Es war am siebenundzwanzigsten Tag des Wintarmanoth im Jahre unseres Herrn 814, im härtesten Winter seit Menschengedenken. Hrotrud, die Hebamme des Dorfes Ingelheim, kämpfte sich durch den Schnee zum Haus des Dorfpriesters. Eine Windböe fegte zwischen den Bäumen hindurch, krallte ihre eisigen Finger in Hrotruds Körper und drang durch die Löcher und Flicken ihrer dünnen Wollkleidung. Der Waldweg war von hohen Schneewehen bedeckt; bei jedem Schritt sank Hrotrud fast bis zu den Knien ein. Eine Schneekruste hatte sich über ihren Brauen und Lidern gebildet; immer wieder wischte sie sich übers Gesicht, um den Weg sehen zu können. Die Hände und Füße schmerzten ihr vor Kälte, obwohl sie mehrere Stofflappen darumgewickelt hatte.
Ein Stück voraus erschien ein verschwommener schwarzer Fleck auf dem Pfad. Es war eine tote Krähe. Selbst diese zähen Aasfresser starben in diesem bitterkalten Winter. Sie verhungerten, weil die Kadaver dermaßen hart gefroren waren, daß sie mit den Schnäbeln das Fleisch nicht lospicken konnten. Hrotrud erschauderte und schritt schneller aus.
Bei Gudrun, der Frau des Dorfpriesters, hatten die Wehen eingesetzt, einen Monat früher als erwartet. Da hat sich das Kleine ja eine schöne Zeit ausgesucht, ging es Hrotrud voller Bitterkeit durch den Kopf. Allein letzten Monat habe ich fünf Kinder zur Welt gebracht, und keins von ihnen hat länger als eine Woche gelebt.
Ein Schwall windgepeitschten Schnees blendete Hrotrud, und für einen Moment verlor sie den spärlich markierten Weg aus den Augen. Entsetzen stieg in ihr auf. Schon mehr als ein Dorfbewohner war ums Leben gekommen, weil er bei einem solchen Wetter die Orientierung verloren hatte und bis zur völligen Erschöpfung im Kreis umhergeirrt war, manchmal nur ein paar Schritt von seinem Haus entfernt. Hrotrud zwang sich, |6|stehenzubleiben und zu warten, während der Schnee um sie herum toste und wirbelte und sie mit einer vollkommen konturlosen Landschaft aus reinem Weiß umgab. Als der Sturmwind endlich nachließ, konnte Hrotrud nur noch mit Mühe die Umrisse des Weges erkennen. Sie setzte sich wieder in Bewegung. Der Schmerz in den Händen und Füßen war verschwunden; sie waren jetzt völlig taub vor Kälte. Hrotrud wußte, was das bedeuten mochte; aber sie konnte es sich nicht leisten, groß darüber nachzudenken. Es war wichtig, die Ruhe zu bewahren.
Ich darf nicht an die Kälte denken.
Sie rief sich das Bild des Anwesens ins Gedächtnis, auf dem sie aufgewachsen war: eine casa, ein herrschaftliches Haus mit gut sechs Hektar fruchtbarem Ackerland. Das Haus war gemütlich und warm gewesen, mit festen Wänden aus dicken Balken – viel schöner als die Häuser der Nachbarn, deren Wände aus schlichten, mit Lehm verfugten Holzlatten bestanden. Im Herd, der sich in der Mitte des Hauses befand, hatte ein großes Feuer gelodert, und der Rauch, der kräuselnd aufgestiegen war, zog durch eine Öffnung in der Decke zum Himmel empor. Hrotruds Vater hatte ein kostbares Wams aus Otternfell über seinem bliaud aus feinem Leinen getragen, und ihre Mutter besaß Bänder aus Seide für ihr langes schwarzes Haar. Hrotrud selbst hatten zwei Überkleider mit weiten Ärmeln gehört, und ein warmer Mantel aus feinster Wolle. Sie konnte sich noch daran erinnern, wie kuschelig und weich der teure Stoff sich auf ihrer Haut angefühlt hatte.
