Viertel ist eine Pesthöhle!«
Johanna kannte das Gesicht der Armut, doch nie zuvor hatte sie einen Ort gesehen, an dem dermaßen erbärmliche Zustände und eine so bittere Armut herrschten.
Zwei kleine Kinder kauerten vor einem Kochfeuer. Ihre Tuniken waren so fadenscheinig, daß Johanna die weiße Haut der Kinder hindurchschimmern sehen konnte; ihre nackten Füße waren mit schmutzigen Lumpen umwickelt. Das eine Kind, ein kleiner Junge, litt offensichtlich an Fieber; trotz der Sommerhitze zitterte sein Körper unkontrolliert. Johanna zog ihren leinenen Chormantel aus und legte ihn dem Jungen behutsam um. Das Kind rieb die Wange an dem Stoff, der weicher war als alles, was es in seinem bisherigen Leben gespürt hatte.
Johanna bemerkte, wie jemand an ihrem Umhang zupfte. Das kleinere der beiden Kinder, ein rundäugiges, pausbäckiges Mädchen, blickte fragend zu ihr auf. »Bist du ein Engel?« fragte es mit piepsiger Stimme.
Sanft umfaßte Johanna das schmutzige runde Kinn. »Du bist der Engel, meine Kleine.«
In dem Topf, den die Kinder erhitzten, färbte sich ein Stück graues, sehniges Fleisch, dessen Herkunft nicht zu bestimmen war, allmählich braun. Eine junge Frau mit strähnigem gelbem Haar kam mit müden Schritten vom Flußufer zur Straße hinauf und schleppte einen Eimer Wasser mit sich. Ist sie die Mutter der beiden Kinder? fragte sich Johanna. Die Frau war selbst kaum mehr als ein Mädchen – bestimmt nicht älter als sechzehn Jahre.
In ihren Augen leuchtete Hoffnung auf, als sie Johanna und die anderen Prälaten erblickte. »Habt Ihr ein Almosen, guter Vater?« fragte sie und streckte eine schmutzige Hand aus. »Eine Münze für meine beiden Kleinen?«
Johanna nickte Viktor zu, dem sacellarius, der einen Silberdenar auf die Handfläche der jungen Frau legte. Mit einem |490|glücklichen Lächeln stellte sie den Wassereimer ab, um sich die Münze in die Tasche zu stecken.
Johanna sah, daß Schmutzteile in dem trüben, übelriechenden Wasser trieben.
Benedicte! dachte sie. Zweifellos war dieser Schmutz für die Fieberkrankheit des kleinen Jungen verantwortlich. Doch da das Aquädukt in Trümmern lag, hatten die Bewohner dieses Viertels keine andere Möglichkeit, sich Wasser zu beschaffen. Sie mußten die verpestete Brühe aus dem Tiber zum Kochen, Waschen und Trinken benutzen.
Inzwischen hatten weitere Bewohner des Viertels Johanna und ihre Begleitung erkannt. Die Menschen drängten sich um die hohen Besucher; jeder wollte dem neuen Papst die Ehre erweisen. Johanna streckte die Arme aus, berührte so viele Leute wie möglich und erteilte ihnen den Segen. Doch als die Menge wuchs und wuchs, drängten die Menschen sich bald so dicht um Johanna, daß sie sich kaum mehr bewegen konnte. Gerold erteilte Befehle; die Wachtsoldaten trieben die Menge zurück und machten eine Gasse frei, und die päpstliche Abordnung zog sich über die Via Lata in den Sonnenschein und die frische, gesunde Luft des kapitolinischen Hügels zurück.
»Wir müssen das Marcianische Aquädukt wiederaufbauen«, sagte Johanna, als sie am nächsten Morgen mit den optimates zu einer Besprechung zusammentraf.
Paschal, der primicerius, hob erstaunt die Brauen. »Der Wiederaufbau oder die Errichtung eines christlichen Bauwerks wäre ein angemessenerer Beginn Eures Pontifikats.«
»Was brauchen die Armen noch mehr Kirchen?« entgegnete Johanna. »In Rom gibt es Kirchen im Überfluß. Aber ein Aquädukt wiederaufzubauen könnte unzählige Leben retten.«
»Dieses Vorhaben ist riskant«, sagte Viktor, der sacellarius. »Und es könnte gut sein, daß es gar nicht durchführbar ist.«
Viktor hatte recht; Johanna konnte es nicht leugnen. Das Aquädukt wiederaufzubauen, wäre eine gewaltige Aufgabe, ein vielleicht sogar unmögliches Unterfangen, legte man die spärlichen architektonischen Kenntnisse der Zeit zugrunde. Die Bücher, die das gesammelte Wissen der antiken Baumeister enthielten, die derart komplizierte Konstruktionen wie das Aquädukt geschaffen hatten, waren schon Jahrhunderte zuvor verlorengegangen oder vernichtet worden; man hatte die pergamentenen |491|Seiten mit den unersetzlichen Bauplänen sauber geschabt, um christliche Predigten und Geschichten aus dem Leben der Heiligen und Märtyrer darauf zu schreiben.
»Wir müssen es versuchen«, sagte Johanna entschlossen. »Wir dürfen nicht zulassen, daß Menschen weiterhin in so schrecklichen Verhältnissen leben.«
Die anderen schwiegen – nicht, weil sie mit Johanna einer Meinung waren, sondern weil es unhöflich gewesen wäre, dem Heiligen Vater noch länger zu widersprechen, wo sein Herz so offenkundig an diesem Plan hing.
Nach einer kurzen Pause des Schweigens fragte Paschal: »Und wer soll beim Wiederaufbau des Aquädukts die Aufsicht führen, Heiligkeit?«
»Gerold«, erwiderte Johanna schlicht. »Ich gehe davon aus, daß der superista sich beim Bau der Leoninischen Mauer umfassende Kenntnisse über die Architektur erworben hat. Außerdem können wir uns an den funktionstüchtigen Aquädukten ein Beispiel nehmen und überdies wieder jene Arbeiter verpflichten, die schon einmal unter Gerold gearbeitet haben. – Seid Ihr mit dem Vorschlag einverstanden, die Aufsicht über dieses Bauvorhaben zu übernehmen, Gerold? Ich wüßte keinen Menschen, der befähigter dazu wäre als Ihr.«
Sie schaute ihn erwartungsvoll an, und er nickte ihr lächelnd zu.
»Dann bezweifle ich nicht, daß uns Erfolg beschieden sein wird«, sagte Johanna.
