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An Allerseelen versammelten die Mönche sich auf dem Eingangshof des Klosters, um das separatio leprosorum zu begehen, das feierliche Ritual, mit dem die Leprakranken aus der Gesellschaft ausgestoßen wurden. In diesem Jahr waren in der Gegend um Fulda sieben solcher Unglücklicher entdeckt worden, vier Männer und drei Frauen, darunter ein Junge von nicht mehr als vierzehn Jahren, dem die schrecklichen Spuren dieser Krankheit noch kaum anzusehen waren; ein anderes Opfer war eine alte Frau, die bereits sechzig oder mehr Winter gesehen hatte und deren lidlose Augen, der lippenlose Mund und die fehlenden Finger das fortgeschrittene Stadium der Krankheit erkennen ließen. Alle sieben Opfer waren in schwarze Leichentücher gehüllt und auf den Eingangshof des Klosters getrieben worden, auf dem sie sich nun in einer elenden, mitleiderregenden kleinen Gruppe zusammendrängten.

Die Bruderschaft näherte sich den Kranken in einer feierlichen Prozession. Zuerst kam Abt Rabanus Maurus, stolz, in kerzengerader Haltung und sich der Würde seines Amtes bewußt; zu seiner Rechten ging Prior Joseph, zu seiner Linken Bischof Otgar. Ihnen folgten die Mönche, ihrer Rangordnung entsprechend, sowie die Novizen. Zwei Laienbrüder bildeten den Abschluß der Prozession. Sie schoben einen Karren vor sich her, der hoch mit Erde vom Friedhof beladen war.

»Hiermit untersage ich euch, irgendeine Kirche zu betreten, einen Laden, eine Mühle, einen Marktplatz oder sonst einen Ort, an dem Menschen sich versammeln«, wandte Abt Rabanus sich mit feierlichem Ernst an die Aussätzigen. »Ich untersage euch, die üblichen Straßen und Wege zu benutzen und euch einem Menschen zu nähern, ohne eure Glocke zu läuten und ihn auf diese Weise zu warnen. Ich untersage euch, Kinder zu berühren oder ihnen irgend etwas zu geben.«

|270|Eine der Frauen brach in Tränen aus. Auf der Vorderseite ihrer abgetragenen wollenen Tunika waren in Höhe ihrer Brüste zwei dunkle Flecke zu sehen. Eine Mutter, die noch stillt, dachte Johanna bei sich. Wo mag ihr Kind sein? Wer wird sich um das Kleine kümmern?

»Ich untersage euch, in Gesellschaft anderer Menschen zu essen und zu trinken! Dies ist euch fortan nur unter Aussätzigen erlaubt, wie ihr es seid«, fuhr Abt Rabanus fort. »Des weiteren untersage ich euch, daß ihr euch jemals wieder das Gesicht, die Hände, die Füße und jeden Gegenstand, den ihr benutzt, in einem Fluß, einem Bach, einer Quelle oder einem Brunnen wascht. Ich untersage euch jede fleischliche Beziehung zu anderen Menschen, auch zu euren Gatten. Ich untersage euch, Kinder zu zeugen oder sie zu stillen.«

Das schmerzerfüllte Weinen der Frau wurde lauter, und die Tränen strömten über ihr von Geschwüren entstelltes Gesicht.

»Wie heißt du?« Mit kaum verhülltem Zorn wandte Abt Rabanus sich an die schluchzende Frau. Ihre unziemliche Zurschaustellung von Gefühlen störte den wohlgeordneten Ablauf der Zeremonie, mit der Rabanus den Bischof hatte beeindrucken wollen. Denn inzwischen war offensichtlich, daß Otgar nicht nur deshalb nach Fulda gekommen war, um die Botschaft zu überbringen, daß Gottschalk das Kloster verlassen dürfe: Der Bischof hatte außerdem den Auftrag, die Amtsführung Rabanus’ zu beobachten und darüber zu berichten.

»Madalgis«, gab die Frau schluchzend zur Antwort. »Bitte, Herr, laß mich nach Hause; denn vier vaterlose Kleine warten auf ihr Abendbrot.«

»Der Himmel wird für die Unschuldigen sorgen. Du hast gesündigt, Madalgis, und deshalb hat Gott dich mit der Krankheit geschlagen«, erklärte Rabanus mit übertriebener Geduld, so, als würde er zu einem Kind reden. »Du solltest nicht weinen. Statt dessen solltest du Gott danken; denn im nächsten Leben brauchst du weniger Leid zu ertragen als in diesem.«

Madalgis starrte Rabanus fassungslos an, als könnte sie nicht glauben, was sie soeben gehört hatte. Dann brach sie wieder in Tränen aus und weinte lauter als zuvor; ihr Gesicht lief vom Hals bis zu den Haarwurzeln blutrot an.

Das ist ja seltsam, dachte Johanna.

Rabanus kehrte der Frau den Rücken zu.»De profundis moribus…«, begann er sein Gebet für die Toten. Die anderen Mönche |271|fielen ein; ihre Stimmen vermischten sich zu einem tiefen, volltönenden und harmonischen Klang.

Johannas Lippen bildeten die Worte des Gebets mechanisch; ihre Augen ruhten voller gespannter Aufmerksamkeit auf Madalgis.

Als Rabanus Maurus das Gebet beendete, ging er zum letzten Teil der Zeremonie über, bei der die Aussätzigen, einer nach dem anderen, formell von der Welt der Lebenden abgesondert wurden. Rabanus stellte sich vor den ersten Kranken, den vierzehnjährigen, noch kaum vom Aussatz gezeichneten Jungen. »Sis mortuus mundo, vivens iterum Deo«, sagte der Abt. »Magst du auch tot sein vor den Augen der Welt, so lebst du doch vor den Augen des Herrn.« Er gab Bruder Magenard ein Zeichen, worauf dieser einen kleinen Spaten in die Friedhofserde auf dem Schubkarren stach; dann schleuderte er die Erde auf den Jungen, die sich in seinem Haar und seiner Kleidung festsetzte.

Diese Zeremonie wurde fünfmal wiederholt und endete stets damit, daß Bruder Magenard die Friedhofserde auf den jeweiligen Kranken schleuderte. Als Madalgis an die Reihe kam, versuchte sie, fortzulaufen, doch die beiden Laienbrüder versperrten ihr den Weg. Rabanus blickte Madalgis finster an.

»Sis mortuus mundo, vivens iterum …«

»Halt!« rief Johanna.

Abt Rabanus verstummte, und sämtliche Brüder blickten fassungslos in die Runde, um die Quelle dieser beispiellosen Störung ausfindig zu machen.

Dann ruhten aller Augen auf Johanna, als sie plötzlich zu Madalgis ging und sie rasch und fachkundig untersuchte. Schließlich wandte sie sich Abt Rabanus zu. »Diese Frau ist keine Aussätzige, ehrenwerter Abt.«

»Was sagst du da?« Rabanus mühte sich, seinen Zorn im Zaum zu halten, damit der Bischof nichts bemerkte.

»Die krankhaften Veränderungen sind nicht auf Aussatz zurückzuführen. Seht Ihr, wie ihre Haut sich rötet, weil sie vom Blut darunter gespeist wird? Diese Hauterkrankung ist nicht ansteckend und kann geheilt werden.«

»Wenn diese Frau keine Leprakranke ist, was hat ihre Geschwüre dann verursacht?« fragte Rabanus streng.

»Es kommen verschiedene Ursachen in Frage«, erwiderte Johanna. »Ohne genauere Untersuchung läßt es sich schwer |272|sagen. Doch was auch der Grund sein mag, eins steht fest: Es ist keine Lepra.«

»Gott hat diese Frau mit den sichtbaren Malen der Sünde gezeichnet!« sagte Rabanus. »Wir dürfen uns dem Willen des Allmächtigen nicht widersetzen!«

»Sie ist gezeichnet, aber nicht vom Aussatz«, antwortete Johanna unbeirrt. »Gott hat uns das Wissen und die Fähigkeit verliehen, jene zu erkennen, die er auserwählt hat, die Last dieser Krankheit zu tragen. Würde es Gott gefallen, wenn wir den Todgeweihten einen Menschen zuweisen, den der Allmächtige selbst gar nicht dazu erwählt hat?«

Es war ein scharfsinniges Argument. Voller Zorn erkannte Rabanus, daß die anderen Mönche davon beeindruckt waren. »Und woher sollen wir wissen, daß du die Zeichen des göttlichen Willens richtig gedeutet hast?« konterte er. »Ist dein Stolz so groß, daß du deine Mitbrüder dafür opfern würdest? Denn falls du dich dieser Frau annehmen willst, muß sie ins Spital – und das wiederum würde bedeuten, daß du uns alle in Gefahr bringst!«

Die Worte des Abtes verursachten besorgtes Gemurmel unter den versammelten Mönchen. Von der ewigen Verdammnis und den unsäglichen Qualen der Hölle abgesehen, rief nichts so viel Abscheu, Furcht und Entsetzen hervor wie die Lepra.