Und dann hatte alles ein so schnelles Ende gefunden. Zwei Dürresommer und eine verheerende Frostperiode hatten die Ernten vernichtet. Überall verhungerten die Menschen; in Thüringen hatte es angeblich Fälle von Kannibalismus gegeben. Durch den umsichtigen Verkauf des Familienbesitzes hatte Hrotruds Vater die Familie eine Zeitlang vor dem Hungern bewahrt. Hrotrud hatte geweint, als der Vater ihr den wollenen Mantel fortnahm. Damals hatte sie sich nichts Schlimmeres vorstellen können, als ihren Mantel abgeben zu müssen. Hrotrud lächelte trotz der Eiseskälte. Damals war sie acht Jahre alt gewesen und hatte die Schrecknisse und Grausamkeiten dieser Welt noch nicht gekannt.
Erneut wühlte sie sich durch eine hohe Schneewehe und wehrte sich gegen ein zunehmendes Schwindelgefühl. Sie hatte seit mehreren Tagen nichts gegessen. Aber, sagte sie sich, |7|wenn alles gutgeht, bekomme ich heute abend ein Festessen. Falls der Dorfpriester zufrieden mit mir ist, wird er mir sogar Speck als Bezahlung mit auf den Nachhauseweg geben. Der Gedanke verlieh ihr neue Kraft.
Hrotrud gelangte auf eine Lichtung. Dicht voraus konnte sie die konturlosen Umrisse einer großen Hütte sehen: das Grubenhaus des Dorfpriesters. Hier, auf der Lichtung, lag der Schnee höher, da nun das schützende Dach fehlte, das die Bäume gebildet hatten. Doch Hrotrud kämpfte sich unbeirrt weiter, wühlte sich mit ihren kräftigen Schenkeln und Armen voran, von der Gewißheit erfüllt, bald in Sicherheit zu sein.
An der Tür angelangt, klopfte sie einmal; dann trat sie unaufgefordert ein, ohne zu warten. Es war zu kalt, um auf standesgemäße Höflichkeiten Rücksicht zu nehmen. Dann stand sie blinzelnd in der Dunkelheit des Raumes. Das einzige Fenster des Grubenhauses war der Winterkälte wegen mit Brettern vernagelt, und das einzige Licht stammte vom Herdfeuer sowie mehreren rauchenden Talglichtern, die an verschiedenen Stellen standen. Nach kurzer Zeit gewöhnten Hrotruds Augen sich an das Licht, und sie sah zwei Jungen, die in der Nähe des Herdfeuers beieinander saßen.
»Ist das Kind schon da?« fragte sie.
»Noch nicht«, antwortete der ältere der beiden Jungen.
Hrotrud murmelte ein kurzes Dankgebet an den heiligen Kosmas, den Schutzpatron der Hebammen. Mehr als einmal war sie um ihre Bezahlung betrogen worden, weil das Kind ein bißchen zu früh gekommen war, so daß sie ohne einen denarius für all die Mühe, die sie auf sich genommen hatte, wieder nach Hause gehen mußte.
Am Herdfeuer wickelte sie sich die gefrorenen Lappen von Händen und Füßen und stieß einen erschreckten Schrei aus, als sie die kränkliche, blauweiße Farbe der Haut sah. Heilige Mutter, laß nicht zu, daß der Frost mir die Hände und Füße nimmt. Für eine verkrüppelte Hebamme hatten die Dorfbewohner nur noch wenig Verwendung. Elias, der Schuhmacher, hatte auf diese Weise seinen Broterwerb verloren. Auf dem Rückweg von Mainz war er von einem Schneesturm überrascht worden. Seine Fingerkuppen waren binnen einer Woche schwarz geworden und dann abgefallen. Seither kauerte er halb verhungert und zerlumpt neben den Kirchentüren und erbettelte sich sein tägliches Brot von mildtätigen Mitmenschen.