Nach und nach erkannte Johanna in vollem Umfang, was es bedeutete, Papst zu sein. Nominell eine der höchsten Machtstellungen auf Erden, war dieses Amt in Wahrheit mit umfassenden priesterlichen Aufgaben verbunden. Johannas Zeit wurde von einer Vielzahl mühseliger liturgischer Pflichten vollkommen in Anspruch genommen. Am Palmsonntag segnete und verteilte sie vor der Peterskirche Palmwedel. Am Gründonnerstag wusch sie den Armen die Füße und trug ihnen eigenhändig eine Mahlzeit auf. Am Fest des heiligen Antonius stand sie vor der Kirche Santa Maria Maggiore und besprenkelte die Ochsen, Pferde und Maultiere, die von ihren Besitzern herbeigetrieben worden waren, mit Weihwasser. Am dritten Sonntag nach Advent segnete sie durch Handauflegen die Anwärter auf das Amt des Priesters, des Diakons oder des Bischofs.
|492|Jeden Tag mußte sie die Messe lesen. Außerdem fanden die sogenannten Stationen statt, die Gottesdienste des Papstes an besonderen Tagen, wobei riesige Prozessionen langsam durch die Stadt zu den Titularkirchen zogen, in denen dann die Messe gefeiert wurde; unterwegs wurde immer wieder haltgemacht, so daß Johanna sich Bittsteller anhören und den Segen spenden konnte. Diese Prozessionen sowie die Gottesdienste nahmen den größten Teil eines Tages in Anspruch – und es gab nicht weniger als neunzig solcher Stationsmessen, einschließlich der Marienfeste, der Quatemberfasten, der Christmette, der Septuagesima- und Sexagesimasonntage sowie die meisten Sonn- und Feiertage während der Fastenzeit.
Dann gab es die Feiertage zu Ehren der Heiligen Petrus, Paulus, Laurentius, Agnes, Johannes, Thomas, Lukas, Andreas und Antonius sowie das Fest Mariä Geburt, Mariä Empfängnis, Mariä Verkündigung und Mariä Himmelfahrt. Dies waren die festen oder unbeweglichen Feiertage, die jedes Jahr auf den gleichen Tag fielen, so, wie Weihnachten und Epiphanias. Das Fest des Stuhles Petri, die Beschneidung Christi, die Geburt Johannes des Täufers, der Michaelistag, Allerseelen und die Kreuzeserhöhung waren ebenfalls feste Feiertage. Ostern, das höchste Fest des christlichen Jahres, war ein beweglicher Feiertag; sein Platz im Kalender richtete sich nach dem kirchlichen Vollmond, ebenso wie der Fastnachtsdienstag, der Aschermittwoch, Christi Himmelfahrt und Pfingsten.
Jeder dieser christlichen Festtage wurde mit mindestens viertägigen Feiern begangen: Es gab die Vigil oder den Vortag des Festes, dann den Festtag selbst, dann den Tag nach dem Fest und schließlich die Oktav, den achten Tag beziehungsweise die Woche nach dem Festtag. Alles in allem gab es mehr als einhundertfünfundsiebzig christliche Festtage, an denen zeitraubende, bis ins kleinste festgelegte Feierlichkeiten stattfanden.
Aus diesem Grund blieb Johanna nur sehr wenig Zeit, tatsächlich zu regieren oder sich um Dinge zu kümmern, die ihr wirklich am Herzen lagen: das Los der Armen wie auch die Ausbildung des Klerus zu verbessern.
Im August wurde der beschwerliche und eintönige liturgische Alltag durch eine Bischofskonferenz unterbrochen. Siebenundsechzig Prälaten nahmen daran teil, darunter sämtliche |493|Provinzialbischöfe, die suburbicarii, sowie die vier fränkischen Bischöfe, die von Kaiser Lothar geschickt worden waren.
Zwei der Themen, die auf der Synode behandelt wurden, lagen Johanna besonders am Herzen. Das erste war die Diskussion des intinctio, das auf Johanna selbst zurückging und bei dem das Abendmahlsbrot bei der Kommunion in den Weinbecher getaucht und dann an die Gläubigen verteilt wurde. In den zwölf Jahren, die vergangen waren, seit Johanna das intinctio in Fulda eingeführt hatte, um die Ausbreitung ansteckender Krankheiten zu verhindern, hatte diese Praxis sich so weit verbreitet, daß sie im Frankenreich inzwischen fast allgemein üblich war. Der römische Klerus jedoch – der natürlich nichts von Johannas Verbindung mit dem intinctio wußte –, betrachtete diese neue Vorgehensweise mit Argwohn.
»Es ist ein Verstoß gegen das Gesetz Gottes«, erklärte der Bischof von Castrum empört. »Aus der Heiligen Schrift geht eindeutig hervor, daß Christus sein Fleisch und sein Blut getrennt seinen Jüngern reichte.«
Der Bischof erntete allgemeines zustimmendes Kopfnicken.
»Ich schließe mich der Meinung meines Amtskollegen an«, sagte Pothos, der Bischof von Trevi. »In den Schriften der Kirchenväter ist nirgends die Rede davon, daß das Brot in den Wein getaucht wird. Schon deshalb muß eine solche Vorgehensweise abgelehnt werden.«
»Sollen wir eine Idee nur deshalb ablehnen, weil sie neu ist?« fragte Johanna.
»Wir sollten uns in allen Dingen von der Weisheit der Alten leiten lassen«, erwiderte Pothos gewichtig. »Und wir können uns nur einer einzigen Wahrheit sicher sein – nämlich jener, die uns in der Vergangenheit gewährt worden ist.«
»Alles, was alt ist, war irgendwann neu«, entgegnete Johanna, »und stets geht das Neue dem Alten voraus. Ist es da nicht dumm und widersinnig, auf der einen Seite alles zu verdammen, was zuerst kommt, und auf der anderen Seite alles in den Himmel zu heben, was aus zuerst Gekommenem entstanden ist?«
Pothos furchte die Brauen, als er diesen Darlegungen zu folgen versuchte. Wie die meisten seiner Amtskollegen hatte er keine Übung in gelehrten Disputen und Rededuellen; er fühlte sich nur wohl in seiner Haut, wenn er Autoritäten zitieren konnte.
|494|Während der langwierigen Diskussion, die nun entbrannte, setzte Johannas logisch geschulter Verstand sich schließlich durch. Die Bischöfe willigten ein, daß das intinctio im Frankenreich beibehalten wurde – vorerst jedenfalls.
Der nächste Punkt, der diskutiert wurde, war für Johanna von großem persönlichem Interesse, denn er betraf ihren alten Freund Gottschalk, den einstigen Fuldaer Mönch, dem sie vor vielen Jahren geholfen hatte, die Freiheit zu erlangen. Gottschalk war zunächst dem Kloster Orbais in der Erzdiözese Reims beigetreten, hatte dann die Priesterweihe empfangen und sich als Wanderprediger betätigt. Wie die fränkischen Bischöfe berichteten, steckte er nun wieder einmal in großen Schwierigkeiten – eine Nachricht, die Johanna betrübte, aber nicht besonders verwunderte: Gottschalk war ein Mann, der das Unglück so leidenschaftlich verfolgte, wie ein Liebhaber seine Geliebte umwarb.
Diesmal wurde er des schweren Verbrechens der Ketzerei beschuldigt. Rabanus Maurus, der einstige Abt des Fuldaer Klosters, der inzwischen zum Erzbischof von Mainz aufgestiegen war, hatte von einigen radikalen Thesen Gottschalks über die Prädestinationslehre Wind bekommen. Daraufhin hatte der Erzbischof die Gelegenheit beim Schopf gepackt und den Befehl erteilt, Gottschalk in den Kerker zu werfen, nachdem seine Häscher ihn zuvor halbtot geschlagen hatten.
