|556|Anmerkungen der Verfasserin

Gab es Päpstin Johanna?

Päpstin Johanna zählt zu den faszinierendsten und außergewöhnlichsten Gestalten der abendländischen Geschichte – und zu denen, über die am wenigsten bekannt ist. Die meisten Leute haben noch nie von Päpstin Johanna gehört, und diejenigen, denen ihr Name geläufig ist, betrachten ihr Leben als Legende.

Doch über mehr als achthundert Jahre hinweg – von der Mitte des neunten bis ins siebzehnte Jahrhundert – war Johannas Pontifikat allgemein bekannt und wurde als historische Wahrheit akzeptiert. Im siebzehnten Jahrhundert jedoch unternahmen verschiedene Einrichtungen der katholischen Kirche, die sich wachsenden Angriffen durch den aufstrebenden Protestantismus ausgesetzt sah, einen gemeinschaftlichen Versuch, die peinlichen historischen Unterlagen über Johanna zu vernichten. Hunderte von Büchern und Manuskripten wurden vom Vatikan eingezogen. Wie wirkungsvoll diese Maßnahmen waren, wird schon dadurch ersichtlich, daß Johanna aus dem heutigen Bewußtsein praktisch verschwunden ist.

Die katholische Kirche führt derzeit zwei grundsätzliche Argumente ins Feld, die angeblich gegen Johannas Papstamt sprechen: zum einen das Fehlen jeglicher Erwähnung Johannas in zeitgenössischen Dokumenten, zum anderen der angebliche Mangel an ausreichendem zeitlichem Spielraum, um Johannas Pontifikat zwischen dem Ende der Amtszeit ihres Vorgängers, Papst Leo IV., und dem Beginn der Amtszeit ihres Nachfolgers, Papst Benedikt III., »unterzubringen«.

Diese Argumente sind jedoch alles andere als schlüssig. Es kann kaum verwundern, daß Johannas Name in keinen zeitgenössischen Dokumenten erscheint, wenn man bedenkt, wieviel Zeit der Kirche zur Verfügung stand – und wieviel Energie sie darauf verwendet hat –, jeden Hinweis auf Päpstin Johanna zu verwischen. Es kommt hinzu, daß Johanna im |557|neunten Jahrhundert gelebt hat, einem der dunkelsten des frühen »finsteren Mittelalters«; dies hat es der Kirche mit Sicherheit leichter gemacht, alle Spuren zu beseitigen, die Johanna als Päpstin hinterlassen hat. Im neunten Jahrhundert war das Analphabetentum weit verbreitet, was durch die außerordentliche Armut an schriftlichen Quellen unterstrichen wird. Deshalb muß man sich heute bei der wissenschaftlichen Erforschung dieser Epoche zumeist auf bruchstückhafte, unvollständige, verstreute, widersprüchliche und unzuverlässige Dokumente stützen. Es gibt keine Gerichtsakten, keine Unterlagen über Landvermessungen, keine Aufstellungen über Ernteerträge, kaum Tagebücher oder Aufzeichnungen über das tägliche Leben. Von einer höchst umstrittenen Handschrift abgesehen, dem Liber Pontificalis (das von einigen Wissenschaftlern als »propagandistisches Dokument« bezeichnet wurde), gibt es auch keine fortlaufende Liste der Päpste des neunten Jahrhunderts (und nicht nur des neunten) – wer sie waren, wann sie regierten, was sie bewirkt haben. Johannas Nachfolger beispielsweise, Papst Benedikt III., wird praktisch nur im Liber Pontificalis erwähnt – und dabei war er nicht das Ziel eines regelrechten Vernichtungsfeldzuges.

Doch ein uraltes Exemplar des Liber Pontificalis, in dem auch Johannas Pontifikat verzeichnet ist, existiert noch heute. Der Eintrag über Johanna stammt offensichtlich aus späterer Zeit und wurde unbeholfen in den Hauptteil des Textes eingefügt. Aber dies bedeutet keineswegs, daß der Bericht falsch ist; ein späterer Geschichtsschreiber, der von der Richtigkeit der Aussagen politisch weniger suspekter Chronisten überzeugt gewesen sein mag, fühlte sich möglicherweise moralisch verpflichtet, die »offizielle« Akte zu korrigieren. Der protestantische Historiker Blondel, der den Text im Jahre 1647 untersuchte, gelangte zu dem Schluß, daß die Einfügung über Johanna im 14. Jahrhundert vorgenommen wurde; dabei stützte er seine Meinung jedoch ausschließlich auf die Unterschiede in Stil und Handschrift – bestenfalls subjektive Einschätzungen. Was dieses Dokument betrifft, sind also wichtige Fragen offengeblieben. Wann wurde der fragliche Absatz geschrieben? Und von wem? Eine neuerliche Untersuchung dieses Textes unter Zuhilfenahme moderner Datierungsmethoden – ein Versuch, der bislang noch nicht unternommen wurde – könnte interessante neue Erkenntnisse erbringen.