|8|Hrotrud schüttelte zornig den Kopf, als sie nun ihre tauben Finger und Zehen rieb und massierte, wobei die beiden Jungen ihr schweigend zuschauten. Der Anblick der Knaben erfüllte Hrotrud mit Zuversicht. Es wird eine leichte Geburt, sagte sie sich und versuchte, die Gedanken an den armen Elias zu vertreiben. Schließlich habe ich Gudrun schon von diesen beiden Jungen entbunden, ohne daß es Probleme gab. Der ältere mußte jetzt beinahe sechs Winter zählen; er war ein untersetzter Knabe, auf dessen Gesicht ein Ausdruck wacher Intelligenz lag. Sein jüngerer, pausbäckiger, dreijähriger Bruder schaukelte vor und zurück, wobei er mißmutig am Daumen lutschte. Beide Jungen besaßen den dunklen Teint und das fast schwarze Haar ihres Vaters; keiner von beiden hatte das außergewöhnliche, weißgoldene Haar seiner sächsischen Mutter Gudrun geerbt.
Hrotrud konnte sich erinnern, wie die Männer im Dorf Gudruns Haar angestarrt hatten, als der Dorfpriester sie von einer seiner Missionsreisen nach Sachsen mitbrachte. Zuerst hatte es für ziemlichen Wirbel gesorgt, daß ein Priester sich eine Frau genommen hatte. Einige Leute sagten, es würde gegen das Gesetz verstoßen; denn der Kaiser habe eine Verordnung erlassen, die es Männern der Kirche untersagte, sich Frauen zu nehmen. Andere jedoch erklärten, so könne es nicht sein; denn es liege ja auf der Hand, daß ein Mann ohne Frau allen Arten sündhafter Verlockungen und verderbten Lastern ausgesetzt wäre. Schaut euch die Mönche von Bobbio an, sagten diese Leute, die mit ihrer Unzucht und ihren Saufgelagen Schande über die Kirche bringen. Und daß der Dorfpriester ein nüchterner, hart arbeitender Mann war, stand für die Bewohner Ingelheims außer Frage.
Im Zimmer war es warm. Neben der großen Feuerstelle lagen, hoch aufgestapelt, dicke Scheite Birken- und Eichenholz, und in gewaltigen Schwaden stieg der Rauch zu dem Loch im Strohdach empor. Wenngleich nur eine bessere Hütte, war das Grubenhaus ein gemütliches Heim. Die Wände bestanden aus festen Holzbalken; die Fugen zwischen den Balken waren mit einer dicken Schicht aus Stroh und Lehm abgedichtet, die Wind und Kälte draußen hielt. Das einzige Fenster war mit kurzen, dicken Eichenbrettern vernagelt – eine zusätzliche Schutzmaßnahme gegen die nordostroni, die klirrend kalten, winterlichen Nordostwinde. Das Haus war sogar groß genug, |9|daß man es in drei getrennte Bereiche unterteilen konnte: in einem befanden sich die Schlafstätten des Dorfpriesters und seiner Frau; in einem weiteren waren die Tiere zum Schutz vor der strengen Kälte untergebracht – Hrotrud hörte das leise Scharren und Kratzen der Hufe zu ihrer Linken –; und schließlich gab es den eigentlichen Wohn- und Arbeitsraum, in dem die Familie beisammensaß, in dem die Mahlzeiten eingenommen wurden und in dem die Kinder schliefen. Vom Bischof abgesehen, dessen Haus aus Stein errichtet war, besaß niemand in Ingelheim ein schöneres Zuhause.
Als das Gefühl in Hrotruds Glieder zurückkehrte, begannen sie zu jucken und zu pochen. Sie betastete ihre Finger: Sie waren rauh und trocken, doch die bläuliche Farbe der Haut wich allmählich einem gesunden und kräftigen Rot. Hrotrud seufzte vor Erleichterung und nahm sich vor, dem heiligen Kosmas zum Dank eine Opfergabe darzubringen. Hrotrud blieb noch einige Minuten am Feuer stehen und genoß dessen Wärme; dann – nachdem sie den beiden Jungen aufmunternd zugenickt und ihnen auf die Schultern geklopft hatte – eilte sie um die Trennwand herum, hinter der die Frau auf sie wartete, die in den Wehen lag.