Laut jammernd warf Madalgis sich Johanna zu Füßen. Sie hatte der Diskussion gelauscht, ohne ein Wort zu verstehen; denn Johanna und der Abt hatten Latein gesprochen. Doch Madalgis hatte bemerkt, daß Johanna sich für sie eingesetzt hatte – und daß die Waagschale sich wieder zu ihren Ungunsten neigte.

Johanna klopfte der Frau sanft auf die Schulter, um sie zu beruhigen und ihr Trost zu spenden. »Kein Bruder wird ein Wagnis eingehen müssen, ehrwürdiger Abt«, sagte sie zu Rabanus. »Nur ich allein. Mit Eurer Erlaubnis, Vater, begleite ich diese Frau nach Hause, stelle fest, woran sie erkrankt ist, und bringe ihr jene Arzneien, die zu ihrer Heilung erforderlich sind.«

»Du allein? Mit einer Frau?« In frömmlerischem Entsetzen hob Rabanus die Brauen. »Deine Absichten mögen lauter sein, Johannes Anglicus; aber du bist ein junger Mann und den Gefahren der fleischlichen Begierde ausgesetzt. Als dein geistlicher Vater gehört es zu meinen Pflichten, dich vor allen niederen Instinkten zu schützen.«

|273|Johanna setzte zu einer heftigen Erwiderung an, schwieg dann aber voller hilflosen Zorns und Enttäuschung. Niemand war besser gegen die Verlockungen durch eine Frau geschützt als sie; aber sie hatte selbstverständlich keine Möglichkeit, sich Rabanus Maurus zu offenbaren, ohne ihr Leben aufs Spiel zu setzen und alles zunichte zu machen.

Hinter Johanna erklang Bruder Benjamins kratzige Stimme. »Ich könnte Bruder Johannes begleiten, ehrenwerter Abt.« Benjamin lächelte matt. »Ich bin zu alt, als daß die fleischliche Versuchung noch eine Gefahr für mich wäre. Und Ihr dürft Bruder Johannes ruhig vertrauen, Vater, wenn er behauptet, daß diese Frau keine Aussätzige ist. Wenn Johannes mit solcher Überzeugung spricht, irrt er sich niemals. Seine Fähigkeiten auf dem Gebiet der Heilkunst sind gewaltig.«

Johanna bedachte Benjamin mit einem dankbaren Blick. Madalgis klammerte sich an sie; ihr lautes Weinen hatte sich dank der tröstlichen Berührung durch Johanna in ein leises Schluchzen verwandelt.

Abt Rabanus zögerte. Am liebsten hätte er Johannes Anglicus zur Strafe für dessen dreisten Ungehorsam eine kräftige Tracht Prügel verabreichen lassen. Doch Bischof Otgar schaute zu, und Rabanus konnte es sich nicht erlauben, hartherzig und unnachgiebig zu erscheinen. »Also gut«, sagte er mürrisch. »Nach den Vespern darfst du, Bruder Benjamin, zusammen mit Bruder Johannes und dieser Sünderin das Kloster verlassen und tun, was im Namen Gottes getan werden kann, um ihre Krankheit zu heilen.«

»Danke, Vater«, sagte Johanna.

Rabanus streckte den rechten Arm zu Madalgis, Johanna und Benjamin aus und machte das Kreuzzeichen. »Möge Gott euch in seiner unendlichen Güte vor allem Übel bewahren.«

 

Das Maultier, das die Taschen mit den Arzneimitteln und der ärztlichen Ausrüstung trug, trottete bedächtig seines Weges, gleichgültig ob der verblassenden Sonne. Bis zu Madalgis’ Hütte waren es noch gut acht Kilometer. Bei diesem schleppenden Tempo konnten die drei einsamen Pilger von Glück sagen, wenn sie ihr Ziel vor Anbruch der Dunkelheit erreichten. Ungeduldig trieb Johanna das Maultier an. Um ihr zu Willen zu sein, machte das Tier fünf, sechs rasche, aufeinanderfolgende |274|Schritte, um dann wieder in seinen alten, gemächlichen Trott zurückzufallen.

Während sie dahinzogen, plapperte Madalgis mit jener nervösen Energie drauflos, wie sie häufig schrecklicher Angst entspringt. Johanna und Benjamin erfuhren ihre ganze traurige Geschichte. Trotz ihres abgerissenen Äußeren war Madalgis keine colona, sondern eine freie Frau, deren Ehemann Freibauer auf einem großen mansus gewesen war, der zwölf Hektar Ackerland umfaßt hatte. Nach seinem Tod hatte Madalgis versucht, ihre Familie durchzubringen, indem sie das Land ganz allein bewirtschaftete, doch dieses heldenhafte Unterfangen wurde von ihrem Nachbarn, dem Grundherren Rathold, abrupt beendet, denn Rathold hatte es auf die Hufe abgesehen, die fruchtbaren Boden besaß und gute Gewinne abwarf. So hatte Rathold dem Abt Rabanus von Madalgis’ Bemühungen berichtet, worauf der Abt ihr unter Androhung der Exkommunikation untersagte, jemals wieder mit Pflug oder Hacke den Acker zu bearbeiten. »Eine Frau handelt unchristlich, wenn sie die Arbeit eines Mannes tut«, hatte er zu Madalgis gesagt.

Angesichts des drohenden Hungertods war Madalgis gezwungen gewesen, Haus und Hufe für einen Bruchteil ihres wirklichen Wertes an den Grundherren Rathold zu verkaufen; als Kaufpreis erhielt sie nur ein paar solidi, eine winzige Hütte sowie ein kleines Stück Wiese für ihre Kühe in einem Weiler unweit ihres einstigen mansus.

Madalgis hatte sich auf die Käseherstellung verlegt und die Früchte ihrer Arbeit gegen Lebensmittel und andere Gegenstände des täglichen Bedarfs eingetauscht, doch es war zu wenig zum Leben und zuviel zum Sterben für sie und ihre Kinder.

Kaum erblickte sie ihre Hütte, stieß Madalgis einen glücklichen Schrei aus, rannte voraus und verschwand im Innern der jämmerlichen Behausung. Johanna und Bruder Benjamin folgten Madalgis einige Minuten später in die Hütte und entdeckten die Frau inmitten einer ausgelassenen Schar kleiner Jungen und Mädchen; die Kinder kreischten und lachten glücklich, warfen sich der Mutter an den Hals und plapperten alle zugleich drauflos. Doch als die beiden Mönche die Hütte betraten, schrien die Kleinen erschreckt auf und drängten sich schützend um Madalgis. Offensichtlich hatten sie Angst, die Mutter könnte ihnen wieder fortgenommen werden. Doch Madalgis |275|sprach zu den Kindern; kurz darauf kehrte das Lächeln auf die kleinen Gesichter zurück, und mit einer Mischung aus Neugier und Mißtrauen musterten sie die beiden Fremden.

Dann kam eine Frau in die Hütte, in jedem Arm einen Säugling. Respektvoll verbeugte sie sich vor den beiden Mönchen; dann eilte sie an ihnen vorbei und reichte Madalgis eins der Kleinkinder. Madalgis drückte es glückstrahlend an sich und gab ihm die Brust. Das Kleine saugte hungrig. Die Frau, die in die Hütte gekommen war, schien bereits älter zu sein – fünfzig oder mehr Jahre –, doch Johanna erkannte, daß ihr Gesicht von Kummer ausgezehrt und voller Sorgenfalten war, so daß die Frau viel älter aussah, als sie war. Johanna schätzte sie auf Ende zwanzig, Anfang dreißig.

