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Der Bau der Leoninischen Mauer, wie sie nun allgemein genannt wurde, machte rasche Fortschritte. Das Feuer hatte ihr nur wenig Schaden zufügen können; das hölzerne Baugerüst, das von den Arbeitern benutzt wurde, war niedergebrannt, und eine der Brustwehren im Westen hatte schwere Schäden davongetragen; aber das war auch schon alles. Allmählich verschwanden auch die technischen Probleme, die das Bauvorhaben zu Anfang erschwert hatten. Außerdem setzte eine ausgedehnte Schönwetterperiode ein – lange, kühle und sonnige Tage, an denen kein Tropfen Regen fiel. Aus den Steinbrüchen kam ein unablässiger Strom an Baumaterial von guter Qualität, und die Arbeiter wurden zunehmend geübter, arbeiteten Seite an Seite, besser aufeinander eingespielt.

Unter diesen günstigen Bedingungen wuchs die Mauer stetig. Zu Pfingsten war die oberste Reihe der Steine mannshoch. Jetzt gab es niemanden mehr, der das Vorhaben als närrisch bezeichnete, und niemand beklagte sich über die Zeit, das Geld und die Arbeitskraft, die für den Bau der Mauer verwendet wurden. Statt dessen wuchs in den Römern Stolz auf ihr Werk heran, das sich an Größe mit den Monumenten des versunkenen Imperiums messen konnte, als derartige Bauwerke keine Seltenheit, sondern beinahe alltäglich gewesen waren. Wenn die Mauer fertig war, würde sie gewaltig sein, monumental – eine riesige Barriere, die nicht einmal die Sarazenen durchbrechen oder erklettern konnten.

Doch die Zeit wurde knapp. An den Kalenden des Juli trafen Boten mit erschreckenden Nachrichten in der Stadt ein: Eine sarazenische Flotte sammelte sich bei Totarium, einer kleinen Insel vor der Ostküste Sardiniens, um einen weiteren Angriff auf Rom vorzubereiten.

Anders als Sergius, der auf die Kraft des Gebets vertraut |466|hatte, um die Stadt zu schützen, schlug Leo eine aggressivere Taktik ein. Sofort schickte er Boten in die mächtige Hafenstadt Neapel und bat die dortigen Herrscher, eine Flotte bewaffneter Schiffe loszuschicken, um den Feind bereits auf See anzugreifen.

Der Plan war kühn – und riskant, denn offiziell war Neapel noch immer Byzanz zur Bündnistreue verpflichtet, wenngleich es in Wahrheit seit Jahren unabhängig war. Würden die Mächtigen von Neapel den Römern in der Stunde der Not beistehen, oder würden sie die Gelegenheit nutzen und ihre Streitkräfte mit denen der Sarazenen vereinen, um zugunsten ihres offiziellen Verbündeten Byzanz einen Schlag gegen den Apostolischen Stuhl zu führen? Leos Plan steckte voller Gefahren. Doch welche Alternative gab es?

 

Zehn Tage wartete die Stadt voller Anspannung, was geschehen würde. Als die neapolitanische Flotte schließlich in Porto an der Mündung des Tiber eintraf, zog Leo unter dem Schutz einer großen Eskorte schwerbewaffneter päpstlicher Gardisten, die von Gerold befehligt wurden, wachsam aus der Stadt, um sich mit den Heerführern aus Neapel zu treffen.

Die Ängste der Römer verflüchtigten sich, als Caesarius, der Kommandeur der neapolitanischen Flotte, vor Leo auf die Knie fiel und dem Papst demütig die Füße küßte. Leo – der sich das volle Ausmaß seiner Erleichterung vorsichtshalber nicht anmerken ließ – segnete Caesarius und stellte die geheiligten Körper der Apostel Petrus und Paulus feierlich unter den Schutz des Neapolitaners.

Rom hatte die erste Würfelrunde des Schicksals glücklich überstanden; vom nächsten Wurf hing ihrer aller Zukunft, ja, ihr Leben ab.

 

Am Morgen darauf erschien die sarazenische Flotte. Die breiten Lateinsegel der Schiffe erstreckten sich wie die geöffneten Krallen eines Ungeheuers, die nach Rom packen wollten, am Horizont. Verängstigt zählte Johanna die Segel – fünfzig, dreiundfünfzig, siebenundfünfzig – immer mehr erschienen – achtzig, fünfundachtzig, neunzig – gab es überhaupt so viele Schiffe auf der Welt? – einhundert, einhundertzehn, einhundertzwanzig! Deo, iuva nos! Die neapolitanische Flotte war nur einundsechzig Schiffe stark; nahm man die sechs römischen |467|Biremen hinzu, die noch seetüchtig waren, ergab sich eine Gesamtzahl von siebenundsechzig Schiffen, so daß der Gegner knapp zwei zu eins überlegen war.