Gudrun war auf ein Lager aus Torf gebettet, das mit frischem Stroh bestreut war. Der Dorfpriester, ein dunkelhaariger Mann mit dichten, buschigen Augenbrauen, die ihm einen ständigen Ausdruck von Strenge verliehen, saß ein Stück entfernt. Er begrüßte Hrotrud durch ein Kopfnicken; dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem großen, in Holz gebundenen Buch zu, das auf seinem Schoß lag. Hrotrud hatte dieses Buch schon bei früheren Besuchen in diesem Haus bemerkt, doch sein Anblick erfüllte sie stets aufs neue mit Ehrfurcht. Es war eine Abschrift der heiligen Bibel und das einzige Buch, das Hrotrud jemals gesehen hatte. Wie auch die anderen Dorfbewohner, konnte Hrotrud weder lesen noch schreiben. Dennoch wußte sie, daß dieses Buch ein kostbarer Schatz war, viel mehr Gold-solidi wert, als alle Dorfbewohner zusammen in einem Jahr verdienten. Der Dorfpriester hatte das Buch aus seiner Heimat England mitgebracht, wo Bücher nicht so selten waren wie im Frankenreich.
Als Hrotrud ihre Patientin untersuchte, erkannte sie sofort, daß es sehr schlecht um Gudrun bestellt war. Ihr Atem ging flach, ihr Puls raste bedrohlich schnell, und ihr ganzer Körper |10|war gedunsen und aufgebläht. Hrotrud erkannte diese Zeichen. Sie durfte keine Zeit mehr verlieren. Sie griff in ihren Beutel und nahm eine bestimmte Menge Taubendung heraus, den sie im letzten Herbst mühsam gesammelt hatte. Sie ging zum Herd zurück, warf den Dung ins Feuer und beobachtete zufrieden, wie der dunkle Qualm aufstieg und die Luft von bösen Geistern reinigte.
Sie mußte den Schmerz lindern, damit Gudrun sich entspannen und das Kind zur Welt bringen konnte. Hrotrud beschloß, zu diesem Zweck Bilsenkraut zu benutzen. Sie holte ein kleines, getrocknetes Bündel der winzigen, gelben, purpurn geäderten Blumen hervor, legte sie in einen Mörser aus gebranntem Ton und zerstampfte sie geschickt zu Pulver, wobei sie bei dem stechenden Geruch, der dabei entstand, die Nase rümpfte. Dann gab sie das Pulver in einen Becher mit kräftigem Rotwein und brachte ihn Gudrun zum Trinken.
»Was willst du ihr denn da geben?« fragte der Dorfpriester, der unvermittelt hinter Hrotrud erschienen war.
Hrotrud zuckte zusammen; sie hatte beinahe vergessen, daß der Mann bei ihnen war. »Die Wehen haben Eure Frau geschwächt. Dieses Mittel wird ihren Schmerz lindern und es dem Kinde erleichtern, aus dem Mutterleib hervorzukommen.«
Der Dorfpriester machte ein düsteres Gesicht. Er nahm Hrotrud das Bilsenkraut aus der Hand, umrundete die Trennwand und warf das Kraut ins Herdfeuer, wo es zischend verbrannte. »Du versündigst dich gegen Gott, Weib.«
Hrotrud konnte es nicht fassen. Da hatte es sie Wochen anstrengender Suche gekostet, um diese kleine Menge der kostbaren Medizin zu sammeln, und nun so etwas! Sie wandte sich dem Dorfpriester zu und wollte ihrem Zorn Luft machen, hielt dann aber inne, als sie den harten, kalten Blick in seinen Augen sah.
»›Zur Frau sprach der Herr: Viel Mühsal bereite ich dir, sooft du schwanger wirst. Unter Schmerzen sollst du Kinder gebären‹«, sagte er und klopfte zur Bekräftigung seiner Worte mit der Hand auf den Einband des Buches. »So steht es geschrieben. Eine solche Medizin ist gottlos!«
Hrotrud wurde von wildem Zorn gepackt. An ihrer Medizin gab es nichts Gottloses. Sprach sie nicht jedesmal, wenn sie eine Pflanze aus der Erde zog, neun Vaterunser? Aber sie hatte nicht die Absicht, ein Streitgespräch mit dem Dorfpriester zu |11|führen. Er war ein einflußreicher Mann. Ein Wort von ihm über ihre ›gottlosen‹ Praktiken, und sie mußte ihren Beruf aufgeben und betteln gehen.