Johanna machte ein düsteres Gesicht. Die Grausamkeiten, die vorgeblich fromme Männer wie Rabanus Maurus ihren Mitchristen antun ließen, verwunderten sie immer wieder. Die Greueltaten heidnischer Normannen erregten bei Menschen wie Rabanus weniger Zorn als ein christlicher Gläubiger, der auch nur den kleinsten Schritt von dem Weg abwich, den die strengen kirchlichen Doktrinen ihm vorschrieben.
Warum hegen wir den schrecklichsten Haß stets gegen unsere Mitchristen? fragte sich Johanna.
»Was sind die Besonderheiten dieser ketzerischen Theorien?« wandte sie sich an Wulfram, den Führer der fränkischen Bischöfe.
»Erstens«, antwortete Wulfram, »behauptet der Mönch Gottschalk, daß Gott alle Menschen entweder zur Errettung oder zur ewigen Verdammnis vorherbestimmt. Zweitens behauptet er, daß Christus nicht für alle Menschen am Kreuz gestorben ist, sondern nur für die zur Errettung Erwählten. Und |495|drittens sagt dieser Ketzer, daß Menschen, die für die Verdammnis bestimmt sind, auch durch gute Werke nicht bewirken können, zu den Erwählten zu gehören.«
Das hört sich allerdings sehr nach Gottschalk an, ging es Johanna durch den Kopf. Ein überzeugter Pessimist wie er, ständig unglücklich und von Seelenqualen gepeinigt, mußte sich von Natur aus zu einer solchen Theorie hingezogen fühlen, die einen Teil der Menschen als von vornherein zum Untergang verurteilt deklarierte – wobei Gottschalk sich höchstwahrscheinlich selbst dazu zählte. Andererseits waren diese Gedanken ganz und gar nicht neu und erst recht nicht ketzerisch: Der heilige Augustinus hatte in seinen beiden großen Werken, Über den Gottesstaat und Über die Liebe zu Gott, ganz ähnliche Ansichten vertreten: »Alle Gnade«, hatte er geschrieben, »ist unverdiente Gnade.«
Doch niemand im Saal schien dies zu erkennen. Obwohl alle den Namen Augustinus nannten, hatte sich offensichtlich keiner die Mühe gemacht, alle Schriften des Heiligen zu lesen.
Nirgotius, der Bischof von Anagni, erhob sich, um das Wort zu ergreifen. »Dies ist ein verwerflicher und sündhafter Abfall vom Glauben«, sagte er. »Denn es ist wohlbekannt, daß Gottes Wille die Auserwählten vorherbestimmt, nicht aber die Verdammten.«
Diese Argumentation ließ arg zu wünschen übrig; denn wenn Gott für den einen Teil der Menschen irgend etwas vorherbestimmte, galt dies zwangsläufig auch für den anderen Teil. Doch Johanna wies den Bischof nicht darauf hin, denn Gottschalks Lehren bereiteten ihr in der Tat einigen Kummer. Es war gefährlich, die Menschen zu lehren, daß ein Teil von ihnen der Verdammnis anheimfiel, mochten sie noch so viele gute Taten vollbringen und ein noch so frommes Leben führen. Denn falls dies zutraf – warum sollte sich dann überhaupt noch jemand die Mühe machen, sich nach den Geboten zu richten oder gute Werke zu tun, da Gott die Würfel ja bereits geworfen hatte?
»Ich stimme mit Nirgotius überein«, sagte Johanna. »Die Gnade Gottes ist keine Wahl, bei der vorherbestimmt wird, wer das Himmelreich schauen und wer im Höllenfeuer brennen soll. Die Gnade Gottes ist vielmehr die überfließende Kraft seiner Liebe, die alle Dinge im Himmel und auf Erden umfaßt.«
|496|Die Bischöfe nahmen diese Erklärung freudig auf, denn in ihrer Unverfänglichkeit deckte sie sich mit ihren eigenen Ansichten. Einstimmig sprachen sie sich dafür aus, Gottschalks Thesen zu verdammen. Doch auf Johannas Drängen beschlossen sie außerdem, Erzbischof Rabanus seiner »harten und unchristlichen Behandlung eines irrigen Mönchs« wegen zu tadeln.
Auf der Synode wurden zweiundvierzig Regeln beschlossen; die meisten behandelten die Reform der kirchlichen Disziplin und Erziehung. Am Ende der Woche wurde die Bischofskonferenz beendet. Alle Teilnehmer stimmten darin überein, daß es eine sehr erfolgreiche Versammlung gewesen sei, die Papst Johannes mit außergewöhnlicher Klugheit geleitet habe. Die Römer waren besonders stolz, von einem so gebildeten und geistig überlegenen spirituellen Führer vertreten worden zu sein.
Die Sympathie, die Johanna sich auf der Synode erworben hatte, hielt nicht lange vor. Schon im nächsten Monat wurde die gesamte christliche Welt bis in die Grundfesten erschüttert, als Johanna die Absicht verkündete, eine Schule für Frauen zu gründen. Selbst jene Mitglieder der päpstlichen Partei, die Johannas Kandidatur bei der Wahl unterstützt hatten, waren entsetzt. Was für einen Papst hatten sie denn da gewählt?
Beim wöchentlichen Treffen der optimates konfrontierte Jordanes, der secundicerius, Johanna offen mit dieser Problematik.
»Heiligkeit«, sagte er, »Ihr begeht ein großes Unrecht, wenn Ihr den Frauen Unterricht erteilen laßt.«
»Wieso?« fragte Johanna.
»Wie Euch gewiß bekannt ist, Heiligkeit, verhalten sich das Gehirn eines Weibes und der Uterus umgekehrt proportional. Mit anderen Worten: Je mehr ein Mädchen lernt, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, daß es als Frau jemals Kinder bekommen wird.«
Gütiger Gott, dachte Johanna. Lieber einen unfruchtbaren Körper als einen unfruchtbaren Verstand, der einen solchen Schwachsinn hervorbringt. Sie mühte sich, nicht laut vor Lachen herauszuplatzen.
»Wo habt Ihr denn das gelesen?« fragte sie statt dessen.
»Das ist Allgemeinwissen, Heiligkeit.«
|497|»Offensichtlich so allgemein, daß niemand sich die Mühe gemacht hat, es niederzuschreiben, auf daß alle Menschen in den Genuß dieser wundervollen Erkenntnis kommen.«
»Was allen offensichtlich ist, braucht man nicht zu lernen. Niemand hat je niedergeschrieben, daß die Wolle von den Schafen kommt, und dennoch weiß es ein jeder.«
Lächeln lag auf den Gesichtern ringsum. Jordanes strahlte selbstgefällig angesichts der Brillanz seines Arguments.
