Die Wiese schimmerte im trüben grauen Licht der frühen Morgendämmerung; sie wurde von einem silberglänzenden Bach durchschnitten, der sich in anmutigen Windungen durch das hohe Gras schlängelte. Eine Szenerie, die so gar nicht zu einer Schlacht paßt, dachte Gerold bedrückt, als er den Blick über die malerische Landschaft schweifen ließ.
Kaiser Ludwig der Fromme war noch nicht einmal seit einem Jahr tot, doch die schwelende Feindschaft zwischen seinen drei Söhnen hatte sich bereits zu einem verheerenden Bürgerkrieg ausgeweitet. Der älteste, Lothar, hatte den Kaisertitel geerbt; doch die Ländereien des Kaiserreichs wurden zwischen Lothar und seinen beiden jüngeren Brüdern Karl und Ludwig aufgeteilt – eine unkluge und gefährliche Regelung, die bei den drei Söhnen für Unzufriedenheit gesorgt hatte. Dennoch hätte der Krieg vermieden werden können, wäre Lothar ein besserer Diplomat gewesen. Doch er war von Natur aus gebieterisch und herrschsüchtig und behandelte seine jüngeren Brüder mit einer solchen Herablassung, daß diese sich verbündet und offen gegen Lothar erhoben hatten. Und hier, in Fontenoy, war nun der vorläufige Schlußpunkt erreicht. Die drei Brüder aus königlichem Geblüt waren entschlossen, ihren erbitterten Streit mit Blut und Schmerzen zu beenden.
Nach eingehender Gewissensprüfung hatte Gerold beschlossen, sein Schicksal mit dem Kaiser Lothars zu verknüpfen. Natürlich kannte er Lothars Fehler und Charakterschwächen nur zu gut, doch als der gesalbte Kaiser war Lothar die einzige Hoffnung auf ein geeintes fränkisches Reich. Die Teilungen, durch die das Land im vergangenen Jahr zerstückelt worden war, hatten einen schrecklichen Tribut gefordert: Die Normannen hatten sich die Schwächung des Frankenreiches zunutze gemacht, die durch den inneren Zwist und den Bruderstreit noch verstärkt worden war; ihre Raubzüge an der |296|fränkischen Küste wurden immer häufiger und gewalttätiger und hatten furchtbare Zerstörungen zur Folge. Falls Lothar hier, in Fontenoy, einen entscheidenden Sieg davontrug, hatten seine Brüder keine andere Wahl, als sich ihm zu unterwerfen und ihn zu unterstützen. Und ein Frankenreich, das von einem Despoten regiert wurde, war immer noch besser als gar kein Frankenreich; denn die Herrscher wechselten, das Reich aber blieb.
Die Trommeln wurden geschlagen und riefen die Männer zusammen. Lothar hatte eine Frühmesse befohlen, um seine Truppen vor der Schlacht zu ermutigen. Gerold verließ seinen einsamen Ort der Meditation und kehrte ins Lager zurück.
In Gewänder aus Gold gekleidet, stand der Bischof von Auxerre auf einem hohen, schweren Transportwagen, so daß alle ihn sehen konnten. »Libera me, Domine, de morte aeterna«, betete er in einem volltönenden, lauten Bariton, während Dutzende von Meßgehilfen zwischen den Männern umhergingen und die Hostien verteilten. Viele Soldaten waren coloni und Bauern ohne jede Erfahrung im Waffenkampf; zu normalen Zeiten hätte man sie aus dem kaiserlichen bannum ausgeschlossen, für das ein abgeleisteter militärischer Dienst die Voraussetzung war. Doch die Zeiten waren nicht normal. Viele Männer hatte man so hastig aus ihrem gewohnten Leben herausgerissen, daß ihnen kaum eine Stunde geblieben war, ihre Angelegenheiten zu regeln und sich von ihren Lieben zu verabschieden. Diese Männer nahmen die Hostie ängstlich und zerstreut entgegen. Sie wußten, daß sie kaum eine Chance hatten, die Schlacht zu überleben; aber sie waren noch nicht bereit zu sterben. Ihre Gedanken, Sehnsüchte und Wünsche waren noch immer fest auf die Dinge der diesseitigen Welt gerichtet – auf ihre Felder und das Vieh, auf die Freunde und Nachbarn, auf die kleinen Sorgen und Freuden des Alltags, auf das Leben mit ihren Frauen und Kindern – ein Leben, aus dem man diese Männer brutal herausgerissen hatte. Verwirrt und verängstigt, vermochten sie die schreckliche Tragweite ihres Schicksals noch immer nicht zu begreifen; sie konnten nicht fassen, daß sie auf diesem fremden Boden kämpfen und sterben sollten – für einen Kaiser, dessen Name bis vor wenigen Tagen nur ein fernes Echo in ihrem Leben gewesen war. Wie viele von diesen Unschuldigen, fragte sich Gerold, würden am heutigen Tag den Sonnenuntergang erleben?