Gudrun stöhnte, als eine neuerliche Schmerzwoge sie durchflutete. Also gut, dachte Hrotrud. Wenn der Dorfpriester ihr die Benutzung des Bilsenkrauts nicht erlaubte, mußte sie eben etwas anderes versuchen. Sie ging zu ihrem Beutel und nahm ein langes Stück Stoff heraus, das so zurechtgeschnitten war, daß es der wahren Körpergröße Jesu Christi entsprach. Mit raschen, geschickten Bewegungen band Hrotrud das Tuch um Gudruns Unterleib. Als sie Gudrun dabei auf die Seite drehte, stöhnte die Schwangere erneut. Jede Bewegung bereitete ihr Schmerzen; aber dagegen konnte man nun mal nichts tun. Hrotrud nahm ein Päckchen aus ihrem Beutel, das zum Schutz gegen Beschädigungen sorgfältig in ein Stück Seide eingewickelt war. Im Innern des Päckchens befand sich eine von Hrotruds Kostbarkeiten – das Sprungbein eines Kaninchens, das an Weihnachten getötet worden war. Sie hatte es sich letzten Winter von einer der Jagdgesellschaften des Kaisers erbettelt. Mit äußerster Sorgfalt schabte Hrotrud drei hauchdünne Stückchen ab und legte sie der Schwangeren auf die Zunge.
»Kaue ganz langsam«, wies sie Gudrun an, die mit einem schwachen Kopfnicken reagierte. Hrotrud setzte sich zurück und wartete. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie den Dorfpriester, der weiterhin in dem Buch las, die Stirn in tiefer Konzentration gefurcht, so daß seine buschigen Augenbrauen sich über der Nasenwurzel beinahe berührten.
Wieder stöhnte Gudrun und wand sich vor Schmerzen, doch der Dorfpriester blickte nicht einmal auf. Er ist ein kalter Mann, ging es Hrotrud durch den Kopf. Trotzdem muß er Feuer in den Lenden haben, sonst hätte er Gudrun nicht zur Frau genommen.
Wie lange war es jetzt her, daß der Dorfpriester diese sächsische Frau mit nach Ingelheim gebracht hatte? Zehn Winter? Elf? Nach fränkischen Maßstäben war Gudrun schon damals nicht mehr jung gewesen – sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig vielleicht –; aber wunderschön mit ihrem langen, weißgoldenen Haar und den blauen Augen der alienigenae. Gudrun hatte ihre ganze Familie bei dem Massaker in Verden an der Aller verloren. Tausende von Sachsen waren an jenem Tag lieber gestorben, als die Wahrheit Unseres Herrn Jesus |12|Christus als ihren Glauben anzunehmen. Verrückte Barbaren, dachte Hrotrud. Das wäre mir nicht passiert. Sie hätte auf alles geschworen, auf das zu schwören man von ihr verlangt hätte – und so würde sie es auch heute noch halten, sollten die Barbaren jemals wieder über das Frankenreich hinwegfegen. Sie würde auf sämtliche fremden und schrecklichen Götter schwören, die von diesen Schlächtern angebetet wurden. Was machte das schon aus? Wer wußte denn, was im Innern eines Menschen wirklich vor sich ging? Eine Hebamme und Kräuterfrau behielt nicht nur ihre Geheimnisse, sondern auch ihre Meinung für sich.
Das Feuer war inzwischen heruntergebrannt. Es flackerte und sprühte Funken. Hrotrud ging zum Holzstapel, der in einer Zimmerecke stand, suchte zwei große Scheite Birkenholz heraus und legte sie auf den Herd. Sie beobachtete, wie die Scheite prasselnd Feuer fingen und die Flammen um das Holz herum in die Höhe leckten. Dann begab Hrotrud sich wieder zu Gudrun, um nach der Schwangeren zu sehen.