Johanna dachte einen Augenblick nach. »Falls es stimmt, was Ihr über das weibliche Gehirn sagt – wie erklärt Ihr Euch dann die außerordentliche Fruchtbarkeit gelehrter Frauen wie der Learta, die mit Geronimus in Briefwechsel stand und von fünfzehn gesunden Kindern entbunden wurde, wie der Heilige berichtet hat?«
»Eine Anomalie. Eine seltene Abweichung von der Regel.«
»Falls ich mich recht entsinne, Jordanes, kann Eure Schwester Julia lesen und schreiben.«
Jordanes schluckte schwer. »Aber nur ein kleines bißchen, Heiligkeit. Es reicht gerade, um über den Haushalt Buch zu führen.«
»Aber nach Eurer Theorie müßte schon dieses bißchen genügen, um eine schwächende Wirkung auf die Fruchtbarkeit einer Frau zu haben. Wie viele Kinder hat Julia zur Welt gebracht?«
Jordanes errötete. »Zwölf.«
»Noch eine Anomalie?«
Eine Pause langen und verlegenen Schweigens trat ein.
»Wie mir scheint, Heiligkeit«, sagte Jordanes schließlich steif, »kennt Ihr Euch auf diesem Gebiet sehr gut aus. Deshalb werde ich zu diesem Thema nichts mehr sagen.«
Und das tat er auch nicht. Jedenfalls nicht vor dieser Versammlung.
»Es war unklug, Jordanes öffentlich in Verlegenheit zu bringen«, sagte Gerold später. »Es könnte sein, daß du ihn Arsenius und den Kaiserlichen in die Arme getrieben hast.«
»Aber er war im Irrtum, Gerold«, erwiderte Johanna. »Frauen sind geistig ebenso leistungsfähig wie Männer. Bin ich nicht der beste Beweis dafür?«
»Natürlich. Aber du mußt den Menschen Zeit lassen. Die Welt kann nicht an einem einzigen Tag neu erschaffen werden.«
|498|»Die Welt wird nie mehr neu erschaffen. Man kann nur versuchen, sie zum Besseren zu verändern. Und irgendwo muß man schließlich anfangen.«
»Das stimmt«, gab Gerold ihr recht. »Aber nicht jetzt, nicht hier … und nicht durch dich.«
»Warum nicht?«
Weil ich dich liebe, wollte er antworten, und weil ich Angst um dich habe.
Statt dessen sagte er: »Du kannst es dir nicht leisten, dir Feinde zu machen. Hast du vergessen, wer und was du bist? Ich kann dich vor vielen Gefahren beschützen, Johanna – aber nicht vor dir selbst.«
»Ach, komm. Ist es denn so weltbewegend, was ich vorhabe? Wird die Erde untergehen, nur weil ein paar Frauen das Lesen und Schreiben lernen?«
»Dein alter Lehrer … Aeskulapius, nicht wahr? … hatte dir doch mal einen wichtigen Ratschlag erteilt. Wie lautete er noch?«
»Manche Gedanken sind gefährlich.«
»Genau.«
Beide schwiegen längere Zeit.
»Also gut«, gab Johanna schließlich nach. »Ich werde mit Jordanes reden und tun, was ich kann, um sein gesträubtes Gefieder zu glätten. Und ich verspreche dir, in Zukunft diplomatischer zu sein. Aber die Schule für Frauen ist mir zu wichtig. Von diesem Plan lasse ich mich nicht abbringen.«
»Das hatte ich auch nicht anders erwartet«, erwiderte Gerold mit einem Lächeln.
Im September wurde die Schule für Frauen feierlich eingeweiht. Johanna gab ihr den Namen Sankt-Katharinen-Schule, zum Angedenken an ihren Bruder Matthias, der sie als erster mit dem Leben und Wirken der Heiligen bekannt gemacht hatte. Jedesmal, wenn Johanna an dem kleinen Gebäude in der Via Merulana vorüberkam und die weiblichen Stimmen laut irgend etwas lesen hörte, hatte sie das Gefühl, ihr Herz müsse vor Freude zerspringen.
Und Gerold gegenüber hielt sie Wort. Sie war höflich und diplomatisch zu Jordanes und den anderen optimates. Sie schaffte es sogar, ihre Zunge im Zaum zu halten, als sie Kardinal Citonatus darüber predigen hörte, daß nach dem Tag des |499|Jüngsten Gerichts die »Mängel« der Frauen behoben seien, da alle Menschen ja sowieso als Männer wiedergeboren würden. Johanna ließ Citonatus zu sich bestellen und erklärte ihm – als »wohlgemeinter und hilfreicher Vorschlag« verschleiert –, daß es vielleicht besser sei, die Zeile über die Männer aus seiner »zutiefst bewegenden Predigt« zu streichen, um eine »bessere Wirkung« bei den weiblichen Mitgliedern der Gemeinde zu erzielen. Auf so diplomatische Weise vorgebracht, fiel Johannas Vorschlag auf fruchtbaren Boden, zumal Citonatus sich ob der Aufmerksamkeit des Papstes geschmeichelt fühlte. Von nun an jedenfalls tauchten die rein männlichen Auferstandenen in seiner Predigt nicht mehr auf.
Geduldig und ohne zu klagen ertrug Johanna das tägliche Einerlei der Audienzen, Messen, Segnungen und Ordinationen. Auf diese Weise zogen die langen kalten Tage des Herbstes ohne weitere Zwischenfälle friedlich vorüber; die Wogen, welche die Schule für Frauen geschlagen hatte, glätteten sich, und alles ging seinen geregelten Gang.
An den Iden des November verdunkelte sich der Himmel, und es fing an zu regnen. Zehn Tage lang goß es wie aus Kübeln; die Regentropfen trommelten unablässig auf die Schindeldächer der Häuser, so daß die Bewohner sich ob des andauernden, nervtötenden Geräusches die Ohren zustopfen mußten. Bald konnten die uralten Abwasserkanäle der Stadt die Regenmengen nicht mehr bewältigen; auf den Straßen sammelte sich das Wasser in immer größeren Pfützen, die anwuchsen, sich zu Strömen vereinten, rauschend und gurgelnd über die Straßen flossen und das Basaltsteinpflaster in einen tückischen, glatten Belag verwandelten.
Und der Regen hielt an. Das Wasser des Tiber stieg gefährlich hoch und trat schließlich auf der gesamten Länge des Flusses von der Stadt bis zum Meer über die Ufer; der Tiber überflutete die Felder der Campagna, zerstörte die Ernte und ertränkte das Vieh auf den Weiden.
Innerhalb der Stadtmauern wurde der tief gelegene Campus Martius, das dichtbesiedelte Wohnviertel der Armen, als erstes überschwemmt. Einige Bewohner flüchteten auf höheres Gelände, als die Wasser des Tiber zu steigen begannen, doch viele blieben, da sie ihre Wohnungen und ihre jämmerlichen Habseligkeiten nicht zurücklassen wollten, wobei sie |500|sich der Konsequenzen einer solchen Verzögerung nicht bewußt waren.
Und dann war es zu spät. Das Wasser stieg über Mannshöhe und vereitelte jeden weiteren Fluchtversuch. In den insulae wurden Hunderte von Menschen gefangen; falls die Fluten weiter anschwollen, würden die Leute ertrinken.