Leo stand auf der Treppe der Kirche Santa Aurea in Porto und betete den verängstigten Einwohnern des Ortes vor: »O Herr, der du Petrus davor bewahrt hast, im Wasser zu versinken, als er über die Wellen schritt, der du Paulus davor bewahrt hast, vom Meer verschlungen zu werden, erhöre uns. Verleihe deinen Streitern Kraft, die deine gläubigen Diener sind und die Feinde deiner Kirche bekämpfen, auf daß durch ihren Sieg dein geheiligter Name auf dem ganzen Erdkreis gepriesen werde.«

Das inbrünstige »Amen« der Gläubigen, die sich vor der Kirche versammelt hatten, ließ die Luft erzittern.

Vom Deck des vorderen Schiffes aus erteilte Caesarius mit Donnerstimme seine Befehle. Die Neapolitaner legten sich in die Riemen; die Muskeln der Männer spannten sich. Für einen Augenblick standen die schweren Biremen bewegungslos im Wasser. Dann, mit einem lauten Ächzen und Stöhnen der Planken, trieben sie majestätisch von der Küste fort. Die Ruder, die zu beiden Seiten aus den Schiffsrümpfen ragten, bewegten sich in stetem Rhythmus auf und ab, auf und ab, und funkelten, als wären sie mit Edelsteinen besetzt. Dann erfaßte der Wind die Segel und blähte sie, und die riesigen Biremen gewannen an Geschwindigkeit; ihre eisenbeschlagenen Rümpfe zerschnitten das türkisfarbene Wasser und zogen mächtige, gischtende Fährten.

Die sarazenischen Schiffe drehten bei, um sich dem Feind zu stellen. Doch bevor die gegnerischen Flotten aufeinandertreffen konnten, kündete ein plötzliches, ohrenbetäubendes Krachen und Donnern von einem nahenden Unwetter. Der Himmel verdunkelte sich, als schwarze Wolken aus Richtung des Meeres von einem Sturmwind herangepeitscht wurden. Den schweren neapolitanischen Zweiruder-Schiffen gelang es, in die Sicherheit des Hafens zurückzueilen. Die kleineren sarazenischen Schiffe jedoch, die um der Schnelligkeit und Wendigkeit in der Schlacht wegen eine niedrige Freibordhöhe besaßen, waren zu leicht gebaut, als daß sie dem Unwetter hätten entfliehen können. Sie wurden von den riesigen Wogen emporgeschleudert und hilflos hin und her geworfen wie Blätter auf einem sturmgepeitschten See. Die eisernen Rammen an |468|den Bügen prallten gegen die Schwesterschiffe und rissen ihnen die Rümpfe auf.

Viele sarazenische Schiffe versuchten, den feindlichen Hafen anzusteuern. Doch kaum erreichten sie die Küste, stürmten die Römer die Schiffe, und die Besatzungen wurden mit jenem gewalttätigen und wilden Zorn, der aus dem Entsetzen geboren wird, gnadenlos niedergemacht oder von den Schiffen gezerrt und an hastig am Ufer errichteten Galgen erhängt. Als sie das Schicksal ihrer Kameraden sahen, flüchteten die Besatzungen der übrigen sarazenischen Schiffe voller Panik aufs offene Meer, wo sie von den sturmgepeitschten Wogen verschlungen wurden.

Im Augenblick dieses unerwarteten Sieges beobachtete Johanna den Papst. Leo stand auf den Stufen der Kirchentreppe, die Arme erhoben und die Augen voller Dank zum Himmel gerichtet. Er sah ätherisch aus, himmlisch und übernatürlich, so, als wäre er von einer göttlichen Wesenheit berührt worden.

Vielleicht kann er tatsächlich Wunder wirken, dachte Johanna, als sie vor Leo hin trat und sich verbeugte.

 

»Sieg! Sieg in Ostia!« Die Neuigkeit verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch die Stadt. Jubelnd stürmten die Römer auf die Straßen; die päpstlichen Lagerhäuser wurden geöffnet, und kostenlos floß der Wein in Strömen; drei Tage lang gab die Stadt sich ausgelassenen Feiern hin.