Es war eine gute halbe Stunde vergangen, seit Gudrun die abgemeißelten Stückchen vom Kaninchenknochen zu sich genommen hatte, doch ihr Zustand war unverändert. Selbst diese starke Medizin hatte nicht gewirkt. Die Schmerzen blieben, unberechenbar und hartnäckig, und Gudrun wurde immer schwächer.
Hrotrud seufzte müde. Offensichtlich mußte sie zu stärkeren Mitteln greifen.
Der Dorfpriester lehnte brüsk ab, als Hrotrud ihm erklärte, daß sie bei der Geburt seine Hilfe bräuchte.
»Laß die Frauen aus dem Dorf holen«, sagte er gebieterisch.
»Äh … das ist unmöglich, Herr. Wer sollte die Frauen holen?« Hrotrud hob die Hände, um ihre Worte zu unterstreichen. »Ich kann nicht fort, denn Eure Frau braucht mich. Euren ältesten Sohn können wir auch nicht schicken. Er scheint zwar ein kräftiger Bursche zu sein, aber bei einem solchen Wetter könnte er sich verirren, und dann wär’s aus mit ihm. Ich hätte mich beinahe selbst verlaufen.«
Unter seinen dunklen, buschigen Brauen hervor starrte der Dorfpriester Hrotrud düster an. »Also gut«, sagte er. »Dann gehe ich selbst.« Als er sich aus dem Stuhl erhob, schüttelte Hrotrud ungeduldig den Kopf.
|13|»Das nützt nichts. Bis Ihr zurück seid, ist es zu spät. Wenn Ihr wollt, daß Eure Frau und das Kind überleben, brauche ich Eure Hilfe, und zwar rasch.«
»Meine Hilfe? Hast du den Verstand verloren, Weib? Das«, er wies mit allen Anzeichen von Abscheu auf das Bett, »ist Sache der Frauen. Schlecht und unrein. Ich habe nichts damit zu tun.«
»Dann wird Eure Frau sterben.«
»Das liegt in Gottes Hand, nicht in der meinen.«
Hrotrud zuckte die Achseln. »Mir soll’s egal sein. Aber Ihr werdet Schwierigkeiten haben, zwei Kinder ohne Mutter großzuziehen.«
Der Dorfpriester starrte Hrotrud an. »Warum sollte ich dir glauben? Die beiden Jungen hat sie auch zur Welt gebracht, ohne daß es Komplikationen gab. Meine Gebete haben ihr Kraft gegeben. Du kannst gar nicht wissen, ob die Gefahr besteht, daß sie stirbt.«
Das war zuviel. Priester oder nicht – daß der Mann ihre Fähigkeiten als Hebamme in Frage stellte, konnte sie nicht hinnehmen. »Ihr wißt gar nichts«, sagte sie mit scharfer Stimme. »Ihr habt sie Euch ja nicht einmal angesehen. Geht und schaut sie Euch jetzt an, und dann sagt mir, ob sie sterben wird oder nicht.«
Der Dorfpriester ging zur Liegestatt und blickte auf seine Frau hinunter. Ihr schweißnasses Haar klebte auf der Haut, die eine gelblichweiße Farbe angenommen hatte. Um die stumpfen, tief eingesunkenen Augen lagen dunkle Ringe. Wäre nicht ihr schwaches, unregelmäßiges Atmen gewesen, hätte man Gudrun für tot halten können.
»Nun?« fragte Hrotrud mit drängender Stimme.
Der Dorfpriester fuhr zu ihr herum. »Um Himmels willen, Weib! Warum hast du die anderen Frauen nicht sofort mit hierhergebracht?«
»Wie Ihr selbst gesagt habt, Herr, hat Eure Frau die beiden Söhne ohne die geringsten Schwierigkeiten geboren. Ich hatte keinen Grund, diesmal damit zu rechnen. Außerdem – wer wäre bei einem solchen Wetter schon bis hierher gekommen?«
Der Dorfpriester ging zur Feuerstelle und schritt vor den flackernden Flammen nervös auf und ab. Schließlich blieb er stehen. »Was soll ich tun?«
|14|Hrotrud lächelte breit. »Oh, nur sehr wenig, Herr, nur sehr wenig.« Sie führte ihn wieder zur Liegestatt. »Zuerst einmal helft mir, sie hochzuheben.«
Sie nahmen Gudrun in die Mitte, packten sie unter den Armen und zogen sie hoch. Gudruns Körper war schwer und gedunsen, doch gemeinsam schafften es Hrotrud und der Dorfpriester, sie auf die Beine zu stellen. Schwankend taumelte Gudrun gegen ihren Mann. Der Dorfpriester war kräftiger, als Hrotrud geglaubt hatte. Das war gut so, denn gleich würde sie alle seine Kräfte brauchen.