|558|Daß Johanna in zeitgenössischen kirchlichen Dokumenten nicht erscheint, kann schwerlich verwundern. Die römischen Kleriker der damaligen Zeit hätten vor Entsetzen über die gewaltige Täuschung, der sie zum Opfer gefallen waren, zu allen Mitteln gegriffen, sämtliche schriftlichen Berichte über diese peinliche Episode zu verbergen. Sie hätten es sogar als ihre Pflicht betrachtet. Hinkmar beispielsweise, Erzbischof von Reims und Zeitgenosse Johannas, hat in seinen Briefen und Chroniken häufig Informationen zurückgehalten, die der Kirche Schaden hätten zufügen können. Selbst der große Theologe Alkuin schreckte nicht davor zurück, an der Wahrheit zu drehen; in einem seiner Briefe gesteht er, einen Bericht über die Unkeuschheit und den Ämterkauf durch Papst Leo III. vernichtet zu haben.

Insofern sind die schriftlichen Hinterlassenschaften von Johannas Zeitgenossen mit Vorsicht zu genießen. Dies gilt insbesondere für die römischen Prälaten, die ein starkes persönliches Interesse daran hatten, die Wahrheit zu unterdrücken. Bei den seltenen Gelegenheiten, da ein Pontifikat für ungültig erklärt wurde – wie es bei Johanna der Fall gewesen wäre, hätte man ihre weibliche Identität entdeckt –, wurden sämtliche bereits getroffenen Anordnungen, Erlasse und Entscheidungen des betreffenden Papstes automatisch null und nichtig. Sämtlichen Kardinälen, Bischöfen, Diakonen und Priestern, die von diesem Papst die Weihe empfangen hatten, wurden ihre Titel und Ämter aberkannt. Insofern kann es nicht verwundern, daß in den Dokumenten und Akten, die von diesen Männern geführt bzw. kopiert wurden, sich nirgends eine Erwähnung Johannas findet.

Um zu beobachten, auf welche Weise gut aufeinander abgestimmte Organe eines gleichermaßen rücksichtslosen wie effizienten Staatsapparates peinliche Beweise »verschwinden« lassen können, braucht man nur einen Blick auf Beispiele aus der heutigen Zeit zu werfen, etwa auf Nicaragua oder El Salvador. Erst Jahre später, nachdem die Zeit ein wenig Abstand zu den Vorfällen geschaffen hat, kommt die Wahrheit allmählich ans Licht – eine Wahrheit, die unter anderem von der unauslöschlichen mündlichen Überlieferung sowie späteren Zeitzeugen bewahrt wurde. Und in der Tat gibt es in späteren Jahrhunderten keinen Mangel an Quellenmaterial über Johannas Pontifikat. Der deutsche Historiker Friedrich Spanheim, der eine umfangreiche |559|Studie über dieses Thema verfaßt hat, zitiert nicht weniger als fünfhundert alte Manuskripte, die Berichte über Johannas Amtszeit enthalten; zu den Verfassern zählen so anerkannte Autoren wie Petrarca oder Boccaccio.

Heute wird Johanna von der katholischen Kirche als »Erfindung« protestantischer Reformer betrachtet, die darauf bedacht gewesen seien, die papistische Korruption zu enthüllen. Doch Johannas Geschichte wurde bereits Jahrhunderte vor Martin Luthers Geburt niedergeschrieben. Außerdem waren die meisten Chronisten Johannas Katholiken, die hohe Ämter in der kirchlichen Hierarchie innehatten. Johannas Geschichte wurde sogar in einigen »offiziellen« Geschichtswerken über die Päpste aufgeführt. In der Kathedrale von Siena stand ihre Statue unbestritten und unangefochten neben denen anderer Päpste – bis zum Jahre 1601, als sie auf Anordnung Papst Clemens’ VIII. plötzlich in ein Standbild Papst Zacharias’ »umgewandelt« wurde.