Sie hat Madalgis’ Kleines und ihren eigenen Säugling gestillt, dachte sie und betrachtete voller Mitgefühl die ungesunde Gesichtsfarbe der Frau, die flachen Brüste und den schlaffen Unterleib, die sich unter der schlichten Kleidung abzeichneten. Johanna hatte diese Symptome schon des öfteren gesehen: Die Frauen brachten ihr erstes Kind nicht selten mit dreizehn, vierzehn Jahren zur Welt, um dann in einem Zustand beinahe permanenter Schwangerschaft zu verbleiben und mit steter Regelmäßigkeit ein Kind nach dem anderen in eine triste Welt zu setzen. Es war durchaus nicht ungewöhnlich, daß eine Frau im Laufe ihres Lebens zwanzigmal und öfter schwanger war, wenngleich einige dieser Schwangerschaften aufgrund von Fehl- und Frühgeburten keine neun Monate währten. Wenn eine Frau in die Wechseljahre kam – falls ihr ein so langes Leben beschieden war; denn jede Geburt war für Mutter und Kind mit einem hohen Risiko verbunden – waren ihr Körper und ihr Geist erschöpft und ausgelaugt. Johanna nahm sich vor, für die unbekannte Frau ein Tonikum aus zerstampfter Eichenrinde und Salbei zu bereiten, um ihrem Körper zusätzliche Energie für den bevorstehenden Winter zuzuführen.

Madalgis sprach derweil zu ihrem ältesten Kind, einem hochaufgeschossenen Jungen von elf oder zwölf Jahren. Er lief zur Tür hinaus und kam Augenblicke später mit einem Laib Brot und einem Stück blaugeädertem Käse zurück in die Hütte. Er bot Johanna und Bruder Benjamin beides an. Der Arzt nahm ein Stück Brot, wies den offensichtlich schimmeligen Käse jedoch zurück. Auch Johanna war der Käse auf den ersten Blick zuwider, doch um dem Jungen eine Freude zu machen, brach sie |276|ein winziges Stück davon ab und steckte es sich in den Mund. Zu ihrem Erstaunen schmeckte der Käse wundervoll – scharf, kräftig und erstaunlich würzig; viel besser als jeder Käse, der im Kloster zu Fulda auf die Tische im Refektorium kam.

»Hmmm! Das schmeckt ja herrlich!«

Der Junge grinste.

»Wie heißt du?« fragte Johanna ihn.

»Arn«, antwortete er schüchtern.

Beim Essen ließ Johanna den Blick in die Runde schweifen. Madalgis’ Zuhause war eine kleine, fensterlose Kate, primitiv aus überkreuzten, rissigen Latten errichtet. Obwohl Wände und Decke mit Lehm verfugt und das ganze mit Stroh und Blättern zugestopft war, wehte der kalte Abendwind durch die Ritzen und wirbelte den Rauch, der vom Herdfeuer aufstieg, zu einer erstickenden Wolke auf. In einer Ecke befand sich ein winziger Pferch für Tiere; in spätestens einem Monat würde Madalgis ihre Kühe in die Hütte holen, wo sie den ganzen Winter verbrachten, so, wie es bei den Armen üblich war. Denn auf diese Weise schützten sie nicht nur ihr kostbares Vieh, sondern bekamen eine zusätzliche Heizquelle. Doch leider brachten die Tiere nicht nur ihre Körperwärme mit in die Behausungen, sondern auch Ungeziefer: Zecken, Flöhe, Läuse und eine ganze Schar anderer Schädlinge, die sich im Schilf des Fußbodenbelags und in den strohgedeckten Schlafpritschen einnisteten. Die meisten Armen waren am ganzen Körper von schmerzhaften Insektenstichen bedeckt – eine Tatsache, die in vielen fränkischen Kirchen ihren Niederschlag fand, deren Wände von Darstellungen des Hiob geziert wurden: Sein Körper war von Geschwüren bedeckt, und er kratzte sich mit einem Messer die wunden und entzündeten Stellen.

Einige Leute – Johanna vermutete, daß auch Madalgis dazu zählte – entwickelten mit der Zeit ungewöhnlich heftige Reaktionen auf Insektenstiche. Ihre Haut schwoll an, rötete sich und entzündete sich schließlich durch die rauhe, schmutzige Wollkleidung, bis es so schlimm wurde, daß die Schwellungen das Aussehen lepröser Geschwüre annahmen.

Doch die Dunkelheit brach herein, und Johanna mußte mit einer genauen Diagnose bis zum nächsten Tag warten. Morgen, sagte sie sich, als sie sich für die Nacht auf ein Strohlager bettete. Morgen fangen wir an.

 

|277|Am nächsten Tag säuberten sie die kleine Hütte von oben bis unten. Das alte Reisig, mit dem der Fußboden bedeckt war, wurde hinausgeworfen; dann wurde der Boden vollkommen glatt und sauber gefegt. Die alten Schlafpritschen landeten im Feuer; aus frischem Stroh wurden neue angefertigt. Selbst das Strohdach der Hütte, das mit den Jahren zu faulen begonnen hatte und durchhing, wurde abgerissen und durch ein neues Dach ersetzt.

Als größtes Problem erwies es sich, Madalgis zum Baden zu überreden. Wie jeder andere, wusch sie sich regelmäßig die Hände, die Füße und das Gesicht, doch der Gedanke, den ganzen Körper zu reinigen, kam ihr seltsam, ja gefährlich vor.

»Ich werde mir eine Erkältung holen und sterben, wenn ich bade!« jammerte sie.

»Du wirst sterben, wenn du nicht badest«, erwiderte Johanna ungerührt.

Der kühlen und kurzen Tage des Heuvimanoth wegen war das Wasser in dem kleinen Bach, der hinter der armseligen Hütte plätscherte, für ein Bad zu kalt geworden. Benjamin und die beiden Frauen mußten das Wasser also eimerweise in die Hütte schaffen, über dem Herd erhitzen und in den Waschzuber gießen. Während die beiden Mönche Madalgis den Rücken zukehrten, stieg sie voller ängstlicher Beklommenheit in den Zuber; dann wusch sie ihren Körper mit Seife und Wasser.

Nach dem Bad zog Madalgis eine saubere neue Tunika an, die Johanna sich in weiser Voraussicht bei Bruder Konrad, dem Zellerar, besorgt hatte. Aus dickem, schwerem Leinen gefertigt, war die Tunika warm genug, um Madalgis als Winterkleidung zu dienen; außerdem war sie viel weicher als die kratzige rauhe Wolle.

Madalgis’ Zustand besserte sich rasch, nachdem sie gebadet hatte und die Hütte vom Ungeziefer befreit und gereinigt war, so daß sie vor Sauberkeit glänzte. Die Entzündungen verschwanden, und die Geschwüre heilten ab. Madalgis war auf dem Weg der Genesung.

Bruder Benjamin war begeistert.»Du hast recht gehabt!« sagte er zu Johanna. »Es ist kein Aussatz! Wir müssen zurück ins Kloster und es den anderen beweisen!«

 

»Zeigt mir noch eins«, bettelte Arn.

Johanna lächelte ihn an. In den letzten Tagen hatte sie dem |278|Jungen die klassische Methode des Fingerrechnens beigebracht, die auf den großen Gelehrten Beda Venerabilis zurückging, und Arn hatte sich als gelehriger und fleißiger Schüler erwiesen.

»Zuerst mußt du mir zeigen, daß du noch weißt, was du bis jetzt gelernt hast. Was bedeutet das hier?« Sie hielt den kleinen Finger, den Ringfinger und den Mittelfinger ihrer Linken in die Höhe.

»Das sind Einheiten für die Einer«, sagte der Junge, ohne zu zögern. »Und das …«, er zeigte auf Johannas linken Daumen und Zeigefinger,»… sind Einheiten für die Zehner.«

»Gut. Und an der rechten Hand?«

»Diese hier bedeuten Hunderter, und die hier Tausender.« Er hob die entsprechenden Finger, um seine Worte zu veranschaulichen.

»Also gut. Welche Zahlen möchtest du malnehmen?«

»Zwölf, denn so viele Jahre bin ich alt. Und …«, er dachte einen Moment nach, »… dreihundertfünfundsechzig, denn so viele Tage hat das Jahr!« sagte er mit sichtlichem Stolz, zeigen zu können, was er außer Rechnen sonst noch gelernt hatte.