»Wir müssen das Ungeborene in die richtige Lage bringen. Wenn ich die Anweisung gebe, dann hebt sie hoch, so hoch Ihr nur könnt. Und schüttelt sie ganz fest.«
Der Dorfpriester nickte; Entschlossenheit kerbte seine Mundwinkel. Gudrun hing wie ein totes Gewicht zwischen ihm und Hrotrud; der Kopf war ihr auf die Brust gesunken.
»Eins, zwei – hoch!« rief Hrotrud. Sie zerrten Gudrun an den Armen in die Höhe und schüttelten sie auf und nieder. Die Ärmste kreischte und versuchte, sich aus dem Griff zu befreien. Schmerz und Angst verliehen ihr ungeahnte Kräfte; Hrotrud und ihr Helfer mußten sich sehr mühen, Gudrun zu bändigen. Hätte er mir doch bloß erlaubt, ihr das Bilsenkraut zu geben! dachte Hrotrud. Dann würde sie inzwischen so gut wie nichts mehr spüren.
Rasch ließen sie Gudrun herunter, doch sie wehrte sie weiterhin und schrie pausenlos. Hrotrud erteilte dem Dorfpriester einen zweiten Befehl, und wieder packten sie Gudrun, hoben sie hoch und schüttelten sie auf und ab; dann legten sie die Frau auf die Liegestatt. Halb bewußtlos lag sie da und murmelte in ihrer Barbaren-Muttersprache unverständliche Dinge. Gut, dachte Hrotrud. Wenn ich schnell mache, ist alles vorüber, bevor sie wieder richtig bei Sinnen ist.
Hrotrud schob die Hand in Gudruns Unterleib und suchte mit tastenden Fingern nach der Öffnung der Gebärmutter. Sie fand die Stelle und fühlte, daß sie von den langen Stunden nutzloser, ergebnisloser Wehen verkrampft und geschwollen war. Mit dem Nagel des rechten Zeigefingers, den sie sich zu diesem Zweck besonders lang hatte wachsen lassen, zerrte Hrotrud an dem widerspenstigen Gewebe. Gudrun stöhnte auf; dann wurde ihr Körper vollkommen schlaff. Warmes Blut strömte Hrotrud über die Hand, den Arm hinunter und aufs |15|Bett. Dann, endlich, spürte sie, wie die Öffnung sich erweiterte. Mit einem leisen Jubelschrei griff Hrotrud sanft hinein und bekam den Kopf des Ungeborenen zu fassen. Ganz vorsichtig drückte sie ihn hinunter.
»Packt ihre Schultern und drückt sie in meine Richtung«, wies Hrotrud den Dorfpriester an, dessen Gesicht nun ziemlich bleich geworden war. Dennoch gehorchte er: Hrotrud spürte, wie der Druck stärker wurde, als die Kraft des Mannes zu der ihren hinzukam. Nach einigen Minuten konnte sie fühlen, wie das Ungeborene sich bewegte. Beharrlich zog Hrotrud an dem winzigen Leib, vorsichtig darauf bedacht, die weichen Knochen an Kopf und Hals nicht zu verletzen. Endlich erschien der Kopf des Kindes, von dichtem, nassem Haar bedeckt. Behutsam zog Hrotrud den Kopf aus dem Leib der Mutter; dann drehte sie den Körper ein wenig zur Seite, um zuerst der linken, dann der rechten Schulter den Durchgang zu ermöglichen. Ein letzter kräftiger Ruck, und der kleine nasse Körper glitt in Hrotruds wartende Hände.