Doch im Jahre 1276, nachdem man eine gründliche Durchsuchung der päpstlichen Akten und Urkunden vorgenommen hatte, änderte Papst Johannes XX. seinen Amtsnamen in Johannes XXI. – als offizielle Anerkennung des Pontifikats Johannas als Papst Johannes VIII. Johannas Geschichte wurde in den offiziellen kirchlichen »Reiseführer« für die Stadt Rom aufgenommen, der mehr als drei Jahrhunderte von Pilgern benutzt wurde.

Ein weiteres stichhaltiges historisches Beweisstück wurde in den Akten des ausführlich dokumentierten Prozesses gefunden, der 1413 wegen Ketzerei gegen Johannes Hus geführt wurde. Hus wurde verurteilt, weil er die häretische Lehre gepredigt hatte, der Papst sei nicht unfehlbar. Zu seiner Verteidigung führte Hus eine Vielzahl von Beispielen an, da Päpste gesündigt oder Verbrechen gegen die Kirche begangen hatten. Jede dieser Klagen wurde von Hus’ Richtern – allesamt Kirchenmänner – in allen Einzelheiten beleuchtet, als unrichtig zurückgewiesen und als ketzerisch abgestempelt. Nur eine der Aussagen Hus’ wurde akzeptiert: »Päpste sind viele Male der Sünde und dem Irrtum anheimgefallen, so zum Beispiel, als Johanna zum Papst gewählt wurde, obwohl sie eine Frau war.« Kein einziger der 28 Kardinäle, 4 Patriarchen, 30 Metropoliten, 206 Bischöfe und 440 Theologen hat Hus dieser Aussage wegen der Lüge oder Blasphemie beschuldigt.

|560|Das zweite Hauptargument, das die Kirche gegen Johannas Papstamt anführt, stützt sich darauf, daß zwischen den Pontifikaten der Päpste Leo IV. und Benedikt III. zu wenig Zeit vergangen sei, als daß Johanna das Amt des Papstes hätte innehaben können. Aber dieses Argument ist mehr als fragwürdig. Eine sorgfältige Überprüfung der frühesten päpstlichen Dokumente enthüllt eine vielsagende Auslassung: Zwar wird als Todestag Leos IV. der 17. Juli genannt, aber die Jahresangabe fehlt. Diese Auslassung hätte es späteren Chronisten leicht gemacht, das Todesjahr Leos von 853 in das Jahr 855 zu verlegen – also über jene zwei Jahre hinweg, in denen Johanna ihr Papstamt innehatte –, um auf diese Weise den Eindruck zu erwecken, Papst Benedikt III. sei der unmittelbare Nachfolger Papst Leos IV. gewesen.1

Die Geschichte bietet viele weitere Beispiele einer derartigen vorsätzlichen Aktenfälschung. Die Bourbonisten datierten gar die Regierungszeit Ludwigs XVIII. schlicht und einfach vom Todestag seines Bruders an und »übersprangen« dabei keinen Geringeren als Napoleon Bonaparte, der sich nun wahrhaftig nicht aus sämtlichen historischen Quellen entfernen ließ; dafür gibt es viel zu viele Chroniken, Tagebücher, Briefe und Dokumente anderer Art. Aber legt man dieses beinahe schon wahnwitzige Unterfangen unserem Problem zugrunde, wird dem Leser wohl deutlicher, wie vergleichsweise einfach es gewesen sein dürfte – noch dazu für die mächtige katholische Kirche und über die vielen Jahrhunderte hinweg – , Johanna aus den schriftlichen Quellen des neunten Jahrhunderts »verschwinden« zu lassen.