|297|»O Herr der Heerscharen«, betete der Bischof zum Abschluß der Messe, »der du alle Gegner bezwingst, der du stets den Sieg davonträgst, gib uns den Schutz und den Schild deiner Hilfe, o Herr, und gewähre uns das Schwert deines Ruhmes, auf daß unsere Feinde vernichtet werden. Amen.«
»Amen.« Die Luft erbebte beim Klang tausender Stimmen. Einen Augenblick später schob sich das erste, winzige Stück der aufgehenden Sonnenscheibe über den Horizont, verströmte sein Licht über das Feld und ließ die Spitzen der Speere und Pfeile wie kostbare Geschmeide tiefrot funkeln. Ein donnernder Jubelschrei stieg aus rauhen Männerkehlen.
Der Bischof streifte sein Schultertuch ab und reichte es einem der Meßgehilfen. Dann löste er sein Meßgewand und ließ es zu Boden fallen. Darunter kam die Panzerrüstung eines Soldaten zum Vorschein: die brunia – die dicke, mit geschmolzenem Wachs getränkte Jacke aus Leder, an die kleine Platten aus Eisen genäht waren, sowie die bauga, die Beinschienen aus Metall.
Der Bischof will also mitkämpfen, dachte Gerold.
Genaugenommen untersagte es das Bischofsamt, das Blut eines anderen Menschen zu vergießen, doch in der Praxis wurde dieses fromme Ideal oft ignoriert: Bischöfe und Priester kämpften Seite an Seite mit ihren Königen, wie jeder andere Gefolgsmann auch.
Einer der Meßgehilfen reichte dem Bischof ein Schwert, in das ein Kreuz graviert war. Der Bischof reckte die Waffe in die Höhe, so daß deren goldenes Kreuz im Licht der aufgehenden Sonne schimmerte. »Gelobet sei Gott der Herr!« rief er. »Und nun vorwärts, ihr braven Christenmenschen! Auf in die Schlacht!«
Gerold befehligte den linken Flügel. Er hatte auf der Kuppe eines langgezogenen Hügels Stellung bezogen, der das südliche Ende des Schlachtfelds bildete. Auf der gegenüberliegenden Seite des Höhenzuges lagen die Truppen, über die Lothars Neffe Pippin das Kommando führte – ein riesiges, gut bewaffnetes Kontingent aus Aquitaniern. Die Mitte der Streitmacht, die von Lothar selbst befehligt wurde, hatte unmittelbar hinter den Bäumen Stellung bezogen, die den östlichen Rand des Schlachtfelds bildeten; diese Truppenteile standen der feindlichen Streitmacht direkt gegenüber.
|298|Gerolds rotbrauner Hengst warf den Kopf in den Nacken und wieherte ungeduldig. Sein Reiter beugte sich vor, rieb mit der Hand kräftig über den rostfarbenen Hals und besänftigte den Hengst, um die geballte Kraft des Tieres für den Angriff zu bewahren, der bald erfolgen mußte. »Nicht mehr lange, mein Junge«, murmelte Gerold beruhigend, »nicht mehr lange.«
Er warf einen prüfenden Blick zum Himmel. Es ging auf sechs Uhr, die erste Morgenstunde. Die Sonne, noch tief am Horizont, schien den Feinden genau in die Augen. Gut, dachte Gerold. Das ist schon mal ein Vorteil, den wir nutzen können. Ungeduldig schaute er zu Lothar hinüber und wartete auf das Zeichen zum Angriff. Doch eine Viertelstunde verging, und das Zeichen blieb aus. Die feindlichen Armeen standen sich zu beiden Seiten des Feldes gegenüber und hielten einander über die riesige grüne Grasfläche hinweg wachsam im Auge. Eine weitere Viertelstunde verging. Dann noch eine. Und noch eine.