In solchen Fällen zog der Papst sich für gewöhnlich in die Kathedrale des Laterans zurück, las dort eine feierliche Litanei, warf sich vor dem Altar zu Boden und betete für die Erlösung Roms. Zum Erstaunen – und zur Bestürzung – des Klerus beschritt Johanna einen ganz anderen Weg und ließ statt dessen Gerold zu sich rufen, um Pläne zur Rettung der Bürger zu besprechen.
»Was können wir tun?« fragte sie. »Es muß doch eine Möglichkeit geben, alle diese Menschen in Sicherheit zu bringen.«
»Die Straßen um den Campus Martius sind völlig überflutet«, erwiderte Gerold. »Es gibt nur noch die Möglichkeit, die Leute mit Booten dort fortzuholen.«
»Was ist mit den Booten in Ripa Grande?«
»Das sind nur leichte Fischerboote. Wahrscheinlich sind sie zu zerbrechlich für den reißenden Fluß.«
»Es ist einen Versuch wert«, sagte Johanna drängend. »Wir können schließlich nicht tatenlos zusehen, wie die Menschen ertrinken!«
Gerold schaute sie mit einem Blick an, aus dem Liebe und Bewunderung zugleich sprachen. Weder Gregor noch Sergius, ja, nicht einmal Leo hätten sich so für die verarmten Einwohner des Campus Martius eingesetzt. Johanna war anders; sie machte keinen Unterschied zwischen arm und reich, und dementsprechend handelte sie auch. In ihren Augen verdienten alle Menschen die gleiche Aufmerksamkeit und Zuwendung.
»Ich lasse sofort die Miliz zusammenrufen«, sagte Gerold.
Sie marschierten zu den Anlegestellen in Ripa Grande, wo Johanna ihre Befehlsgewalt einsetzte und jedes brauchbare Wasserfahrzeug für die Rettungsaktion requirierte. Gerold und seine Männer stiegen in die Boote, und Johanna sprach rasch einige Segensworte, wobei sie die Stimme erheben mußte, um das Rauschen des Regens zu übertönen. Dann überraschte sie alle Anwesenden, indem sie zu Gerold ins Boot stieg.
»Was tut Ihr, Heiligkeit?« stieß er entsetzt hervor und benutzte |501|die förmliche Anrede – wie stets, wenn sie nicht unter vier Augen waren.
»Was glaubt Ihr wohl?«
»Ihr wollt doch nicht etwa mit uns kommen?«
»Warum nicht?«
Gerold blickte sie an, als hätte er eine Verrückte vor sich. »Das ist viel zu gefährlich!«
Eustathius, der Erzpriester, warf Johanna vom Kai aus einen tadelnden Blick zu. »Denkt an die Würde Eures Amtes, Heiligkeit! Ihr seid der Papst und der Bischof von Rom. Wollt Ihr da Euer Leben für ein paar zerlumpte Bettler aufs Spiel setzen?«
»Sie sind um nichts weniger die Kinder Gottes als Ihr und ich, Eustathius.«
»Aber wer soll uns bei der Litanei vorbeten?« fragte er klagend.
»Das werdet Ihr übernehmen, Eustathius. Macht Eure Sache gut; denn in dieser Notlage brauchen wir Eure Gebete dringend.« Ungeduldig wandte sie sich an Gerold. »Was ist, superista? Werdet Ihr nun rudern, oder muß ich es tun?«
Als er den Ausdruck unerschütterlicher Entschlossenheit in Johannas graugrünen Augen sah, packte Gerold die Ruder. Es war keine Zeit mehr für Diskussionen, denn das Wasser stieg immer schneller. Gerold setzte sich auf die Ruderbank und legte sich kräftig in die Riemen, und das Boot entfernte sich von der Anlegestelle.
Eustathius rief ihnen irgend etwas nach, doch seine Worte waren im Prasseln des Regens und dem Heulen des Windes nicht mehr zu verstehen.
Die behelfsmäßige Flottille schlug einen nordöstlichen Kurs in Richtung Campus Martius ein. Das Hochwasser war weiter gestiegen. Der Tiber strömte so schnell durch diesen tiefer gelegenen Teil der Stadt, als würde er durch einen Kanal dahinjagen. Von der Porta Septimania am Fuße des kapitolinischen Hügels an waren sämtliche Kirchen und Wohnhäuser überflutet. Die Säule des Marcus Aurelius stand zur Hälfte unter Wasser, und die Wellen schwappten gegen den oberen Rand der Türschwellen des Pantheon.
Als sie sich dem Campus Martius näherten, sahen sie die ersten Anzeichen der schrecklichen Schäden, die das Hochwasser verursacht hatte. Holztrümmer – die Überreste eingestürzter insulae – schossen an den Booten vorüber; Leichen |502|trieben auf der Wasseroberfläche; sie schaukelten und drehten sich in der Strömung. Die entsetzten Bewohner der verbliebenen Mietskasernen hatten sich in die oberen Etagen geflüchtet. Mit ausgestreckten Armen beugten sie sich aus den Fenstern und riefen mit kläglichen Stimmen um Hilfe.
Die Boote fächerten aus; je eines oder zwei fuhren zu einem der Wohnhäuser. Die Strömung und der Wellengang machten es schwer, die Boote ruhig im Wasser zu halten. Einige Bewohner der insulae wurden von Panik erfaßt, sprangen zu früh aus den Fenstern und verfehlten die schaukelnden und schwankenden Wasserfahrzeuge. Andere stürzten vor oder neben den Booten in den Fluß; wieder andere klammerten sich an den Bootsrändern fest und brachten die Fahrzeuge zum Kentern. Ein heilloses Durcheinander herrschte im Fluß, als jene, die nicht schwimmen konnten, sich verzweifelt an den Schwimmern festhielten, während die Ruderer im Kreise fuhren und zu verhindern versuchten, daß ihre kleinen, leichten Boote von der Strömung fortgetrieben wurden.
Schließlich aber waren alle Boote mit Menschen belegt, und die Ruderer fuhren los, wobei sie einer Route zum kapitolinischen Hügel folgten, wo alle Geretteten an Land gesetzt wurden. Von dieser Stelle aus war es ein leichter Aufstieg, um bis auf trockenes Gelände und in Sicherheit zu gelangen. Dann legte die Flotte wieder ab, um weitere Bewohner vom Campus Martius zu bergen.
Fahrt um Fahrt wurde unternommen. Die Retter waren bis auf die Haut durchnäßt; die Kleidung klebte ihnen am Körper, und die Muskeln schmerzten vor Anstrengung und Müdigkeit. Dann, endlich, schienen sämtliche Bewohner des überfluteten Viertels in Sicherheit zu sein. Die Boote waren wieder unterwegs zum kapitolinischen Hügel, als Johanna plötzlich eine Kinderstimme um Hilfe schreien hörte. Sie drehte sich um und sah die Gestalt eines kleinen Jungen im Fenster einer insula. Vielleicht hatte er sich jetzt erst in das oberste Stockwerk vorgearbeitet, oder er war zu verängstigt gewesen, als daß er sich ans Fenster gewagt hätte.