»Ein Mädchen«, verkündete die Hebamme. »Und ein gesundes und kräftiges obendrein, so wie’s aussieht«, fügte sie hinzu, nahm mit Zufriedenheit den kräftigen Schrei des Neugeborenen zur Kenntnis und betrachtete wohlgefällig die rosige Haut.
Sie wandte sich dem Dorfpriester zu – und blickte in dessen mürrisches Gesicht.
»Ein Mädchen«, sagte er abfällig. »Also war alles für die Katz.«
»So etwas solltet Ihr nicht sagen, Herr.« Hrotrud hatte plötzlich Angst, daß der Dorfpriester ihr aus Enttäuschung weniger Lebensmittel als Lohn geben könnte. »Das Kind ist kräftig und gesund. Gott hat ihr das Leben geschenkt, auf daß sie Eurem Namen Ehre mache.«
Der Dorfpriester schüttelte den Kopf. »Sie ist eine Strafe Gottes. Eine Strafe für meine Sünden – und die ihren.« Er zeigte auf Gudrun, die regungslos dalag. »Wird sie überleben?«
»Ja.« Hrotrud hoffte, daß ihre Stimme sich überzeugt anhörte. Sie konnte es sich nicht leisten, daß der Dorfpriester auf den Gedanken kam, womöglich gleich zweimal enttäuscht zu werden. Sie hoffte immer noch, heute abend ein saftiges Stück Fleisch zwischen die Zähne zu bekommen. |16|Außerdem bestanden ja tatsächlich begründete Aussichten, daß Gudrun überlebte. Sicher, es war eine schwere Geburt gewesen. Nach einer solchen Tortur erkrankten viele Frauen an Fieber und Auszehrung. Doch Gudrun war stark, und Hrotrud würde sie mit einer Wundsalbe aus Fuchsfett und Beifuß behandeln. »Ja«, wiederholte sie mit fester Stimme. »Wenn es Gottes Wille ist, wird sie überleben.« Hinzuzufügen, daß Gudrun wahrscheinlich nie mehr Kinder bekommen konnte, hielt Hrotrud nicht für erforderlich.
»Na, wenigstens das«, sagte der Dorfpriester. Er trat ans Bett und blickte auf Gudrun hinunter. Dann streichelte er ihr sanft über das weißgoldene Haar, das jetzt dunkel vom Schweiß war. Für einen Augenblick glaubte Hrotrud, der Dorfpriester würde seine Frau küssen. Dann aber veränderte sich plötzlich sein Gesichtsausdruck; er blickte ernst, ja zornig drein.
»Per mulierem culpa successit«, sagte er. »Durch eine Frau entstand die Sünde.« Er ließ Gudrun die schweißnasse Haarsträhne auf die Stirn fallen und trat zurück.
Hrotrud schüttelte den Kopf. Was war das denn für ein Spruch? Irgendwas aus dem heiligen Buch, kein Zweifel. Der Dorfpriester war wirklich ein seltsamer Mann; aber das sollte ihr egal sein, dem Himmel sei Dank. Sie machte sich eilig daran, Gudruns Körper von Blut und Fruchtwasser zu säubern, damit sie sich noch bei Tageslicht auf den Nachhauseweg machen konnte.
Gudrun schlug die Augen auf und sah den Dorfpriester neben dem Bett stehen. Der Anflug eines Lächelns gefror ihr auf den Lippen, als sie den Ausdruck in seinen Augen sah.
»Was ist, mein Gemahl?« fragte sie zögernd.
»Ein Mädchen«, erwiderte der Dorfpriester mit kalter Stimme und gab sich gar nicht erst die Mühe, sein Mißfallen zu verbergen.
Gudrun nickte; dann kehrte sie das Gesicht der Wand zu. Der Dorfpriester drehte sich um und wollte gehen, hielt dann aber kurz inne und warf einen Blick auf das Neugeborene, das bereits sicher und behaglich auf seiner strohgedeckten Pritsche lag.
»Johanna. Sie soll den Namen Johanna tragen«, verkündete er und verließ abrupt das Zimmer.