Gerold trieb seinen Hengst an und ritt den Hügel hinunter bis zu den vordersten Linien der Vorhut. Dort, unter einem Himmel aus flatternden Bannern, saß Lothar auf seinem Streitroß.
»Warum zögert Ihr, Majestät? Die Männer werden unruhig. Sie wollen endlich angreifen.«
Verärgert spähte Lothar seine lange Nase entlang zum Feind hinüber. »Ich bin der Kaiser. Es ziemt sich nicht, daß ich zu meinen Feinden gehe. Sie sollen gefälligst zu mir kommen!« Der Kaiser mochte Gerold nicht; für Lothars Empfinden besaß der Markgraf einen zu eigenständigen und unabhängigen Geist – zweifellos eine Folgeerscheinung der vielen Jahre, die Gerold unter den Heiden und Barbaren im hohen Norden des Reiches verbracht hatte.
»Aber, mein König! Wir müssen die tiefstehende Sonne nutzen. Noch ist dieser Vorteil auf unserer Seite. In einer Stunde haben wir ihn nicht mehr.«
»Vertraut auf Gott, Graf Gerold«, erwiderte Lothar hochmütig. »Ich bin der vom Herrn gesalbte König; der Allmächtige wird mir den Sieg nicht verwehren.«
Lothars Stimme hatte einen Beiklang von Endgültigkeit, und Gerold erkannte, daß weitere Diskussionen überflüssig waren. Er verbeugte sich steif, wendete sein Pferd und ritt zurück auf den Hügelkamm.
|299|Vielleicht hatte Lothar recht, und Gott hatte tatsächlich die Absicht, ihnen den Sieg zuzusprechen. Aber durfte Gott nicht auch ein kleines bißchen Hilfe von den Menschen erwarten?
Es ging auf zehn Uhr am Vormittag; die Sonne stand hoch am Himmel. Verdammt, fluchte Gerold in sich hinein. Was, um Himmels willen, denkt Lothar sich eigentlich? Sie warteten jetzt seit beinahe vier Stunden. Die Sonne brannte nun erbarmungslos auf die eisernen Panzer und Helme hinunter und heizte das Metall so sehr auf, daß die Männer sich vor Unbehagen wanden, während der Schweiß ihnen über die Körper lief. Wer sich erleichtern mußte, der mußte es an Ort und Stelle tun; denn niemand durfte die Formation verlassen. Schwer lag der Geruch nach Exkrementen und Schweiß in der drückenden, von keinem Windhauch bewegten Luft.
In Anbetracht dieser beschwerlichen Lage beobachtete Gerold voller Erleichterung das Eintreffen eines Trupps aus Dienern, die Weinfässer auf die Hügelkuppe brachten. Gerolds Männern war heiß, und sie wurden von brennendem Durst gequält, so daß ein Becher kräftiger Wein jetzt genau das richtige war, um ihre zunehmend gedrückte Stimmung zu heben. Laute Jubelrufe ertönten, als die Diener durch die Reihen gingen und jedem Soldaten einen Becher mit schwerem fränkischem Wein reichten. Auch Gerold trank einen Becher und fühlte sich gleich sehr viel besser. Doch er gestattete weder sich selbst noch seinen Soldaten mehr als einen Becher: Ein kräftiger Schluck Wein konnte den Mut eines Mannes heben; zu viel Wein jedoch machte ihn leichtsinnig und unbesonnen, so daß er zu einer Gefahr für sich selbst und seine Kameraden wurde.
Lothar jedoch zeigte keine solchen Bedenken. Großmütig ermunterte er die Männer seiner Vorhut, weiter zu trinken. Bald darauf ertönten grölende Rufe, derbe Scherze und wildes Gelächter. Die Männer der Vorhut prahlten mit ihrer Waffenkunst, während sie versuchten, sich in eine gute Position zu bringen. Beim Kampf um die Ehre, in vorderster Reihe stehen zu dürfen, stolperten die Männer übereinander, schubsten und stießen sich wie ungeratene Jungen – und genau das waren sie im Grunde auch; denn abgesehen von einer Handvoll erfahrener Veteranen zählten die meisten Soldaten nicht mehr als achtzehn Jahre.
|300|»Sie kommen! Sie kommen!«
Der Ruf durchraste die Reihen. Das feindliche Heer rückte vor, zuerst noch langsam und bedächtig, damit die Fußsoldaten und Bogenschützen sich möglichst nahe bei den Berittenen halten konnten, die dicht vor ihnen gegen den Feind zogen. Es war ein majestätischer, feierlicher Anblick, der eher an eine religiöse Prozession erinnerte als an den Beginn einer Schlacht.