Vor den Augen johlender, feindseliger Menschenmengen wurden fünfhundert gefangene Sarazenen in die Stadt getrieben. Viele wurden schon auf den Straßen gesteinigt, erschlagen oder erstochen. Die Überlebenden, etwa dreihundert an der Zahl, brachte man in Ketten in ein Lager auf der Neronischen Ebene, wo sie gefangengehalten wurden und unter strenger Bewachung an der Leoninischen Mauer mitarbeiten mußten.

Dank dieser zusätzlichen dreihundert Arbeitskräfte wuchs die Mauer noch schneller als zuvor. Nach dreijähriger Bauzeit war sie schließlich fertiggestellt – ein Meisterwerk der Architektur; das außergewöhnlichste Bauwerk, das die Stadt seit Hunderten von Jahren gesehen hatte. Das gesamte vatikanische Territorium – die Leostadt – war nun von einem Schutzwall umschlossen, der vier Meter dick und mehr als zwölf Meter hoch war und von vierundvierzig gewaltigen Türmen |469|bewacht wurde. Durch drei Tore gelangte man in die Stadt: das Posterula Sant’ Angeli, das Posterula Saxonum – so genannt, weil es in die sächsische Gemeinde führte – und das Posterula San Peregrinus, das Haupttor, durch das künftige Generationen von Königen und Prinzen ziehen sollten, um vor dem Grab des heiligen Petrus zu beten.

Doch so bemerkenswert die Mauer auch war – sie war erst der Anfang der ehrgeizigen Baupläne Leos für die Stadt Rom. Der »Wiedererrichtung aller Plätze der Heiligen« gewidmet, begann der Papst mit einem gewaltigen Restaurierungsprogramm. Das Klingen von Ambossen schallte Tag und Nacht durch die Stadt, als an einer Kirche Roms nach der anderen die Arbeit aufgenommen wurde. Die niedergebrannte Basilika der sächsischen Gemeinde wurde ebenso wieder aufgebaut wie die friesische Kirche Sankt Michael und die Quattro Coronati, an der Leo einst Kardinal gewesen war.

Doch das bedeutendste Vorhaben Papst Leos war der Wiederaufbau der Peterskirche. Der verbrannte und geschwärzte Säulengang wurde vollkommen neu errichtet; die Türen, von den Sarazenen ihres kostbaren Metalls beraubt, wurden mit neuen, schimmernden Platten aus Silber versehen, in die mit erstaunlicher Kunstfertigkeit Abbildungen aus ungezählten Heiligengeschichten eingraviert waren. Die Schätze, die von den Sarazenen geraubt worden waren, wurden ersetzt. So erhielt der Hochaltar eine neue Verkleidung aus Gold- und Silberplatten; außerdem wurde er durch ein Kruzifix aus massivem Gold verziert, das mit kostbaren Perlen, Smaragden und Brillanten besetzt war; über diesem Kreuz wurde ein großes silbernes Tabernakel von mehr als einer Tonne Gewicht auf vier riesige Säulen aus feinstem Travertinmarmor aufgesetzt, die mit goldenen Lilien verziert waren. Der Altar wurde von Lampen beleuchtet, die an Ketten aus Silber hingen und mit Kugeln aus Gold verziert waren; ihr flackerndes Licht erleuchtete eine wahre Schatztruhe aus edelsteinbesetzten Kelchen, geschmiedeten silbernen Chorpulten, prächtigen Bildteppichen und feinsten Wandbehängen aus Seide. Die Kirche erstrahlte in einem neuen Glanz, der selbst die frühere, von den Sarazenen zerstörte Pracht in den Schatten stellte.

Als Johanna beobachtete, welche ungeheueren Geldsummen für den Wiederaufbau aus der päpstlichen Schatzkammer |470|strömten, stieg Unbehagen in ihr auf. Es war nicht zu leugnen, daß Leo ein neues Heiligtum von ehrfurchtgebietender Schönheit hatte errichten lassen. Doch die Mehrheit der Römer, die in der Nähe dieser funkelnden Pracht wohnten, mußten ihr Leben in jämmerlicher, erniedrigender Armut verbringen. Nur eine einzige von den massiven silbernen Platten an den Türen von Sankt Peter, in Münzen gegossen, hätte die gesamte Einwohnerschaft des Stadtteils Campus Martius ein Jahr lang ernähren können. Erforderte die Verehrung Gottes wirklich so große Opfer?

Es gab nur einen Menschen auf Erden, dem Johanna eine solche Frage anzuvertrauen wagte. Gerold dachte lange und gründlich darüber nach, bevor er antwortete.