Johanna und Gerold schauten sich an. Ohne ein Wort wendete er das Boot, ruderte zu der Mietskaserne zurück und brachte das Gefährt unter dem Fenster zum Stehen, aus dem der kleine Junge sich nun hinauslehnte. Gerold ruderte gegen die Strömung an, um das Boot auf der Stelle zu halten.
|503|Johanna erhob sich und streckte die Arme aus.»Spring!« rief sie. »Los, spring! Ich fange dich auf!«
Doch der Junge blieb, wo er war. Mit weit aufgerissenen Augen, in denen nacktes Entsetzen stand, starrte er auf das schwankende Boot hinunter.
Johanna blickte den Jungen zwingend an, winkte ihm mit den erhobenen Händen. »Nun spring endlich!« befahl sie.
Zaghaft setzte der Junge einen Fuß auf den Fenstersims.
Johanna griff nach ihm.
In diesem Augenblick ertönte ein ohrenbetäubendes Donnern. Das antike Posterula Sankt Agatha, das nördlichste Tor der Aurelianischen Mauer, war unter dem Druck der immer noch steigenden Wassermassen eingestürzt. Mit einer Flutwelle von verheerender Kraft brach der Tiber in die Stadt hinein.
Johanna sah das vom Fenster umrahmte Gesicht des Jungen; sein Mund formte ein winziges O des Entsetzens, als die gesamte insula in sich zusammenstürzte. Im selben Augenblick spürte Johanna, wie das Boot unter ihr sich hob und erzitterte, bevor es von der heranrasenden Flutwelle gepackt und wild umhergeschleudert wurde.
Johanna schrie und hielt sich verzweifelt an den Seiten des zerbrechlichen Bootes fest, als es die Stromschnellen hinunter raste und jeden Augenblick zu kentern drohte. Gischtend schoß das Wasser am Bootsrand in die Höhe und überspülte die Insassen; Johanna hob den Kopf, rang keuchend nach Atem und erhaschte einen kurzen Blick auf Gerold, der am Bug kauerte.
Dann gab es einen fürchterlichen Ruck, als das Boot urplötzlich zum Stehen kam, wobei Johanna unsanft zu Boden geschleudert wurde.
Eine Zeitlang lag sie benommen da und wußte gar nicht, was geschehen war. Als sie schließlich den Blick hob, sah sie Wände, einen Tisch und Stühle.
Sie befand sich im Innern eines Gebäudes. Die gewaltige Kraft der Flutwelle hatte das kleine Boot geradewegs durch eines der oberen Fenster einer insula ins dahinterliegende Zimmer geschleudert.
Johanna sah Gerold vor dem Boot liegen, das Gesicht im knöcheltiefen Wasser, das den Fußboden überschwemmt hatte. Sie kroch zu ihm.
|504|Als sie ihn auf den Rücken drehte, zeigte er keine Reaktion. Sein Körper war schlaff, und er atmete nicht mehr. Johanna rollte ihn auf den Bauch und begann, ihm auf den Rücken zu drücken, um das Wasser aus seinen Lungen zu pressen. Drücken, nachlassen – drücken, nachlassen. Er darf nicht sterben, dachte sie verzweifelt. Er darf nicht sterben! So grausam konnte Gott doch nicht sein! Dann aber dachte sie an den todgeweihten Jungen in der insula und sagte sich: Gott ist zu allem fähig.
Drücken, nachlassen. Drücken, nachlassen.
Plötzlich hustete Gerold und spie einen großen Schwall Wasser aus.
Benedicte! Er atmete wieder. Johanna untersuchte ihn sorgfältig. Keine offenen Wunden, keine gebrochenen Knochen. Doch dicht unter dem Haaransatz, wo er einen wuchtigen Hieb an den Kopf erhalten hatte, befand sich eine große, schwarzblau verfärbte Schwellung. Dieser Schlag mußte seine Ohnmacht hervorgerufen haben.
Jetzt müßte er das Bewußtsein bald wiedererlangen, ging es Johanna durch den Kopf, während sie ihn betrachtete, doch Gerold blieb in tiefer Ohnmacht versunken. Seine Haut war blaß und kalt; sein Atem ging flach, sein Puls war kaum zu spüren und ging dennoch gefährlich schnell. Was ist mit ihm? fragte Johanna sich besorgt. Was kann ich für ihn tun?
»Der Schock einer gewaltsamen Verletzung kann einen Menschen töten, weil er einen alles durchdringenden Kälteschauer hervorruft, der sich aus dem Innern des Körpers ausbreitet …«
Diese Worte des Hippokrates, die Gottschalk einst das Leben gerettet hatten, fielen ihr wieder ein.
Sie mußte Gerold wärmen, und zwar schnell.
Das Boot hatte ein klaffendes Loch in die Holzwand der insula gerissen, durch das nun der Wind jagte und den Regen vor sich her peitschte. Johanna erhob sich und begann, das Innere der winzigen Mietskaserne zu durchsuchen. Hinter dem vorderen Zimmer, das zum Tiber hinaus lag, befand sich ein zweiter, kleinerer Raum, der keine Fenster besaß und in dem es deshalb wärmer und trockener war. Und – Deo gratias! – in der Mitte dieses Zimmers befand sich ein kleines eisernes Kohlenbecken, auf dem ein paar Holzstücke lagen. Auf einem Regal in der Nähe entdeckte Johanna einen Feuerstein und |505|eine Schachtel Anzündmaterial. In einer Kiste in einer Ecke des Zimmers fand sie eine dicke Wolldecke, die zwar schon ziemlich verschlissen, aber Gott sei Dank noch trocken war.
Johanna kehrte in das vordere Zimmer zurück und packte Gerold unter den Schultern. Halb trug, halb schleifte sie ihn ins Hinterzimmer und legte ihn neben dem Kohlenbecken behutsam zu Boden. Dann nahm sie die Schachtel mit dem Anzündmaterial und schlug mit dem Feuerstein an das Eisen. Ihre Hände zitterten so heftig, daß sie es mehrmals versuchen mußte, bis Funken sprühten. Schließlich aber gelang es ihr, den kleinen Strohhaufen zu entfachen. Rasch legte sie das brennende Anzündmaterial auf den Kohlenherd, bis die Flammen in die Höhe schlugen und nach den Holzscheiten leckten. Das feuchte Holz zischte und spuckte; es wollte kein Feuer fangen. Dann aber erschien ein winziger roter Glühpunkt auf einem der Scheite. Johanna pustete behutsam darauf und nährte das Flämmchen mit viel Übung und Geschick. Doch in dem Augenblick, als das Feuer aufloderte, fuhr ein Windstoß durchs Zimmer und blies es aus.
Verzweifelt betrachtete Johanna die kalten Holzscheite. Das Anzündmaterial war aufgebraucht; es gab keine Möglichkeit mehr, das Feuer noch einmal zu entfachen. Gerold lag noch immer bewußtlos am Boden. Sein Gesicht hatte einen beängstigenden, bläulich-weißen Farbton angenommen, und die Augen waren tief in die Höhlen eingesunken.
Es blieb nur noch eine Möglichkeit. Rasch zog Johanna ihm die nassen Sachen aus und entblößte seinen straffen, muskulösen Körper, der hier und da von verblassenden Narben aus Kämpfen und Schlachten gezeichnet war. Dann legte sie ihm die Decke über.