»Also zwölf mal dreihundertfünfundsechzig. Einen Augenblick …«, Johannas Finger bewegten sich rasch, als sie das Ergebnis ausrechnete. »Das sind viertausenddreihundertundachtzig.«

Arn klatschte vor Freude in die Hände.

»Jetzt versuch du es«, sagte Johanna und führte die Berechnung noch einmal durch, langsamer diesmal, so daß der Junge die Möglichkeit hatte, jede ihrer Bewegungen nachzuahmen. Dann ließ sie ihn die Rechnung allein durchführen. »Sehr gut!« lobte sie ihn, als er es ohne Fehler geschafft hatte.

Arn grinste, erfreut über das Lob und begeistert von dem Spiel. Dann wurde sein rundes kleines Gesicht ernst. »Wie weit könnt Ihr damit kommen?« fragte er. »Geht das mit einem Hunderter und einem Tausender? Und einem Tausender und … noch einem Tausender?«

Johanna nickte. »Du mußt nur deine Brust berühren. So. Siehst du? Das sind jedesmal zehn mal tausend. Und wenn du dich am Oberschenkel berührst, sind es hundert mal tausend. Also …«, wieder bewegten sich ihre Finger, »tausend und einhundert mal zweitausend und dreihundert sind … zwei Millionen fünfhundert und dreißigtausend!«

|279|Vor Staunen riß Arn die Augen auf. Die Zahlen waren so gewaltig, daß er sie gar nicht begreifen konnte.

»Zeigt mir noch eine Aufgabe!« bettelte er. Johanna lachte. Es machte ihr Freude, den Jungen zu unterrichten, denn sein Wissensdurst war unstillbar. Arn erinnerte Johanna an sich selbst, als sie ein kleines Mädchen gewesen war. Was für eine Schande, dachte sie, daß dieser helle Funke der Intelligenz dazu verdammt ist, in der Finsternis der Unwissenheit zu erlöschen.

»Falls ich es einrichten kann«, sagte sie, »würdest du dann gern zur Klosterschule gehen? Du könntest dort weiterlernen – nicht bloß rechnen, sondern auch lesen und schreiben.«

»Lesen und schreiben?« fragte Arn fassungslos zurück. Diese außergewöhnlichen Fertigkeiten waren üblicherweise Priestern und mächtigen Fürsten vorbehalten und nicht für bettelarme kleine Jungen wie ihn gedacht. Besorgt fragte er: »Müßte ich dann Mönch werden?«

Johanna hätte am liebsten laut aufgelacht. Arn war in dem Alter, da Jungen ein starkes Interesse am anderen Geschlecht entwickelten; der Gedanke, ein Leben in Keuschheit führen zu müssen, war ihm sichtlich zuwider.

»Nein«, sagte Johanna. »Du würdest die Außenschule besuchen, an der Laienschüler unterrichtet werden. Aber dann müßtest du dein Zuhause verlassen und beim Kloster wohnen. Und es würde bedeuten, daß du hart lernen mußt; denn der Lehrmeister ist sehr streng. Möchtest du die Schule trotzdem besuchen, wenn ich es einrichten kann?«

Arn zögerte keinen Augenblick. »Oh, ja! Ja, bitte!«

»Also gut. Morgen kehren wir nach Fulda zurück. Dann werde ich mit dem Lehrmeister reden.«

 

»Endlich!« Bruder Benjamin atmete vor Erleichterung auf. Genau vor ihnen – dort, wo die steinige Straße sich mit dem Horizont vereinte – erhoben sich die kahlen grauen Mauern des Klosters zu Fulda; hinter der Abtei ragten die beiden Türme der Klosterkirche auf.

Die kleine Reisegruppe hatte die lange, ermüdende Strecke von Madalgis’ Hütte bis hierher hinter sich gebracht, doch die feuchte, kalte Luft hatte Benjamins Rheuma verschlimmert, so daß jeder Schritt eine Qual für ihn war.

»Jetzt sind wir bald am Ziel«, sagte Johanna. »In einer |280|Stunde sitzt Ihr im Aufwärmzimmer, die Beine hoch gelegt und die Füße vor dem Herd.«

In der Ferne kündeten ein Hornstoß und laute Rufe vom Herannahen der Reisenden; niemand konnte sich unbemerkt und unangemeldet den Toren Fuldas nähern. Als Madalgis die Geräusche hörte, drückte sie nervös ihren Säugling an die Brust. Johanna und Bruder Benjamin hatten alles getan, Madalgis zur nochmaligen Reise zum Kloster zu bewegen, und sie hatte nur unter der Bedingung eingewilligt, diesmal von allen ihren Kindern begleitet zu werden.

Sämtliche Brüder hatten sich im Eingangshof des Klosters versammelt, um die Ankömmlinge zu begrüßen; feierlich hatten die Mönche, ihrer Rangordnung entsprechend, Aufstellung genommen. Ganz vorn stand Abt Rabanus, in würdevoller Haltung und mit schimmerndem silbernem Haar.

Ängstlich schreckte Madalgis bei seinem Anblick zurück und versteckte sich hinter Johanna.

»Tritt vor«, sagte Rabanus.

»Du brauchst keine Angst zu haben, Madalgis«, versicherte Johanna ihr. »Tu, was der Abt sagt.«

Madalgis trat vor und blieb zitternd inmitten der neugierigen, fremdartigen Versammlung stehen. Bei Madalgis’ Anblick durchliefen erstauntes Raunen und Gemurmel die Reihen der Bruderschaft. Die häßlichen Geschwüre und Entzündungen waren bis auf einige trockene, abheilende Stellen verschwunden; die sonnengebräunte Haut in Madalgis’ Gesicht und auf den Armen war wieder glatt und rein, wie frisch erblüht in der neu gewonnenen Gesundheit. Nun gab es keinen Zweifel mehr: Selbst der unerfahrenste Betrachter konnte erkennen, daß die Frau, die vor ihm stand, keine Aussätzige war.

»O Wunder! O Zeichen der göttlichen Gnade!« rief Bischof Otgar voller Ehrfurcht. »Wie Lazarus ist diese Frau von den Toten in die Welt der Lebenden zurückgekehrt!«

Nun drängten die Mönche sich um die Ankömmlinge und trieben die kleine Reisegruppe im Triumphzug zur Kirche.

Daß Johanna Madalgis geheilt hatte, wurde schlichtweg als Wunder betrachtet. Ganz Fulda stimmte in den Lobgesang auf Bruder Johannes Anglicus ein. Als Bruder Aldwin – ein älterer Mönch und einer der beiden Priester der Klostergemeinschaft – eines Nachts im Schlaf starb, gab es unter den Mönchen keinen Zweifel, wer sein Nachfolger werden sollte.

|281|Abt Rabanus jedoch war anderer Meinung. Johannes Anglicus hatte für sein Empfinden eine zu respektlose, ja, anmaßende Art und war ihm nicht unterwürfig genug. Der Abt gab Bruder Thomas den Vorzug, der zwar nicht die überragenden Geistesgaben des Johannes Anglicus besaß, wie jedermann wußte, der aber sehr viel berechenbarer war – eine Eigenschaft, die Rabanus schätzte.

Doch Bischof Otgar mußte noch in die Rechnung mit einbezogen werden. Der Bischof wußte, daß Gottschalk bei der Geißelung beinahe ums Leben gekommen wäre, und dieser Vorfall warf ein schlechtes Licht auf Rabanus. Falls der Abt bei seiner Entscheidung, wer neuer Priester werden sollte, Johannes Anglicus zugunsten eines weniger befähigten Bruders überging, konnte dies weitere Fragen aufwerfen, was Rabanus’ Amtsführung betraf. Und falls der König Schlechtes über ihn hörte, konnte es sein, daß er ihn als Abt ablösen ließ – ein undenkbarer Ausgang! Rabanus Maurus beschloß, bei der Wahl des Priesters Umsicht walten zu lassen – für den Augenblick jedenfalls.