»Ich habe mal irgendwo gelesen«, sagte er, »daß die Schönheit eines heiligen Schreines dem Gläubigen eine andere Form von Nahrung gibt – nicht für den Körper, sondern für die Seele.«

»Es ist schwer, die Stimme Gottes zu hören, wenn einem der Magen knurrt.«

Gerold blickte Johanna liebevoll an und schüttelte den Kopf. »Du hast dich nicht verändert. Kannst du dich noch daran erinnern, wie du Odo gefragt hast, weshalb man sicher sein könne, daß Christus auferstanden sei, wo es doch niemand gesehen hat?«

»Ja.« Reumütig spreizte Johanna die Hände. »Ich kann mich auch erinnern, auf welche Weise Odo geantwortet hat.«

»Als ich die Wunden auf deinen Handflächen sah«, sagte Gerold, »hätte ich ihn am liebsten erschlagen – und ich hätte es getan, wäre ich mir nicht im klaren darüber gewesen, daß dadurch alles nur noch schwerer für dich geworden wäre.«

Johanna lächelte ihn an. »Du warst immer schon mein Beschützer.«

»Und du«, sagte er grinsend, »hattest immer schon die Seele einer Ketzerin.«

So wie jetzt – frei von allem Mißtrauen, allen Einschränkungen und allen Ängsten – hatten sie schon immer miteinander reden können, solange sie sich kannten. Es war ein Teil jener besonderen Vertrautheit, die sie füreinander empfanden und die sie von Anfang an gespürt hatten. Gerold schaute Johanna voller Liebe und Wärme an, und sie fühlte seine Blicke beinahe körperlich, so, als würde er ihre nackte Haut berühren. |471|Doch inzwischen war sie sehr erfahren, wenn es darum ging, ihre Gefühle zu verbergen.

Sie zeigte auf einen Stapel Bittschriften, der vor ihnen auf dem Tisch lag. »Ich muß jetzt gehen und mir diese Bittsteller anhören.«

»Ist das nicht Papst Leos Sache?« fragte Gerold.

»Er hat mich gebeten, daß ich mich darum kümmere.«

In letzter Zeit hatte Leo immer mehr von seinen alltäglichen Aufgaben an Mitarbeiter übertragen, so daß er sich um so eingehender mit seinen Plänen für den Wiederaufbau der römischen Kirchen beschäftigen konnte. Johanna war zu einer Art Botschafterin Leos für die Römer geworden; mittlerweile war sie ein vertrauter Anblick, wenn sie in den verschiedenen Stadtteilen ihren wohltätigen Aufgaben nachging, so daß die Leute sie den »kleinen Papst« nannten und sie mit einem gut Teil jener Zuneigung und Achtung begrüßten, die eigentlich Leo zustanden.

Als Johanna den Arm nach dem Stapel Bittschriften ausstreckte, streifte Gerolds Hand die ihre. Hastig zog sie den Arm zurück, als hätte sie sich verbrannt. »Ich … ich sollte jetzt besser gehen«, sagte sie unbeholfen.

Sie war unendlich erleichtert – und ein bißchen enttäuscht –, daß Gerold ihr nicht folgte.

 

Wegen des erfolgreichen Baues der Leoninischen Mauer und der Wiedererrichtung der Peterskirche stieg Leos Beliebtheit zu neuen Höhen. Restaurator Urbis nannten die Leute ihn – den Mann, der Rom wiederaufbaute. Er wurde als »neuer Hadrian« bezeichnet, oder als »zweiter Aurelius«. Ganz Rom hallte wider von den Lobgesängen auf den Papst; überall jubelten die Menschen ihm zu, bewunderten ihn, verehrten ihn.

Überall – nur nicht im Palast auf dem palatinischen Hügel, in dem Bischof Arsenius mit wachsender Ungeduld auf jenen Tag wartete, an dem er Anastasius nach Hause rufen konnte.

Die Dinge hatten sich anders entwickelt als erwartet. Es gab keine Möglichkeit, Leo vom Papstthron zu stoßen, wie Arsenius ursprünglich gehofft hatte – und noch weniger Hoffnung bestand darauf, daß dieser Thron durch den glücklichen Umstand frei wurde, daß Leo starb: Gesund und voller Energie erweckte dieser Mann den Anschein, ewig zu leben.

|472|Und nun hatte Arsenius’ Familie einen weiteren Schicksalsschlag hinnehmen müssen. Letzte Woche war Arsenius’ zweiter Sohn Eleutheris gestorben. Er war die Via Recta hinuntergeritten, als plötzlich ein Schwein zwischen die Beine seines Pferdes gestürmt war; das Pferd hatte sich aufgebäumt, und Eleutheris war aus dem Sattel zu Boden gestürzt, wobei er sich eine Schnittwunde an der Hüfte zuzog. Zuerst hatte niemand sich Sorgen gemacht; es war nur eine leichte Verletzung.