In Lothars Vorhut herrschte derweil ein wildes, hektisches Durcheinander. Männer krochen umher oder stießen und schubsten einander, um an ihre verstreut am Boden liegenden Speere und Schwerter, Schilde und Helme zu gelangen. Kaum hatten sie halbwegs Ordnung in ihre Reihen gebracht, ging die Reiterei des Feindes zum Angriff über und kam mit erschreckender Geschwindigkeit näher; der Boden erbebte unter den trommelnden Hufen, und ohrenbetäubender Donner brandete über das Feld.
Die Banner der kaiserlichen Vorhut hoben und senkten sich, gaben das Zeichen zum Gegenangriff. Lothars Reiterei sprengte voran; die Hufe der Pferde zerfetzten den samtenen grünen Wiesenboden und wirbelten Erde und Grassoden in die Höhe, während die Tiere mit vorgerecktem Hals dahinpreschten.
Gerolds Rotbrauner zerrte nervös an den Zügeln, und nur mit Mühe konnte er das Tier zurückhalten. »Noch nicht, mein Junge!« rief er. Gerold und seine Männer mußten noch warten; der linke Flügel sollte zuletzt in die Schlacht eingreifen – erst, wenn Lothars und Pippins Heeresteile die Schlacht aufgenommen hatten.
Wie zwei riesige Wogen bewegten die feindlichen Armeen sich aufeinander zu, beide etwa vierzigtausend Mann stark – der Stolz des fränkischen Adels ritt Knie an Knie in dicht geschlossenen Formationen von knapp tausend Meter Breite und ungefähr gleicher Tiefe.
Plötzlich brach mit wildem Geschrei eine Reitergruppe aus der kaiserlichen Formation aus. Die Männer spornten ihre Pferde zu einem ungeordneten Angriff an. Jeder wollte der vorderste Reiter sein, der den Feind vor den Augen des Kaisers als erster in den Kampf verwickelte.
Gerold beobachtete das Geschehen voller Zorn und Bedauern. Falls die Männer ihren Angriff fortführten, würden sie |301|den Bach, der das Schlachtfeld durchschnitt, zu früh erreichen. Dann mußten sie die Pferde durch das Wasser treiben, während der Feind sie vom festen Untergrund des gegenüberliegenden Ufers aus angreifen konnte.
Leichtsinnig vom vielen Wein und von jugendlichem Draufgängertum erfüllt, ritten die Männer geradewegs auf den Bach zu und prallten mit furchtbarer Wucht auf die Reihen des Feindes. Obwohl in erheblichem Nachteil, kämpften die kaiserlichen Soldaten mit verwegenem Mut. Sie mußten ihre Schläge und Stiche von unten führen, aus dem Bach heraus zum Ufer hoch, und noch dazu auf schwankendem Boden; denn ihre Pferde glitten auf den glatten Steinen im Bachbett immer wieder aus. Diejenigen, die der Feind aus dem Sattel holte, stürzten ins Wasser; viele wurden von den eigenen, panikerfüllten Pferden zu Tode getrampelt, da es den Männern nicht gelang, im Schlamm – und noch dazu in ihren schweren Rüstungen – wieder auf die Beine zu kommen.
Die Soldaten in den nachrückenden Reihen sahen, was vor ihnen geschah, doch sie stürmten zu schnell vor, als daß sie den Angriff noch hätten abbrechen können, ohne von den Kameraden hinter ihnen niedergeritten zu werden. So waren sie gezwungen, die schlammige Uferböschung hinunter ins schäumende Wasser zu springen, das nun rot von Blut wurde, wobei die Nachrückenden die Überlebenden der ersten Angriffswelle an das gegenüberliegende Ufer drückten, wo die Feinde sie von oben mit Speerstichen und Schwerthieben töteten.
Nur die Nachhut der Reiterei, in der sich nun auch Lothar befand, konnte rechtzeitig haltmachen; die Männer rissen ihre Pferde herum und flüchteten in Gegenrichtung über das Schlachtfeld – in wildem, undiszipliniertem Galopp, so daß sie in die Reihen der eigenen Fußsoldaten preschten, die hinter ihnen heranmarschiert kamen und sofort in wirre Unordnung gerieten; die Männer schleuderten ihre Waffen weg und warfen sich zur Seite, um nicht unter die wirbelnden Hufe der Pferde zu geraten.