Auf der Kapitelversammlung verkündete er: »Als euer geistiger Vater steht mir das Recht zu, aus euren Reihen einen Priester zu wählen. Nach vielen Gebeten und tiefer Selbstbesinnung habe ich mich für einen Bruder entschieden, der seiner großen Belesenheit und Gelehrsamkeit wegen hervorragend für dieses Amt geeignet ist: Bruder Johannes Anglicus.«

Beifälliges Gemurmel erhob sich in den Reihen der Bruderschaft. Johanna errötete vor Aufregung. Ich bin Priesterin! Sie konnte es kaum fassen, von nun an die heiligen Sakramente erteilen zu dürfen. Es war der Wunschtraum ihres Vaters gewesen, Matthias im Priesteramt zu sehen, und als Matthias starb, hatten alle seine Hoffnungen auf Johannes geruht. Was für eine Ironie des Schicksals, daß die Tochter ihm nun diesen Lebenstraum erfüllte!

Bruder Thomas, der auf der gegenüberliegenden Seite des Kapitelsaales saß, warf Johanna einen düsteren Blick zu. Das Priesteramt steht mir zu, dachte er verbittert. Und Rabanus hatte sich für mich entschieden! Hat er das nicht erst vor wenigen Wochen gesagt?

Doch alles hatte sich geändert, seit Johannes Anglicus die aussätzige Frau geheilt hatte. Es konnte einen rasend machen! Diese Madalgis war ein Nichts, ein Niemand, kaum mehr als |282|eine Sklavin. Was machte es schon aus, ob sie ins Leprosarium kam, in das Spital für die Aussätzigen – und ob sie lebte oder starb?

Daß Johannes Anglicus den Siegespreis davontragen sollte, war eine bittere Pille. Von Anfang an hatte Thomas ihn gehaßt – Johannes’ messerscharfen Verstand, seinen Humor und seine überlegene Schlagfertigkeit, die Thomas mitunter selbst zu spüren bekam; er hatte die Leichtigkeit gehaßt, mit der Johannes seine Lektionen gemeistert hatte. Thomas dagegen mußte sich abmühen. Er hatte sich schinden müssen, um die lateinische Sprache zu lernen und die Ordensregeln auswendig zu können. Doch was Thomas an geistiger Kraft fehlte, machte er durch Verbissenheit und das Bemühen wett, die äußeren Formen des Glaubens zu perfektionieren. Jedesmal, wenn Thomas seine Mahlzeiten beendete, achtete er sorgfältig darauf, sein Messer und die Gabel als Tribut an das heilige Kreuz Christi senkrecht auf den Tisch zu legen. Und niemals trank er seinen Wein auf einen Zug, wie die anderen, sondern nippte bedächtig daran, nahm immer nur ehrfurchtsvoll drei kleine Schluck hintereinander, als fromme Veranschaulichung des Wunders der Heiligen Dreifaltigkeit. Johannes Anglicus gab sich niemals auch nur die geringste Mühe, was solche demutsvollen Handlungen betraf.

Thomas starrte seinen Rivalen düster an, der mit seinem wunderschönen Heiligenschein aus weißgoldenem Haar beinahe wie ein Engel aussah. Möge die Hölle ihn in ihrem ewigen Feuer verschlingen, wie auch den verfluchten Leib, der ihn hervorgebracht hat!

Das Refektorium – der Speisesaal der Mönche – war ein großes, gut fünfzehn Meter breites und über dreißig Meter langes Gebäude mit Wänden aus behauenem Stein; das Bauwerk war deshalb so riesig, um allen dreihundertundfünfzig Mönchen, die zur Bruderschaft Fulda zählten, gleichzeitig Platz bieten zu können. Mit seinen sieben hohen Fenstern an der Süd- und den sechs Fenstern an der Nordseite, die während des ganzen Jahres das Sonnenlicht hindurchließen, zählte das Refektorium zu den freundlichsten Räumen im ganzen Kloster. Die breiten Holzbalken und die Pfetten – die Dachstuhlbalken, auf denen die Sparren auflagen, waren farbenfroh mit Szenen aus dem Leben des heiligen Bonifatius bemalt, dem Schutzheiligen Fuldas; die Bilder unterstrichen den Eindruck |283|der Helligkeit und Weite, so daß der Raum jetzt, während der kurzen, kalten Tage des Winduminmanoth, ebenso freundlich wirkte wie im Sommer.

Es war zwölf Uhr, zur sechsten Stunde. Die Brüder hatten sich im Refektorium versammelt, um ihr Mittagessen zu sich zu nehmen, die erste der beiden täglichen Mahlzeiten; denn laut der Benediktinerregel war neben der einen Hauptmahlzeit am Mittag nur ein kalter Imbiß am Abend vorgesehen. Abt Rabanus saß an dem langen, U-förmigen Tisch, der sich in der Mitte der nach Osten gelegenen Wand befand. Rabanus wurde zur Rechten wie zur Linken von jeweils zwölf Mönchen flankiert, welche die Apostel Christi versinnbildlichten. Auf dem langen Brettertisch standen schlichte Teller mit Brot, Hülsenfrüchten und Käse. Mäuse huschten über den festgestampften lehmigen Fußboden, auf der verstohlenen Suche nach Brotkrumen und Speiseresten, die zu Boden gefallen waren.

Gemäß der Regel des heiligen Benedikt, nahmen die Brüder ihre Mahlzeiten stets schweigend ein. Dieses strenge Schweigegebot wurde nur vom Klingen metallener Messer und Becher sowie der Stimme des Lektors unterbrochen, der für diese Woche bestimmt worden war; er stand an der Kanzel und las aus den Psalmen oder aus dem Leben der Kirchenväter. »So, wie der sterbliche Körper irdische Speisen zu sich nimmt«, pflegte Abt Rabanus zu sagen, »soll die Seele sich an geistiger Nahrung laben.«

Das regulum taciturnitats, oder das Schweigegebot, war jedoch ein Ideal, das zwar von allen anerkannt, aber nur von wenigen befolgt wurde. Die Brüder hatten ein kunstvolles System der Zeichensprache ausgearbeitet – Gesten mit der Hand oder dem Gesicht –, das sie bei den Mahlzeiten benutzten. Auf diese Weise konnten regelrechte Gespräche geführt werden, besonders, wenn der Lektor – wie in dieser Woche – ein Langweiler war. Bruder Thomas las auf eine angestrengte, gekünstelte Weise, der es vollkommen an Leidenschaft mangelte und bei der die beschwingte Poesie der Psalmen nicht zum Tragen kam; Thomas war sich dieser Mängel durchaus bewußt und versuchte, sie durch Lautstärke wettzumachen, doch seine Stimme schmerzte seinen Mitbrüdern lediglich in den Ohren. Abt Rabanus bat Bruder Thomas häufig, bei Tisch zu lesen, wobei er ihn den besseren und erfahreneren Lektoren des Klosters vorzog; denn, wie Rabanus es ausdrückte: »Eine |284|zu süße Stimme lädt die Dämonen dazu ein, ins Herz zu kommen.«

»Pssst.« Der gedämpfte Laut erregte Johannas Aufmerksamkeit. Sie schaute von ihrem Teller auf und sah, wie Bruder Adalgar ihr über den Tisch hinweg Zeichen gab.

Adalgar hielt vier Finger in die Höhe. Die Zahl bezeichnete ein Kapitel aus den Regeln des heiligen Benedikt, die ein häufig benutztes Instrument für diese Art der klösterlichen Verständigung waren, da sie Mißverständnissen und unnötiger Weitschweifigkeit vorbeugten.

Johanna rief sich die einleitenden Zeilen des vierten Kapitels ins Gedächtnis: »Omnes supervenientes hospites tamquam Christus suscipiantur«, lauteten die Worte. »Mögen alle, die da kommen, wie Christus empfangen werden.«

Johanna begriff sofort, was Bruder Adalgar damit meinte. Ein Besucher war nach Fulda gekommen – eine wichtige Persönlichkeit; sonst hätte Bruder Adalgar sich gar nicht erst die Mühe gemacht, den Besucher zu erwähnen. Im Kloster Fulda wurden täglich ein Dutzend und mehr Gäste empfangen, Reiche und Arme, Pilger in Pelzen, Bettler in Lumpen und müde Reisende, die zum Kloster kamen, weil sie sicher sein konnten, nicht abgewiesen zu werden, sondern einige Tage Ruhe, Unterkunft und Verpflegung zu bekommen, bevor sie sich wieder auf den Weg machten.