|561|Außerdem gibt es indirekte Beweise – bestimmte Gegenstände und Maßnahmen – die nur sehr schwer zu erklären sind, sollte es tatsächlich niemals einen weiblichen Papst gegeben haben. Ein Beispiel ist die sogenannte »Sesselüberprüfung«, die für mehr als sechshundert Jahre ein Bestandteil der mittelalterlichen Papstwahl und -weihe gewesen ist. Nach Johannas Pontifikat – also ab der zweiten Hälfte des neunten Jahrhunderts – mußte jeder neu gewählte Papst auf der sella stercoraria Platz nehmen (wörtlich übersetzt etwa: »Dung-Sessel«), der in der Mitte eine große Öffnung ähnlich einer Toilette aufwies; auf diesem Stuhl wurden die Genitalien des Erwählten untersucht, um sich davon zu überzeugen, daß es sich tatsächlich um einen Mann handelte. Anschließend verkündete der Untersuchende (für gewöhnlich ein Diakon) den Versammelten: »Mas nobis nominats est« – »unser Erwählter ist ein Mann.« Erst dann wurden dem Papst die Schlüssel zu Sankt Peter ausgehändigt. Diese Zeremonie wurde bis ins sechzehnte Jahrhundert beibehalten. Sogar Alexander Borgia mußte sich dieser peinlichen Untersuchung unterziehen, obwohl seine Frau ihm zum Zeitpunkt der Wahl bereits vier Söhne geboren hatte, die er stolz als seine Kinder anerkannte.

Die katholische Kirche streitet die Existenz der sella stercoraria auch gar nicht ab; denn diesen Stuhl gibt es noch heute in Rom. Auch wird von kirchlicher Seite nicht bestritten, daß dieser Stuhl über Jahrhunderte hinweg bei der Zeremonie der Papstweihe benutzt wurde. Doch wird vielfach die Behauptung erhoben, daß der Stuhl nur seines »schönen und beeindruckenden Äußeren« wegen verwendet worden sei; daß die Sitzfläche ein Loch aufweist, habe »keine besondere Bedeutung«. Diese Argumentation ist, gelinde gesagt, absurd. Der Stuhl hat einstmals offensichtlich als Toilette gedient, oder vielleicht auch als Entbindungsstuhl. Kann man davon ausgehen, daß ein Gegenstand, der einstmals zu derart ordinären und »weltlichen« Zwecken benutzt wurde, als Papstthron gedient hat, ohne daß es einen guten Grund dafür gegeben hätte? Wohl kaum. Und falls die »Geschlechtsuntersuchung« der Päpste tatsächlich ins Reich der Phantasie gehört – wie erklärt sich dann die Vielzahl der Zoten, Scherze und Lieder, die sich auf diesen Stuhl beziehen und die beim Volk von Rom jahrhundertelang weit verbreitet gewesen sind? Zugegeben, wir reden hier von Zeiten der Unwissenheit und des Aberglaubens, |562|doch das mittelalterliche Rom war eine eng zusammengewachsene, ja, zusammengedrängte Gemeinschaft: Viele Menschen wohnten nur einen Steinwurf weit vom Papstpalast entfernt; viele ihrer Väter, Brüder, Söhne und Vettern waren Prälaten, die bei den Papstweihen dabeigewesen sind und die Wahrheit über den sella stercoraria gekannt haben müssen.

Es gibt sogar einen Augenzeugenbericht über eine solche »Sesselüberprüfung«: Im Jahre 1404 reiste der Waliser Adam von Usk nach Rom und blieb länger als zwei Jahre in der Stadt; während dieser Zeit führte er sorgfältig Buch über seine Beobachtungen. In seiner ausführlichen Beschreibung der Krönungs- und Weihefeierlichkeiten von Papst Innozenz VII. wird auch die »Sesselüberprüfung« geschildert.

Einen weiteren wichtigen Beweis liefert die »gemiedene Straße«. Das Patriarchum – der Papstpalast und die Bischofskirche des Papstes in seinem Amt als Bischof von Rom (die heutige San Giovianni in Laterano) – befindet sich auf der gegenüberliegenden Seite des Petersdomes; aus diesem Grunde zogen päpstliche Prozessionen oft zwischen den beiden Kirchen hindurch. Schon ein flüchtiger Blick auf eine Karte des modernen Rom zeigt, daß die Via Sacra (die heutige Via San Giovanni) die mit Abstand kürzeste und direkteste Verbindung zwischen diesen beiden Orten ist – und in der Tat wurde sie über Jahrhunderte hinweg von den Päpsten benutzt (daher der Name Via Sacra, »heilige Straße«). Die Via Sacra ist nun jene Straße, auf der Johanna der Überlieferung nach bei der Frühgeburt starb. Kurze Zeit später mieden päpstliche Prozessionen absichtlich diese Straße, und zwar »aus Abscheu ob dieses Vorfalles«.