Es war eine katastrophale Niederlage. Die einzige Hoffnung waren jetzt die beiden Flügel, die von Gerold und Pippin geführt wurden. Von den Höhenzügen aus konnten sie ihren Angriff hinter den Bach führen und sofort gegen Ludwigs Truppen im Zentrum des feindlichen Heeres losschlagen. Doch als |302|Gerold zum gegenüberliegenden Höhenzug schaute, sah er, daß Pippin und seine Aquitanier sich umgewandt hatten und mit dem Rücken zum Schlachtfeld kämpften. Offenbar hatte König Karl den Höhenzug auf der rechten Seite umrundet und Pippin von hinten attackiert.
Der rechte Flügel war verloren.
Verzweifelt schaute Gerold wieder nach vorn aufs Schlachtfeld. Die meisten von Ludwigs Soldaten hatten inzwischen den Bach durchquert und die Verfolgung Lothars und seiner flüchtenden Truppenreste aufgenommen. Dabei hatte Ludwig seine Reihen jedoch weit auseinandergezogen, so daß der König selbst für den Augenblick fast ungeschützt war. Die Chance stand eins zu tausend, doch eine noch so kleine Chance war besser als gar keine.
Gerold erhob sich in den Steigbügeln und reckte seine Lanze empor. »Vorwärts!« brüllte er. »Im Namen des Kaisers!«
»Es lebe der Kaiser!« Der Ruf erhob sich wie ein Donnerhall, als Gerold mit den Männern des linken Flügels den Hang hinunterstürmte – ein riesiger Keil, dessen Spitze genau auf den Punkt zielte, an dem König Ludwigs Standarte blutrot und blau im sommerlichen Sonnenlicht erstrahlte.
Der Trupp Soldaten, der in der Nähe des Königs geblieben war, strömte hastig zusammen, um einen Schutzwall zu bilden, doch Gerolds Angriffskeil sprengte die Mauer aus Leibern und schlug eine Bresche durch die feindlichen Reihen.
Gerold richtete die Lanze auf den ersten Gegner, einen Berittenen, und durchbohrte ihm mit einem so wuchtigen Stoß die Brust, daß der Schaft der Lanze zersplitterte. Der Mann stürzte kopfüber aus dem Sattel und riß die zerschmetterte Lanze mit zu Boden. Nur mit dem Schwert bewaffnet, stürzte Gerold sich voller wilder Entschlossenheit voran, hieb mit wuchtigen, weit ausholenden Schlägen nach links und rechts, stach und hackte sich den Weg frei in Richtung der flatternden Standarten des feindlichen Königs. Gerolds Männer griffen derweil von den Seiten und von hinten an und verbreiterten die Schneise, die zu Ludwig führte.
Langsam, Meter um Meter, wichen Ludwigs Wachen vor der Attacke zurück; Mann um Mann fiel unter den Streichen der Angreifer. Dann, von einem Augenblick zum anderen, war der Weg frei. Unmittelbar vor Gerold erhob sich die königliche Standarte: sechs rote Rosen auf blauem Untergrund. Davor |303|saß König Ludwig auf einem Schimmel. Gerold trieb seinen Braunen darauf zu.
»Ergebt Euch!« rief er, um den Kampfeslärm zu übertönen. »Ergebt Euch, und Ihr bleibt am Leben!«
Als Antwort schlug Ludwig mit dem Schwert zu. Gerold wehrte den Hieb ab, und verbissen kämpften sie Mann gegen Mann – ein Gefecht zweier Gegner, die sich an Kraft und Waffenkunst gleichwertig waren. Plötzlich stürzte in der Nähe ein Pferd zu Boden, von einem Pfeil getroffen, so daß Gerolds Brauner mit schrillem Wiehern scheute. Sofort nutzte Ludwig den kurzzeitigen Vorteil, indem er einen genau gezielten Hieb auf Gerolds Hals führte. Doch Gerold duckte sich und attackierte seinerseits: Unter dem vorgereckten Schwertarm Ludwigs hindurch stieß er dem Gegner die Klinge zwischen die Rippen.