Johannas Neugier war geweckt. »Wer?« fragte sie, indem sie leicht die Brauen hob.

In diesem Moment gab Abt Rabanus das Zeichen, das Mahl zu beenden. Die Mönche erhoben sich gleichzeitig von den Bänken und nahmen in der Reihenfolge ihres Ranges Aufstellung. Als sie im Gänsemarsch das Refektorium verließen, wandte Bruder Adalgar sich noch einmal Johanna zu.

»Parens«, gab er ihr zu verstehen und zeigte nachdrücklich mit dem Finger auf sie. »Ein Elternteil von dir.«

 

Mit den bedächtigen Schritten und der heiteren, gelassenen Miene, wie sie einem Mönch des Klosters zu Fulda anstand, folgte Johanna den Brüdern aus dem Refektorium. Nichts in ihrer äußeren Erscheinung verriet ihre tiefe innere Erregung.

Konnte Bruder Adalgar tatsächlich recht haben? War einer ihrer Eltern nach Fulda gekommen? Aber wer? Die Mutter oder der Vater? Oder vielleicht beide? Parens, hatte Adalgar ihr |285|stumm zu verstehen gegeben, was auf das männliche Geschlecht hindeutete. Demnach war ihr Vater ins Kloster gekommen. Doch er würde nicht damit rechnen, Johanna anzutreffen, sondern ihren Bruder Johannes. Der Gedanke erfüllte Johanna mit Schrecken. Falls der Vater den Schwindel entdeckte, würde er sie mit Sicherheit bloßstellen.

Vielleicht aber war die Wortwahl »parens« ohne Bedeutung. Bruder Adalgar beherrschte die lateinische Sprache nur mittelmäßig. Vielleicht ist Mutter nach Fulda gekommen, sagte sich Johanna. Und sie würde mein Geheimnis niemals verraten. Sie weiß bestimmt, daß eine solche Enthüllung mich das Leben kosten würde.

Mama. Zehn Jahre waren vergangen, seit Johanna sie das letzte Mal gesehen hatte, und ihre Trennung war unschön und schmerzhaft gewesen. Plötzlich wünschte Johanna sich mehr als alles andere, das vertraute, geliebte Gesicht Gudruns zu sehen; sie wollte die Mutter in den Armen halten und von ihr gehalten werden; sie wollte Gudrun wieder in der melodischen alten Sprache ihres Volkes sprechen hören.

Bruder Samuel, der für die Gäste zuständige hospitarius, fing Johanna ab, als sie das Refektorium verließ.

»Du bist heute Nachmittag von deinen Pflichten entbunden. Es ist jemand gekommen, der dich sehen möchte.«

Hin und her gerissen zwischen Furcht und Hoffnung, erwiderte Johanna nichts.

»Schau nicht so ernst drein, Bruder. Es ist ja nicht der Teufel gekommen, um sich deine unsterbliche Seele zu holen.« Bruder Samuel lachte herzhaft. Er war ein gutmütiger, väterlicher Mann, der gern scherzte und lachte. Jahrelang hatte Abt Rabanus ihn dieses Charakterzugs wegen gescholten und bestraft, hatte es dann aber schließlich aufgegeben und Samuel zum hospitarius ernannt; eine Aufgabe, für deren eher weltliche Pflichten – darunter die Begrüßung und Bewirtung der Gäste – Bruder Samuel hervorragend geeignet war.

»Dein Vater ist hier«, sagte Bruder Samuel fröhlich und erfreut darüber, Johanna eine so gute Nachricht überbringen zu können. »Er wartet im Garten, um dich zu begrüßen.«

Die Angst ließ Johannas Maske der Selbstbeherrschung zerbröckeln. Sie wich zurück und schüttelte den Kopf. »Ich möchte ihn nicht sehen. Ich … ich kann nicht.«

Das Lächeln schwand von Bruder Samuels Lippen. »Na, hör |286|mal, Bruder, das kann doch nicht dein Ernst sein. Dein Vater hat die weite Reise von Ingelheim bis hierher auf sich genommen, um mit dir zu sprechen.«

Johanna mußte Bruder Samuel irgendeine Erklärung liefern. Sie dachte fieberhaft nach; dann sagte sie: »Es … herrscht böses Blut zwischen uns. Wir … haben uns gestritten, als ich … von zu Hause fortgegangen bin.«

Bruder Samuel legte Johanna den Arm um die Schultern. »Aber das ändert nichts daran, daß er dein Vater ist und die weite Reise gemacht hat. Es ist ein Gebot der Nächstenliebe, mit ihm zu sprechen, und wenn’s auch nur ein paar Worte sind.«

In diesem Fall konnte Johanna ihm nicht widersprechen, und so erwiderte sie nichts.

Bruder Samuel deutete ihr Schweigen als Zustimmung. »Komm. Ich führe dich zu ihm.«

»Nein!« Johanna streifte seinen Arm von ihren Schultern.

Bruder Samuel blickte sie verdutzt an. Auf diese Weise ging man mit dem hospitarius nicht um; immerhin zählte er zu den sieben Amtsträgern des Klosters, denen man Gehorsam schuldete.

»Deine Seele ist in Aufruhr, Bruder«, sagte Samuel scharf. »Du brauchst spirituelle Führung. Wir werden die Angelegenheit morgen in der Kapitelversammlung besprechen.«

Was kann ich nur tun? fragte Johanna sich verzweifelt. Es würde schwierig, wenn nicht gar unmöglich sein, die wahre Identität vor dem Vater zu verbergen. Doch eine Diskussion in der Kapitelversammlung käme ebenfalls einer Katastrophe gleich. Und es gab keine Entschuldigung für ihr Verhalten. Falls man sie des Ungehorsams bezichtigte, wie damals Gottschalk …

»Verzeiht mir meinen Mangel an Mäßigung, Nonnus«, sagte sie zu Samuel und benutzte dabei die respektvolle Anrede gegenüber einem älteren Bruder. »Aber Ihr habt mich zu sehr überrascht, und in meiner Verwirrung habe ich nicht daran gedacht, Euch die gebührende Achtung entgegenzubringen. Ich bitte Euch demütigst um Nachsicht.«

Die respektvolle Entschuldigung fiel auf fruchtbaren Boden. Der strenge Ausdruck schwand aus Samuels Gesicht und verwandelte sich in ein Lächeln. Für ihn war die Sache damit erledigt; er war kein nachtragender Mensch.

|287|»Ist schon gut, Bruder. Aber jetzt komm. Laß uns gemeinsam in den Garten gehen.«

 

Als sie vom Kreuzgang aus an den Viehställen, der Mühle und den Trockenöfen vorübergingen, schätzte Johanna rasch ihre Chancen ab. Als ihr Vater sie das letzte Mal gesehen hatte, war sie ein Mädchen von zwölf Jahren gewesen. In den darauffolgenden zehn Jahren hatte sie sich sehr verändert. Vielleicht würde ihr Vater sie ja doch nicht wiedererkennen. Vielleicht …

Sie gelangten in den Garten mit seinen ordentlichen Reihen von Anzuchtbeeten – dreizehn insgesamt. Die Zahl war sorgfältig gewählt worden, um die Zusammenkunft Christi mit den zwölf Aposteln beim letzten Abendmahl zu symbolisieren. Jedes der leicht erhöht angelegten Anzuchtbeete war genau sieben Fuß breit; auch dies war wichtig, denn sieben stand für die Zahl der Gaben des Heiligen Geistes und versinnbildlichte die Ganzheit aller erschaffenen Dinge.

Im hinteren Teil des Gartens, zwischen den Beeten mit Gartenkresse und Kerbel, stand Johannas Vater. Er hatte ihnen den Rücken zugewandt. Sein kleiner, untersetzter Körper, der dicke Hals und die straffe Haltung kamen Johanna auf Anhieb vertraut vor. So tief es ging, zog sie den Kopf in die große Kapuze ihres Mönchsgewandes, so daß der schwere Stoff ihr weit in die Stirn hing und ihr Haar sowie einen Gutteil des Gesichts vollständig verdeckte.

Als er die Schritte hörte, drehte der Dorfpriester sich um. Sein dunkles Haar und die buschigen Brauen, die bei Johanna einst ein solches Entsetzen hervorgerufen hatten, waren vollständig grau geworden.