Die katholische Kirche argumentiert, daß der Umweg später lediglich deshalb gemacht wurde, weil die Straße für Prozessionen zu schmal gewesen sei, und dies bis ins sechzehnte Jahrhundert, als sie unter Papst Sixtus V. verbreitert wurde. Aber diese Erklärung ist offensichtlich unwahr. Im Jahre 1486 beschrieb Johannes Burckhardt, Bischof von Horta und päpstlicher Zeremonienmeister unter fünf Päpsten (ein Amt, das ihm intimste Kenntnisse über den päpstlichen Hof verschafft haben dürfte), in seinem Tagebuch, was sich zugetragen hatte, als eine päpstliche Prozession mit der Gewohnheit brach und über die Via Sacra zog:

 

|563|Auf dem Rückweg kam er (der Papst) am Kolosseum vorbei und (zog) die gerade Straße hinunter, auf der... Johannes Anglicus ein Kind gebar, was der Grund dafür ist, daß die Päpste... bei ihren Kavalkaden nie durch diese Straße ziehen; deshalb wurden dem Papst Vorhaltungen gemacht... vom Erzbischof von Florenz, dem Bischof von Massano und Hugo de Bencii, dem apostolischen Subdiakon...

 

Einhundert Jahre vor der Verbreiterung der Straße ist diese päpstliche Prozession also ohne Schwierigkeiten über die Via Sacra gezogen. Außerdem geht aus Burckhardts Bericht eindeutig hervor, daß zu seiner Zeit (im 15. Jahrhundert) selbst hohe Würdenträger im päpstlichen Palast gar keinen Zweifel an Johannas Pontifikat hatten.

Berücksichtigt man die Wirren der Zeit, den Mangel an Quellen und die Verschleierungsversuche, wird sich wohl nie mehr genau feststellen lassen, was an jenem schicksalhaften Tag im Jahre 855 auf der Via Sacra geschehen ist. Deshalb hatte ich beschlossen, einen Roman darüber zu schreiben, und keine historische Abhandlung. Wenngleich ich mich vielfach auf erwiesene geschichtliche Tatsachen stütze, sind die meisten Geschehnisse in Die Päpstin rein fiktiver Natur. Über Johannas Kinder- und Jugendjahre ist so gut wie nichts bekannt; man weiß nur, daß sie aus Ingelheim stammte, einen englischstämmigen Vater hatte und mehrere Jahre als Mönch im Kloster Fulda verbrachte. Also mußte ich notwendigerweise die fehlenden Stücke ergänzen, was diesen persönlichen Hintergrund angeht.

Doch die bedeutsamsten Ereignisse in Johannas Erwachsenenleben, wie sie in Die Päpstin geschildert werden, entsprechen der tatsächlichen historischen Überlieferung; gleiches gilt für den äußeren geschichtlichen Rahmen: Die Schlacht von Fontenoy fand, wie beschrieben, wirklich am 25. Juni 841 statt; der historisch höchst bedeutsame Vertrag von Verdun wurde tatsächlich geschlossen; die Sarazenen plünderten im Jahre 847 wirklich Sankt Peter; im römischen Borgo brach im Jahre 847 tatsächlich eine Feuersbrunst aus, und 854 verursachte der Tiber in der Tat eine Flutkatastrophe. Die Morde an Theodorus (im Roman Anastasius’ Onkel) und Leo im Papstpalast wurden tatsächlich verübt, und auch die Verhandlung des magister militum Daniel gegen den päpstlichen superista hat wirklich stattgefunden. Ebenso gibt es schriftliche Zeugnisse |564|über Papst Sergius’ Völlerei und seine Gichtkrankheit. Anastasius, Arsenius, Gottschalk, Rabanus Maurus, Kaiser Lothar, seine Brüder Karl und Ludwig sowie die Päpste Gregor, Sergius und Leo sind allesamt historische Gestalten. Auch was die allgemeinen Lebensumstände, die Ernährungsgewohnheiten, die Kleidung, die medizinischen Behandlungsformen und anderes im neunten Jahrhundert betrifft, habe ich mich eingehend kundig gemacht, so daß meine Schilderungen weitgehend authentisch sein dürften.