Ludwig hustete; ein Schwall Blut schoß ihm aus dem Mund. Langsam kippte er zur Seite, rutschte aus dem Sattel und schlug dumpf auf den zerwühlten Boden, wobei sein rechter Fuß im Steigbügel hängenblieb.
»Der König ist tot!« riefen Gerolds Männer jubelnd. »Ludwig ist tot!« Der Ruf pflanzte sich fort, von Mann zu Mann, von Reihe zu Reihe.
Ludwigs Pferd stieg auf die Hinterläufe und ließ die Vorderhufe durch die Luft wirbeln. Dann preschte das Tier los und schleifte den Leichnam des Königs über den aufgerissenen Grasboden. Der runde fränkische Helm mit dem flachen Nasenschutz löste sich vom Kopf des Leichnams. Ein im Tod verzerrtes, breites, vollkommen unbekanntes Gesicht kam zum Vorschein.
Gerold fluchte. Es war der Trick eines Feiglings, eines Königs unwürdig: Der Tote war nicht Ludwig, sondern ein Doppelgänger, der wie der König selbst gerüstet und gekleidet war, um die Feinde zu täuschen.
Doch es blieb keine Zeit, mit dem Schicksal zu hadern, denn augenblicklich waren der überraschte Gerold und seine Männer von Ludwigs Truppen umringt. Indem sie einander die Flanken deckten, versuchten Gerold und seine Leute, durch einen massiven Gegenangriff den Ausbruch zu schaffen. Mit wilder Entschlossenheit kämpften sie sich bis zum äußeren Rand des Ringes vor.
Für einen winzigen Moment sah Gerold das Grün der Wiese, atmete die frische, würzig duftende Luft. Sie hatten |304|den Durchbruch fast geschafft! Nur noch wenige Meter, und das offene Feld und ein freier Fluchtweg lagen vor ihnen.
Plötzlich sprang ein feindlicher Soldat Gerold in den Weg und stellte sich ihm entschlossen entgegen. Mit raschem Blick schätzte Gerold den Gegner ab – ein großer Mann, massig, mit breiten Schultern und gewaltigen Armen, der unerschütterlich wie eine Eiche dastand und einen Streitkolben schwang, eine Waffe, deren Einsatz vor allem Kraft erforderte, aber nur wenig Geschick. Gerold täuschte mit dem Schwert einen Schlag auf die linke Körperseite an; als der Mann nach rechts auswich und den Streitkolben zum Gegenangriff hob, führte Gerold einen blitzschnellen Hieb auf den anderen Arm des Gegners und fügte ihm eine klaffende Wunde zu. Der Mann fluchte und wechselte den Streitkolben hastig in die linke Hand.
Von hinten erklang ein lautes, rauschendes Geräusch, wie das Schlagen von Vogelschwingen. Gerold spürte einen plötzlichen, betäubenden Schmerz im Rücken. Er blickte über die Schulter und sah den Schaft eines Pfeiles, der sich tief in seine rechte Schulter gebohrt hatte. Voller hilflosen Entsetzens beobachtete er, wie das Schwert ihm aus der Hand glitt, die mit einemmal kraftlos geworden war.
Der riesige Mann vor ihm hob den schweren Streitkolben zum Schlag. Gerold versuchte noch, dem Hieb zu entgehen, erkannte aber, daß es zu spät war.
Irgend etwas schien im Innern seines Kopfes zu explodieren, als der fürchterliche Hieb seinen Helm traf. Dann ließ undurchdringliche Schwärze die Welt um ihn herum versinken.
Die Sterne strahlten in erhabener Schönheit über dem dunklen, zerwühlten Schlachtfeld, das mit den Körpern der Gefallenen übersät war. Zwanzigtausend Mann, die am Morgen dieses Tages erwacht waren, lagen tot oder sterbend in der dunklen Nacht – Adelige, Gefolgsleute, Bauern, Handwerker, Ehemänner, Väter, Söhne, Brüder: Der einstige Stolz eines Kaiserreichs und die zerstörte Hoffnung auf seine Zukunft lagen in ihrem Blut.
Gerold bewegte sich und schlug die Augen auf. Für einen Moment lag er da und blickte zu den Sternen empor. Er konnte sich nicht erinnern, wo er sich befand oder was geschehen war. Ein süßlicher Geruch stieg ihm ihn die Nase, Übelkeit erregend und auf eine schreckliche Weise vertraut.