»Deus tecum.« Bruder Samuel gab Johanna einen aufmunternden Klaps auf den Rücken. »Gott sei mit dir.« Dann ließ er Vater und Tochter allein.

 

Zögernd, mit stockenden Schritten, kam Johannas Vater durch den Garten. Er war kleiner, als sie ihn in Erinnerung hatte. Erstaunt sah sie, daß er einen Gehstock benutzte. Als er näher kam, wandte Johanna sich ab und bedeutete ihm schweigend, ihr zu folgen. Sie führte ihn aus dem grellen, unbarmherzigen Licht der Mittagssonne in die fensterlose Kapelle, die an den Garten grenzte. Im Innern dieses kleinen Gotteshauses würde das Halbdunkel Johanna einen besseren Schutz gewähren. |288|Nachdem sie die Kapelle betreten hatte, wartete sie, bis ihr Vater sich auf eine der Bankreihen gesetzt hatte. Dann nahm sie selbst Platz und setzte sich an das andere Ende der Bankreihe, wobei sie ständig den Kopf gesenkt hielt, so daß der Vater ihr Profil nicht erkennen konnte.

»Pater noster qui es in coelis, sanctificetur nomen tuum …« Ihr Vater begann das Vaterunser. Seine gefalteten Hände zitterten; offenbar war eine Schüttellähmung der Grund dafür. Seine Stimme war kraftlos geworden und schwankte leicht; es war die Stimme eines alten Mannes. Johanna fiel in sein Gebet ein, und ihrer beiden Worte hallten dumpf in der kühlen, winzigen Kapelle mit ihren steinernen Wänden.

Als sie das Gebet beendet hatten, saßen beide eine Zeitlang schweigend da.

»Mein Sohn«, sagte der Dorfpriester schließlich, »du hast dich gut gemacht. Der Bruder Hospitarius hat mir gesagt, daß du zum Priester ernannt werden sollst. Du hast unserer Familie Ehre gebracht – so, wie ich es einst von deinem Bruder erhofft hatte.«

Matthias. Johanna betastete das hölzerne Medaillon der heiligen Katharina, das Matthias ihr vor so langer Zeit geschenkt hatte und das sie ständig um den Hals trug.

Ihr Vater bemerkte die Handbewegung.»Meine Augen sind schwach geworden, Sohn. Was ist das für ein Medaillon? Ist es das deiner Schwester Johanna?«

Johanna ließ das Medaillon los und verfluchte im stillen ihre Unachtsamkeit; sie hätte daran denken müssen, das Medaillon versteckt zu halten.

»Ich habe es als Erinnerungsstück an mich genommen, als … hinterher.« Johanna brachte es nicht fertig, über die Greuel zu sprechen, die sie bei dem Angriff der Normannen erlebt hatte.

»Ist deine Schwester gestorben, ohne daß sie … geschändet wurde?«

Johanna hatte plötzlich das Bild Gislas vor Augen, wie sie vor Schmerz und Angst schrie, während die Normannen ihr einer nach dem anderen Gewalt antaten.

»Sie ist unberührt gestorben.«

»Deo gratias.« Der Dorfpriester bekreuzigte sich. »Dann war es Gottes Wille. Johanna war ein starrköpfiges und unnatürliches Kind. Nie hätte sie ihren Frieden mit der Welt gemacht. Es ist besser so.«

|289|»Sie wäre anderer Meinung.«

Falls der Dorfpriester die Ironie in ihrer Stimme bemerkte, ließ er es sich nicht anmerken. »Johannas Tod hat deiner Mutter schreckliche Trauer bereitet.«

»Wie geht es meiner Mutter?«

Für einen langen Augenblick erwiderte der Dorfpriester nichts. Als er schließlich antwortete, war seine Stimme zittriger als zuvor.

»Sie ist fort.«

»Fort?«

»Zur Hölle gefahren«, sagte der Dorfpriester, »wo sie für alle Ewigkeit im Feuer brennen wird.«

»Nein.« Das plötzliche Begreifen schnürte Johanna beinahe die Kehle zu. »Nein.«

Nicht Mama mit ihrem wunderschönen Gesicht, den freundlichen Augen und den sanften Händen, die soviel Zärtlichkeit und Trost gespendet hatten – Mama, die sie geliebt hatte.

»Sie ist vor einem Monat gestorben«, fuhr der Dorfpriester fort, »ohne sich mit Christus ausgesöhnt und die Beichte abgelegt zu haben. Nein, zu ihren heidnischen Götzen hat sie gebetet! Als die Hebamme mir sagte, daß mein Weib sterben müsse, habe ich alles getan, was ich konnte, aber sie wollte das heilige Sterbesakrament nicht empfangen. Ich habe ihr die Hostie in den Mund geschoben, aber deine Mutter hat mich damit angespuckt.«

»Die Hebamme war bei ihr? Du willst damit doch nicht etwa sagen …« Ihre Mutter war über fünfzig Jahre und längst über das gebärfähige Alter hinaus. Nach Johanna hatte sie kein Kind mehr bekommen.

»Man hat mir nicht einmal erlaubt, sie auf dem Friedhof zu beerdigen. Nicht mit dem ungetauften Kind in ihrem Leib.« Er fing an zu weinen; tiefe, erstickte Schluchzer schüttelten seinen ganzen Körper.

Hat er sie doch geliebt? fragte sich Johanna. Ihr Vater hatte eine seltsame Art gehabt, seine Liebe zu zeigen – mit seinen wilden Zornesausbrüchen, seiner Grausamkeit und seiner Begierde, dieser selbstsüchtigen Begierde, die Gudrun letztendlich das Leben gekostet hatte.

Die Schluchzer des Dorfpriesters verstummten allmählich, und er begann das Totengebet zu sprechen. Diesmal fiel Johanna nicht ein. Leise, kaum zu vernehmen, sprach sie den |290|heiligen Eid und rief den geheiligten Namen Thors des Donnerers an, genau so, wie ihre Mutter es sie vor langer Zeit gelehrt hatte.

Schließlich räusperte ihr Vater sich unbehaglich. »Da wäre noch eine Sache, Johannes. Die Mission in Sachsen … meinst du … ob die Brüder bei der Arbeit mit den Heiden wohl meine Hilfe gebrauchen könnten?«

Johanna war zutiefst erstaunt. »Und was ist mit deinen Aufgaben in Ingelheim?«

»Weißt du, in Ingelheim ist meine Stellung … problematisch geworden. Das … Unglück, das vor kurzem geschehen ist … mit deiner Mutter …«

Plötzlich begriff Johanna. Die Einschränkungen für verheiratete Priester, auf deren Einhaltung man während der Regierungszeit Karls des Großen nur halbherzig geachtet hatte, waren von seinem Sohn Ludwig, dem derzeitigen Herrscher, dessen religiöser Fanatismus ihm den Beinamen »der Fromme« eingetragen hatte, erheblich verschärft worden. Auf der Synode, die kürzlich in Paris stattgefunden hatte, waren sowohl die Theorie als auch die Praxis des priesterlichen Zölibats erheblich untermauert worden. Gudruns Schwangerschaft, der sichtbare Beweis dafür, daß es dem Dorfpriester an Keuschheit mangelte, hätte zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt eintreten können.

»Hast du deine Stellung verloren?« fragte Johanna.

Widerwillig nickte ihr Vater. »Aber, Deo volente, ich habe die Kraft und das Können, Gottes Werk dennoch zu verrichten. Wenn du bei Abt Rabanus vielleicht ein gutes Wort für mich einlegen könntest …?«

Johanna erwiderte nichts. Zu sehr war sie von Trauer, Zorn und Schmerz erfüllt; in ihrem Herzen war kein Platz mehr für Mitgefühl dem Vater gegenüber.

»Du gibst mir keine Antwort. Du bist stolz geworden, mein Sohn.« Er stand auf, und seine Stimme nahm wieder ein wenig von ihrem alten, herrischen Beiklang an. »Denke daran, daß ich es war, der dich an diesen Ort gebracht hat und dem du deine jetzige Stellung im Leben verdankst. Hoffart kommt vor dem Sturz, und Hochmut kommt vor dem Fall. Buch der Sprichwörter, Vers sechzehn.«

Heftig erwiderte Johanna: »Es ist gut für den Mann, keine Frau zu berühren. Erster Brief an die Korinther, Vers sieben.«

|291|Ihr Vater hob den Gehstock, um Johanna damit zu schlagen, doch bei der Bewegung verlor er das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Johanna streckte die Hand aus, um ihm zu helfen. Er packte die Hand und zog sie zu sich hinunter, hielt sie ganz fest.