Doch um einen möglichst spannenden Unterhaltungsroman erzählen zu können, habe ich einige historische Fakten so »zurechtgerückt«, daß sie in den Handlungsrahmen passen. Beispielsweise brauchte ich einen Normannenüberfall auf Dorstadt (oder Dorestad) im Jahre 824; tatsächlich stattgefunden hat dieser Raubzug aber erst 842. Ähnliches gilt für »meine« beiden Züge Kaiser Lothars gegen Rom mit dem Ziel, die Stadt und den Papst zu bestrafen. In Wahrheit hat Lothar beim zweiten Mal seinen Sohn Ludwig entsandt, den König von Italien, um diese Aufgabe an seiner Stelle zu erledigen. Der Leichnam des heiligen Marcellinus wurde tatsächlich aus seinem Grab gestohlen; allerdings nicht im Jahre 855, sondern bereits 827. Johannes der Diakon, der Gegenpapst – Sergius’ Vorgänger –, wurde nach seiner Absetzung nicht hingerichtet, sondern eingekerkert und anschließend verbannt. Aber diese und andere »dichterische Freiheiten« mögen mir verziehen sein, zumal es – glaube ich – Ausnahmen sind; ich habe versucht, den historischen Rahmen des Romans möglichst präzise zu zeichnen.

Einige Dinge, die ich in Die Päpstin beschrieben habe, mögen aus unserer heutigen Warte schockierend anmuten; für die Menschen der damaligen Zeit waren sie es gewiß nicht. Der Verfall des römischen Kaiserreichs und der sich daraus ergebende Zusammenbruch staatlicher und gesetzlicher Ordnung führten zu einer Epoche, die von einer fast beispiellosen Barbarei und Gewalt gekennzeichnet war. Wie ein zeitgenössischer Chronist sich beklagte, war es ein »Zeitalter des Schwertes, ein Zeitalter des Windes, ein Zeitalter des Wolfes«. Die Bevölkerung Europas wurde durch eine verheerende Reihe aufeinanderfolgender Hungersnöte, Epidemien, Bürgerkriege und »barbarischer« Invasionen fast zur Hälfte vernichtet. Die durchschnittliche Lebenserwartung war sehr |565|niedrig; weniger als ein Viertel der Bevölkerung wurde älter als fünfzig Jahre. Städte im eigentlichen Sinne gab es nicht mehr; die größten Orte hatten nicht mehr als zwei- oder dreitausend Einwohner. Die alten Römerstraßen waren verfallen; die Brücken, von denen ihre Funktionstüchtigkeit als Reise- und Fernhandelswege abhingen, waren verschwunden.

Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung, die wir heute als Zeitalter der »Feudalherrschaft« bezeichnen, lag noch in weiter zeitlicher Ferne. Ebensowenig konnte von einem europäischen Staatenwesen die Rede sein; im modernen Sinne gab es weder ein Deutschland, noch ein Frankreich, noch ein Spanien oder Italien. Zudem hatten die verschiedenen romanischen Sprachen sich noch nicht aus ihrer Muttersprache, dem Latein, herausgebildet; es gab keine französische oder spanische oder italienische Sprache, nur unterschiedliche Formen eines umgangssprachlichen Latein, das sich immer weiter von seiner klassischen Form entfernte, sowie eine Vielzahl verschiedener regionaler Mundarten.

Kurz gesagt, war das neunte Jahrhundert eine Epoche einer sich wandelnden Gesellschaft, die von einer seit langer Zeit toten Form der sozialen und wirtschaftlichen Ordnung in eine neue Gestalt der gesellschaftlichen Ordnung hineinwuchs, die noch gar nicht geboren war – mit all den inneren Unruhen und Gärungen, die eine solche Phase des Umbruchs mit sich bringt.

Das Leben in diesen unruhigen Zeiten war für die Frauen besonders schwer. Es war ein misogynistisches Zeitalter, das unter anderem von den frauenfeindlichen Schmähschriften solcher Kirchenväter wie Sankt Paul oder Tertullian geprägt wurde:

 

Und weißt du nicht, daß du die Eva bist?... Du bist das Tor des Teufels, die Schlange im Baum, die erste Abtrünnige vom göttlichen Gesetz; du bist die, welche jenen verführte, dem der Teufel sich nicht zu nähern wagte... des Todes wegen, den du verdient hast, mußte selbst der Sohn Gottes sterben.