Sie erhob sich und begann, in der kalten Luft im Zimmer ihre eigenen durchnäßten Sachen auszuziehen: zuerst das Priestergewand und die Tunika; dann die Unterkleidung, die Albe – das weiße liturgische Untergewand –, das Humerale – das Schultertuch –, und das Cingulum, den Gürtel des Priestergewands. Als sie bis auf die Haut entkleidet war, kroch sie unter die Decke und kuschelte sich an Gerold.
Sie drückte ihn an sich, wärmte seinen Körper mit dem ihren und versuchte, durch die bloße Kraft des Willens ihre Stärke und Lebensenergie in ihn einfließen zu lassen.
Kämpfe, Gerold, mein Liebster. Kämpfe!
|506|Sie schloß die Augen und konzentrierte sich darauf, die Verbindung zwischen ihnen beiden herzustellen. Alles andere war vergessen. Das kleine Zimmer; das erloschene Feuer; das Boot; der Sturm und der Regen, die draußen tobten – nichts mehr war real. Es gab nur noch sie beide. Sie würden gemeinsam überleben oder sterben.
Gerolds Lider zuckten. Reflexhaft bewegten sich seine Hände, als wollten sie einen unsichtbaren Schleier zur Seite zerren. Im gleichen Moment sah Johanna ein lockendes Licht in der Finsternis und eilte mit Gerold darauf zu. An einem fernen Ort tauchten sie gemeinsam aus der Dunkelheit auf.
Und Gerold erwachte. Seine indigoblauen Augen betrachteten Johanna ohne jedes Erstaunen; er wußte, daß sie bei ihm gewesen war.
»Mein Schatz«, flüsterte er.
Lange Zeit lagen sie schweigend da – in einem Gespräch vereint, für das man keine Worte brauchte. Dann hob er einen Arm, um Johanna näher zu sich heranzuziehen; seine Finger berührten die wulstigen Narben auf ihrem Rücken.
»Stammt das von einem Rohrstock?« fragte er leise.
Sie errötete. »Ja.«
»Wer hat dir das angetan?«
Langsam und stockend erzählte sie ihm von den Prügeln, die der Vater ihr einst verabreicht hatte, als sie sich an jenem längst vergangenen Tag geweigert hatte, Aeskulapius’ Buch zu vernichten.
Gerold sagte nichts, doch die Muskeln an seinem Kiefer spannten sich. Er beugte sich zu Johanna hinüber und küßte jede der gezackten Narben.
Im Laufe der Jahre hatte Johanna sich selbst gelehrt, ihre Gefühle jederzeit zu beherrschen, sich Schmerzen zu verbeißen und nicht zu weinen. Nun aber strömten ihr die lange aufgestauten Tränen über die Wangen.
Gerold hielt sie fest und murmelte ihr zärtliche Worte ins Ohr, bis der Tränenstrom versiegte. Dann spürte Johanna seine Lippen auf den ihren; sie bewegten sich so sanft und behutsam, daß ihr Inneres von Wärme und aufkeimender Leidenschaft erfüllt wurde. Sie erwiderte seine Umarmung und schloß die Augen, genoß den süßen, berauschenden dunklen Wein ihrer Sinne und ließ sich bereitwillig von ihrem Verlangen fortreißen.
|507|Lieber Gott! dachte sie benommen. Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht! War sie all die Jahre davor geflüchtet? Hatte ihre Mutter sie einst davor gewarnt? Aber das war kein Sich-Aufgeben, sondern eine wundersame und wunderschöne Erweiterung des Selbst – ein Gebet, das nicht mit Worten, sondern mit den Augen und den Händen, mit den Lippen und der Haut gesprochen wurde.
»Ich liebe dich!« rief Johanna im Augenblick der Ekstase, und die Worte waren keine Entweihung, sondern ein Sakrament.
In der Großen Halle des Patriarchums wartete Arsenius mit den optimates und den Mitgliedern des hohen Klerus von Rom auf Neuigkeiten. Zuerst hatte Arsenius kaum glauben wollen, was er über Papst Johannes erfahren hatte. Aber was konnte man schon von einem Ausländer anderes erwarten – noch dazu von einem Menschen niederen Standes?
Raduin, der stellvertretende Befehlshaber der päpstlichen Garde, kam in die Halle.
»Was gibt es Neues?« fragte primicerius Paschal ihn ungeduldig.
»Es ist uns gelungen, eine große Anzahl von Einwohnern zu retten«, berichtete Raduin. »Aber ich fürchte, Seine Heiligkeit ist verloren.«
»Verloren?« wiederholte Paschal stirnrunzelnd. »Was meint Ihr damit?«
»Er war zusammen mit dem superista auf einem der Boote. Wir dachten, sie würden uns folgen, aber sie müssen noch einmal umgedreht haben, um einen weiteren Überlebenden zu retten. Kurz darauf stürzte das Tor von Sankt Agatha ein, und eine riesige Flutwelle ist mit schrecklicher Wucht über die Gegend hinweggetobt.«
Diese Nachricht wurde von den Würdenträgern mit Schreien des Entsetzens aufgenommen. Einige Prälaten bekreuzigten sich.
»Besteht die Möglichkeit, daß sie überlebt haben?« fragte Arsenius.
»Nein«, erwiderte Raduin. »Die Flutwelle war so gewaltig, daß sie in weitem Umkreis alles verschlungen hat.«
»Gott sei ihren Seelen gnädig«, sagte Arsenius ernst und mußte alle Kraft aufbieten, sich das Hochgefühl nicht anmerken zu lassen, das sich in seinem Innern ausbreitete.
|508|»Soll ich den Befehl erteilen, die Trauerglocken zu läuten?« fragte Eustathius, der Erzpriester.
»Nein«, entgegnete primicerius Paschal. »Wir dürfen nichts überstürzen. Schließlich ist Papst Johannes der Stellvertreter Christi auf Erden. Gott könnte ein Wunder gewirkt haben, um ihn zu retten.«
»Sollten wir dann nicht umkehren und nach ihm suchen?« schlug Arsenius vor. Natürlich hatte er nicht das geringste Interesse daran, daß Johannes gerettet wurde; aber er wollte sich Gewißheit verschaffen, ob der Papstthron tatsächlich wieder frei geworden war.
»Der Einsturz des nördlichen Tores hat die ganze Gegend unzugänglich gemacht«, erwiderte Raduin. »Wir können erst wieder etwas unternehmen, wenn das Hochwasser gefallen ist.«
»Dann laßt uns beten«, sagte Paschal. »Deus misereatur …«
Die anderen senkten die Köpfe und fielen ein.
Arsenius sprach die Worte rein mechanisch; seine Gedanken beschäftigten sich mit ganz anderen Dingen. Falls Johannes tatsächlich ertrunken war – und alles sprach dafür –, hatte Anastasius eine zweite Chance auf den Papstthron. Aber diesmal, dachte Arsenius entschlossen, darf bei der Wahl nichts schiefgehen. Diesmal werde ich all meine Macht einsetzen, um dafür zu sorgen, daß mein Sohn der neue Papst wird.