»Mein Sohn«, erklang seine bittende, tränenerstickte Stimme in Johannas Ohr, »mein Sohn. Verlasse mich nicht. Du bist alles, was ich noch habe.«

Angewidert riß Johanna sich los und wich so hastig vor ihm zurück, daß ihr die Kapuze vom Kopf rutschte und ihr Gesicht enthüllte. Hastig streifte Johanna sie wieder über, doch es war zu spät.

Auf dem Gesicht des Dorfpriesters lag ein Ausdruck fassungslosen Wiedererkennens. »Tochter der Eva, was hast du getan? Wo ist dein Bruder Johannes?«

»Er ist tot.«

»Tot?«

»Er wurde in der Kirche zu Dorstadt von Normannen erschlagen. Ich habe versucht, ihn zu retten, aber …«

»Hexe! Schändliches Luder! Dämonin aus der Hölle!« Hastig bekreuzigte er sich.

»Vater, bitte, laß mich erklären …«, bat Johanna verzweifelt. Sie mußte ihn beruhigen, bevor seine laute, erhobene Stimme die Aufmerksamkeit der Mitbrüder erregte.

Der Dorfpriester packte seinen Gehstock und kämpfte sich unbeholfen auf die Beine. Er zitterte am ganzen Körper. Johanna trat auf ihn zu und wollte ihm helfen, doch er stieß sie zurück und sagte anklagend: »Du hast schon deinen älteren Bruder getötet. Hättest du nicht wenigstens den jüngeren verschonen können?«

»Ich habe Johannes geliebt, Vater. Nie hätte ich ihm ein Leid angetan. Es waren die Normannen! Ohne Vorwarnung sind sie mit Schwertern und Äxten über uns hergefallen.« Sie schluckte schwer, um die Schluchzer zu ersticken, die ihr in der Kehle aufstiegen. Sie mußte weiterreden, mußte ihm erklären, wie es wirklich gewesen war. »Johannes hat zu kämpfen versucht, aber die Normannen haben jeden getötet, jeden. Sie …«

Er wandte sich zur Tür. »Ich muß dem ein Ende machen. Ich muß dir Einhalt gebieten, bevor du noch mehr Unheil anrichtest.«

|292|Sie packte seinen Arm. »Tu’s nicht, Vater! Bitte! Man wird mich töten, wenn man erfährt, daß ich kein …«

Wutentbrannt fuhr er zu ihr herum. »Teuflischer Wechselbalg! Wärst du doch im heidnischen Leib deiner Mutter gestorben, bevor sie dich zur Welt brachte!« Er versuchte, Johanna abzuschütteln, und sein Gesicht lief beängstigend rot an. »Laß mich los!«

Verzweifelt klammerte Johanna sich am Arm des Vaters fest. Falls er durch die Tür der Kapelle gelangte, war ihr Leben verwirkt.

»Bruder Johannes?« erklang eine Stimme aus dem Türeingang. Es war Bruder Samuel. Auf seinem gutmütigen Gesicht spiegelte sich Besorgnis. »Stimmt etwas nicht?«

Erschreckt löste sich Johannas Griff ein wenig. Sofort riß ihr Vater den Arm los und ging schwankend zu Bruder Samuel hinüber.

»Bringt mich zu Abt Rabanus. Ich muß ihm … muß ihm …« Plötzlich hielt er inne. Auf seinem Gesicht lag ein verwirrter, erstaunter Ausdruck.

Mit dem Dorfpriester war eine erschreckende Veränderung vor sich gegangen. Seine Haut hatte ein noch tieferes Rot angenommen, und sein Gesicht war eigenartig verzogen. Das Lid des rechten Auges war beinahe geschlossen, während das linke weit aufgerissen war, und der Mund war gräßlich verzerrt.

»Vater?« Zögernd trat Johanna auf ihn zu und streckte die Hand aus.

Er versuchte, sich auf sie zu stürzen. Sein rechter Arm zuckte wild, als hätte er ihn nicht mehr unter Kontrolle.

Entsetzt wich Johanna zurück.

Ihr Vater rief irgend etwas Unverständliches; dann kippte er nach vorn wie ein gefällter Baum.

Bruder Samuel rief nach Hilfe. Sofort erschienen fünf Mönche im Türeingang der Kapelle.

Johanna kniete neben ihrem Vater und hielt ihn in den Armen. Sein Kopf ruhte schwer und schlaff an ihrer Schulter; sein dünnes graues Haar ringelte sich zwischen ihren Fingern. Als Johanna ihm in die Augen blickte, sah sie schockiert, daß sich unversöhnlicher, boshafter Haß darin spiegelte.

Die Lippen seines gräßlich verzerrten Mundes bewegten sich, als er zu sprechen versuchte. »M … m … m …«

|293|»Nicht reden«, sagte Johanna leise. »Das macht es nur schlimmer. Für dich und für mich.«

Mit lodernder Wut starrte er sie an, und mit einer letzten, explosiven Kraftanstrengung spie er ein einziges Wort hervor. »Mulier!«

Weib!

Wild warf er den Kopf von einer Seite zur anderen; dann ging plötzlich ein Ruck durch seinen Körper; er lag regungslos da, und seine leeren Augen starrten ins Nichts.

Johanna beugte sich über ihn, um festzustellen, ob noch Atem über seine verzerrten Lippen kam, und ob an der Halsschlagader noch sein Puls zu fühlen war. Doch nach wenigen Augenblicken richtete sie sich auf und drückte ihm die Lider zu. »Er ist tot.«

Bruder Samuel und die anderen Mönche bekreuzigten sich.

»Ich glaube, er hat noch irgend etwas gesagt, bevor er starb, nicht wahr, Bruder Johannes?« fragte Samuel. »Hast du es verstanden?«

»Er … hat die heilige Jungfrau Maria angerufen.«

Bruder Samuel nickte verständig. »Ein frommer Mann.« Er wandte sich den anderen zu. »Bringt ihn in die Kirche. Wir werden seinen Leichnam mit aller gebotenen Feierlichkeit für die Beisetzung vorbereiten.«

 

Terra es, terram ibis. Die Mönche nahmen mit den Händen Erde auf und warfen sie ins Grab; dunkle, feuchte Klumpen, die sich ungleichmäßig auf dem glatten Deckel des Sarges verteilten, in dem Johannas verstorbener Vater ruhte.

Er hatte sie sein Leben lang gehaßt. Selbst als sie ein kleines Mädchen gewesen war – noch bevor die Gefechtslinien zwischen ihnen gezogen waren –, hatte Johanna ihm kaum mehr entlocken können als eine widerwillige, griesgrämige Duldung ihrer Existenz. Für ihren Vater war sie nie mehr als ein dummes, nichtsnutziges Mädchen gewesen.

Dennoch war Johanna entsetzt darüber, wie bereitwillig er ihre Identität preisgegeben und sie einem schrecklichen Schicksal überantwortet hätte. Ohne zu zögern hätte er die eigene Tochter in einen grausamen Tod geschickt. Hätte ihn nicht plötzlich der Schlag getroffen, hätte er Johanna zweifellos verraten.

Doch als sich nun die schwere, dunkle Erde auf dem Sarg |294|häufte, verspürte Johanna eine seltsame und unerwartete Melancholie. Sie konnte sich an keine Zeit in ihrem Leben erinnern, da sie ihren Vater nicht gefürchtet, verabscheut, ja, gehaßt hatte. Trotzdem verspürte sie nun ein eigenartiges Gefühl des Verlusts. Matthias, Johannes, Mama – sie alle gab es nicht mehr. Ihr Vater war Johannas letztes Bindeglied an zu Hause gewesen – und an das kleine Mädchen, das sie einst gewesen war. Jetzt gab es keine Johanna von Ingelheim mehr; jetzt gab es nur noch Johannes Anglicus, Priester und Mönch im Benediktinerkloster zu Fulda.