 

Die Menschen glaubten, daß Menstruationsblut den Wein sauer werden ließ, Feldfrüchte verdarb und Stahl stumpf machte, daß es Eisen rosten ließe und Hundebisse mit Gift verseuche, für das es kein Gegenmittel gab. Von wenigen Ausnahmen |566|abgesehen, wurden Frauen als minderes und unterlegenes Geschlecht betrachtet – und entsprechend behandelt –; ein Geschlecht, dem gesetzliche Rechte ebensowenig wie ein Recht auf Eigentum zustanden. Von Rechts wegen durften Männer ihre Frauen schlagen. Vergewaltigungen wurden als eine harmlosere Form des Diebstahls betrachtet. Frauen wurden von einer schulischen Ausbildung ferngehalten; denn eine gelehrte Frau wurde nicht nur als widernatürlich, sondern auch als gefährlich betrachtet.

Deshalb kann es nicht verwundern, daß Frauen tatsächlich beschlossen haben, sich als Männer auszugeben, um einem solchen Leben zu entrinnen. Außer Johanna gibt es weitere Beispiele von Frauen, die es erfolgreich bewerkstelligt haben, ein Leben als Mann zu führen. Bereits im dritten nachchristlichen Jahrhundert trat Eugenia, die Tochter des Präfekten von Alexandria, als Mann verkleidet in ein Kloster ein und schaffte sogar den Aufstieg bis zum Abt. Ihre wahre Identität blieb unentdeckt, bis sie gezwungen war, ihr Geschlecht preiszugeben, als man ihr vorwarf, ein Mädchen entjungfert zu haben. Im 12. Jahrhundert wurde St. Hildegund unter dem Namen »Bruder Joseph« als Mönch ins Kloster Schönau aufgenommen und lebte bis zu ihrem Tod viele Jahre unentdeckt in der Bruderschaft.2

Die Flamme der Hoffnung, die von diesen und anderen Frauen entfacht wurde, war nur ein schwaches Flackern auf einem Meer der Dunkelheit; doch gänzlich erloschen ist diese Flamme nie. Für Frauen, die stark genug waren zu träumen, gab es Gelegenheiten. Die Päpstin ist die Geschichte einer Frau, die einen solchen Traum gelebt hat.

 

Bei zwei der wichtigsten materiellen Beweismittel gegen Johannas Pontifikat stützt man sich auf die Annahme, daß Leo IV. im Jahre 855 gestorben ist; bei diesen Beweismitteln handelt es sich um:

1. Eine Münze, die den Namen Papst Benedikts III. auf der einen Seite und den Kaiser Lothars auf der anderen Seite trägt. Da Lothar am 28. September 855 starb und die Münze den lebenden Lothar und den lebenden Benedikt gemeinsam zeigt, kann Benedikt den Papstthron offensichtlich nicht nach 855 bestiegen haben.

2. Ein Dekret Papst Benedikts, das er laut Datierung auf der Urkunde am 7. Oktober 855 verfaßt hat und in dem er die Privilegien des Klosters Corvey bestätigt – was wiederum bestätigt, daß Benedikt zu diesem Zeitpunkt auf dem Papstthron saß. Aber diese »Beweise« schrumpfen zur Bedeutungslosigkeit, falls Leo IV. tatsächlich im Jahre 853 (oder sogar 854) starb; denn in beiden Fällen wäre Johanna Zeit genug geblieben, das Papstamt anzutreten und auszuüben, bis Benedikt im Jahre 855 ihr Nachfolger wurde.

Es gibt noch weitere, aktuellere Beispiele von Frauen, die sich erfolgreich als Männer ausgegeben haben; darunter waren: Mary Read, die zu Beginn des 18. Jahrhunderts als Pirat lebte; Hannah Snell, »ein Soldat und Seemann« in der britischen Marine; eine Frau aus dem 19. Jahrhundert, deren wirklicher Name uns unbekannt ist, die aber unter dem Namen »James Berry« bis zum Rang eines Generalinspektors der britischen Krankenhausverwaltung aufstieg; Loreta Janeta Velaquez, die unter dem Namen »Harry Buford« im amerikanischen Bürgerkrieg in der Schlacht am Bull Run für die Südstaatenarmee kämpfte. Das jüngste Beispiel ist Teresinha Gomez aus Lissabon, die achtzehn Jahre lang erfolgreich vorgab, ein Mann zu sein; als hochdekorierter Soldat stieg sie in der portugiesischen Armee bis zum Rang eines Generals auf und wurde erst 1994 »enttarnt«, als sie aufgrund einer Anklage wegen finanziellen Betruges festgenommen wurde und sich einer Leibesvisitation durch die Polizei unterziehen lassen mußte.