Gerold setzte sich auf. Die plötzliche Bewegung ließ grellen Schmerz in seinem Kopf explodieren, und dieser Schmerz brachte die Erinnerung zurück. Um ihn herum lagen die Leichen von Kriegern, tote Pferde, Schwerter, zerschlagene Schilde, abgetrennte Gliedmaßen, zerfetzte Banner – die gräßlichen Überreste einer Schlacht.
Von der Kuppe des Hügels, auf dem Karl und Ludwig ihre Lager bezogen hatten, drangen die Geräusche einer Siegesfeier herunter: trunkenes Grölen und rauhes Gelächter, die geisterhaft über die tiefe Stille des Schlachtfelds wehten. Das Licht der Fackeln, die die Sieger entzündet hatten, flackerte am Nachthimmel und erleuchtete das Feld von Fontenoy mit einem gespenstischen, fahlen Schein. Vom kaiserlichen Lager Lothars auf dem gegenüberliegenden Hügel kam kein einziger Laut, und kein Feuer brannte dort oben; finster und still lag der Hügel in der Nacht.
Lothar war geschlagen. Seine Truppen – oder was noch davon übrig war – hatten sich in kleinen Gruppen in die umliegenden Wälder geflüchtet und jede Deckung genutzt, die sie vor den feindlichen Verfolgern schützte.
Gerold erhob sich und kämpfte eine Woge der Übelkeit nieder. Einige Meter entfernt fand er seinen braunen Hengst. Das Tier hatte eine fürchterliche Wunde davongetragen; die Hinterläufe zuckten. Der Hengst hatte von unten einen Speerstoß in den Leib erhalten; die Eingeweide quollen aus der klaffenden Wunde hervor. Als Gerold sich dem Hengst näherte, schreckte er eine kleine dunkle Gestalt auf: ein räudiger, halbverhungerter Hund, der auf das Schlachtfeld gekommen war, um ein nächtliches Festmahl zu halten. Drohend wedelte Gerold mit den Armen, und der Hund wich knurrend und widerwillig zurück.
Gerold ließ sich neben dem Hengst auf die Knie nieder, streichelte seinen Hals und redete leise auf ihn ein. Bei der vertrauten Berührung ließ das gequälte Zucken der Hinterläufe nach, doch in den Augen des Tieres lagen Schmerz und Todesangst. Gerold zog sein Messer unter dem Gürtel hervor. Er drückte fest zu, um sicherzugehen, daß er die Ader durchtrennte, als er die Klinge über den Hals des Tieres zog. Dann hielt er den Kopf des Hengstes und sagte ihm leise, besänftigende Worte ins Ohr, bis das Zucken der Hinterläufe endete |306|und die verkrampften Muskeln unter dem glatten Fell sich im Tod unter Gerolds Händen entspannten.
Irgendwo hinter Gerold erklang Stimmengemurmel.
»He! Sieh mal! Der Helm hier müßte mindestens einen solidus bringen.«
»Laß ihn liegen«, sagte eine andere Stimme, tiefer und bestimmender. »Der ist nichts wert. Der hintere Teil ist gespalten. Siehst du das denn nicht, Dummkopf? Hier entlang, Leute. Sieht so aus, als wär’ da vorne mehr zu holen.«
Leichenfledderer. Die Schlacht hatte Diebe, Wegelagerer und anderes Lumpenpack von den Straßen und Wegen herbeigelockt, die ihre gewohnten Jagdgründe waren; denn die Toten waren eine leichtere Beute als die Lebenden. In der Dunkelheit huschten die Strolche wie Ratten über das Schlachtfeld und raubten den Gefallenen die Kleidung, die Rüstungen, die Waffen, die Ringe – alles, was von Wert war.
In Gerolds Nähe sagte eine Stimme: »Hier lebt noch einer!«
Das dumpfe Geräusch eines Schlages ertönte – und dann ein Schrei, der abrupt verstummte.
»Falls es noch mehr Überlebende gibt«, sagte eine andere Stimme, »dann macht es mit denen genauso. Wir können keine Zeugen gebrauchen, die uns hinterherschnüffeln, wenn sie am Leben bleiben.«
In wenigen Augenblicken würden die Plünderer Gerold erreicht haben. Für einen Moment stand er schwankend da; dann flüchtete er so leise er konnte in die Dunkelheit des Waldes, wobei er sich stets in den tiefen Schatten hielt.