»… et Dominus. Amen.«
»Amen«, murmelte Arsenius. Er konnte es kaum erwarten, welche Neuigkeiten der nächste Tag bringen würde.
Johanna erwachte am frühen Morgen. Sie lächelte, als sie Gerold neben sich schlafen sah, und ließ den Blick auf seinem schmalen, markanten Gesicht verweilen. Es besaß noch immer dieselbe männliche Schönheit wie an dem Tag, als sie dieses Gesicht zum erstenmal gesehen hatte – hinter dem Bankettisch in einem Bischofspalast, vor achtundzwanzig Jahren.
Wußte ich es damals schon, fragte sie sich, schon in diesem allerersten Augenblick? Wußte ich, daß ich ihn liebe? Ich glaube, ja.
Endlich hatte sie akzeptiert, wogegen sie sich so lange Zeit gewehrt hatte: Gerold war ein Teil von ihr; auf eine unergründliche Art und Weise, die Johanna nicht erklären, aber auch nicht leugnen konnte, war er sie selbst. Sie waren Zwillingsseelen, für immer und untrennbar verbunden; zwei Hälften |509|eines vollkommenen Ganzen, das ohne den anderen nie mehr vollständig sein würde.
Johanna erlaubte sich nicht, zu lange bei der gewaltigen Bedeutungsvielfalt dieser wundersamen Entdeckung zu verweilen. Es genügte, für den Augenblick zu leben, für diesen Augenblick – für das vollkommene Glück, hier und jetzt mit Gerold zusammensein zu können. Die Zukunft existierte jetzt nicht.
Er lag auf der Seite, den Kopf nahe dem ihren, die Lippen leicht geöffnet, das lange rote Haar zerzaust in der Stirn. Im Schlaf sah er verletzlich und jung aus, beinahe jungenhaft. Von einem Gefühl unaussprechlicher Zärtlichkeit erfüllt, streckte Johanna die Hand aus und strich ihm sanft eine gelockte Haarsträhne von der Wange.
Gerold schlug die Augen auf und schaute Johanna mit einem Ausdruck so tiefer Liebe und so glühenden Verlangens an, daß es ihr den Atem verschlug. Wortlos streckte er die Hände nach ihr aus, und bereitwillig gab sie sich seiner Umarmung hin.
Johanna erwachte schlagartig, als sie ein fremdes Geräusch vernahm. Regungslos blieb sie in Gerolds Armen liegen und lauschte angespannt. Alles war still. Dann wurde ihr klar, daß sie nicht von einem Geräusch geweckt worden war, sondern von der Stille – vom plötzlichen Fehlen der Geräusche des trommelnden Regens und des heulenden Windes.
Das Unwetter war vorüber.
Johanna erhob sich und ging zum Fenster. Der Himmel war grau und bewölkt, doch zum erstenmal seit mehr als zehn Tagen zeigten sich Flecken blauen Himmels am Horizont, und Speere aus Sonnenlicht stachen durch die dichten Wolken.
Gelobt sei Gott der Herr, dachte Johanna. Jetzt haben Flut und Hochwasser bald ein Ende.
Gerold erschien hinter ihr und legte die Arme um sie. Sie lehnte sich zurück an seine Brust. Wärme und Liebe durchströmten ihr Inneres.
»Wird man bald nach uns suchen? Was meinst du?« fragte sie.
»Sehr bald – jetzt, wo der Regen aufgehört hat.«
»Ach, Gerold.« Sie barg den Kopf an seiner Schulter. »Ich bin nie im Leben so glücklich gewesen – und so unglücklich.«
»Ich weiß, mein Schatz.«
|510|»Wir können nie wieder zusammensein. Jedenfalls nicht … so.«
Er streichelte ihr helles Haar. »Wir bräuchten nicht wieder zurück, weißt du.«
Sie schaute ihn erstaunt an. »Wie meinst du das?«
»Niemand weiß, daß wir hier sind. Falls wir den Rettungsbooten kein Zeichen geben, sobald sie erscheinen, werden sie wieder fortrudern. In zwei, drei Tagen, wenn das Hochwasser zurückgegangen ist, könnten wir uns bei Nacht unbemerkt aus der Stadt schleichen. Niemand wird uns folgen, denn alle werden davon ausgehen, daß wir in der Flutwelle ertrunken sind. Wir würden frei und ungebunden sein … und wir wären zusammen.«
Johanna antwortete nicht; statt dessen schaute sie wieder aus dem Fenster.
Er wußte, daß er nie wieder größere Macht über sie haben würde als in diesem Augenblick. Falls er diese Macht einsetzte, falls er Johanna in die Arme nahm und sie küßte, würde sie vermutlich zustimmen und mit ihm fortgehen. Aber das wäre ihr gegenüber nicht recht gewesen. Selbst wenn sie einwilligte, wäre ihre gemeinsame Zukunft wahrscheinlich nicht von Dauer. Und Gerold wollte sie nicht zu etwas drängen, das sie hinterher vielleicht bereute. Sie mußte aus freien Stücken mit ihm kommen – oder gar nicht.
Er wartete auf ihre Entscheidung, und sein Leben, sein Glück hingen in der Schwebe.
Nach einer Zeit, die Gerold wie eine Ewigkeit vorkam, drehte Johanna sich wieder zu ihm um. Und als er in die Tiefen ihrer graugrünen Augen schaute, aus denen unendliche Traurigkeit sprach, wußte Gerold, daß er verloren hatte.
Leise sagte sie: »Ich liebe dich. Aber ich kann mich nicht vor der großen Verantwortung, die Gott und die Menschen mir auferlegt haben, wie ein Dieb in der Nacht fortschleichen. Die Leute glauben an mich; ich kann sie nicht im Stich lassen. Würde ich das tun, dann würde ich mich in jemand anderen verwandeln. Ich wäre nicht mehr der Mensch, den du liebst.«
»Ich verstehe«, sagte Gerold. »Und ich werde dich nicht mehr bedrängen. Aber eines sollst du wissen. Und ich werde es nur einmal sagen, hier und jetzt, und dann nie mehr wieder. Du bist mein wahres Leben auf Erden, und ich bin dein wahrer Gatte. Egal was geschieht, egal, welches Schicksal |511|uns erwartet – nichts und niemand kann je etwas daran ändern.«
Sie zogen sich an, um bereit zu sein, sobald die Retter kamen. Und so saßen sie beieinander und blickten sich an, in gleichermaßen liebevolle wie wehmütige Gedanken an den anderen versunken, als die Boote eintrafen.
Als man sie zurück zum Patriarchum ruderte, hielt Johanna den Kopf wie im Gebet gesenkt. Sie war sich der wachsamen Blicke der päpstlichen Gardesoldaten bewußt und wagte es nicht, Gerold anzuschauen; denn sie hatte ihre aufgewühlten Gefühle immer noch nicht unter Kontrolle.
Als sie am Kai anlegten, waren sie in Windeseile von einer jubelnden, begeisterten Menschenmenge umringt. Es blieb ihnen nur noch Zeit für einen letzten Blick zurück, bevor sie im Triumphzug zu ihren getrennten Unterkünften geleitet wurden.