Doch ein Unglück kommt bekanntlich selten allein. Die Wunde hatte sich entzündet. Arsenius hatte Ennodius rufen lassen; der hatte Eleutheris zwar reichlich zur Ader gelassen, aber nichts damit erreicht. Nach nur zwei Tagen war der junge Mann gestorben. Arsenius hatte unverzüglich Nachforschungen darüber anstellen lassen, wem das Schwein gehörte, das dem Pferd seines Sohnes zwischen die Beine gerannt war; als man den Eigentümer ermittelt hatte, ließ Bischof Arsenius ihm die Kehle von einem Ohr bis zum anderen aufschlitzen. Aber die Rache bescherte ihm nur wenig Trost, denn sie brachte ihm Eleutheris nicht zurück.

Nicht, daß eine tiefe Liebe zwischen Vater und Sohn bestanden hätte: Eleutheris war das genaue Gegenteil seines Bruders Anastasius – schon als Kind weich, träge und undiszipliniert, hatte er verächtlich das Angebot des Vaters ausgeschlagen, eine kirchliche Ausbildung zu durchlaufen; statt dessen entschied er sich für die handfesteren Vorzüge des Lotterlebens: Frauen, Wein, Glücksspiel und andere Formen der Ausschweifungen.

Nein, Arsenius betrauerte bei Eleutheris’ Tod nicht den Menschen, der er gewesen war oder noch hätte werden können, wäre ihm genug Zeit geblieben – er trauerte um das, wofür Eleutheris gestanden hatte: einen anderen Zweig des Familienbaumes – ein Zweig, der vielleicht irgendwann einmal vielversprechende Früchte getragen hätte.

Jahrhundertelang waren sie die führende Familie Roms gewesen. Stolz konnte Arsenius seine Herkunft in direkter Linie bis auf den großen Kaiser Augustus zurückführen. Doch seine edle Abstammung hatte durch Versagen und Versäumnisse an Glanz verloren, denn keiner der adeligen Söhne hatte je den höchsten aller Siegespreise errungen: den Thron des heiligen Petrus. Wie viele Männer niederer Herkunft haben schon auf |473|diesem Thron gesessen! dachte Arsenius voller Bitterkeit. Und mit welch tragischem Ergebnis! Rom – das mächtige Rom, einst der Beherrscher der Welt –, war zu einer Stadt des ruinösen und beschämenden Verfalls herabgesunken. Die Byzantiner machten sich offen über die Stadt lustig und wiesen stolz auf den prunkvollen Glanz ihres Konstantinopel hin. Doch wer aus Arsenius’ Familie, dieser Erben des Cäsar Augustus, konnte die Stadt wieder zu alter Größe führen?

Nun war Eleutheris tot, und Anastasius war der letzte in der Reihe, die einzige verbliebene Chance für die Familie, ihre Ehre zu retten – und Rom.

Und Anastasius war ins Frankenreich verbannt.

Arsenius spürte, wie schwarze Verzweiflung von ihm Besitz ergreifen wollte. Entschlossen schüttelte er sie ab, wie einen schlecht sitzenden Umhang. Wahre Größe wartete nicht auf die passenden Umstände, sich zu entfalten, sie schuf sich diese Umstände selbst. Und die Regierenden mußten bereit sein, den Preis für die Macht zu entrichten, wie hoch er auch sein mochte.

 

Während der Messe am heiligen Fest Johannes des Täufers bemerkte Johanna zum erstenmal, daß mit Leo irgend etwas nicht stimmte. Seine Hände zitterten, als er die Hostien verteilte, und mit ungewohnt stockender Stimme betete er das Responsorium.

Als Johanna ihn nach der Messe darauf ansprach, tat er die Symptome als harmlose Magenverstimmung ab.

Am nächsten Tag war keine Besserung eingetreten; auch nicht am übernächsten und auch nicht am Tag danach. Leo litt unter ständigem Kopfweh und klagte über brennende Schmerzen in den Händen und Füßen. Jeden Tag wurde er schwächer; jeden Tag kostete das Aufstehen ihn größere Mühe. Johannas Ängste wuchsen. Sie benutzte alle Heilmittel, die sie kannte. Nichts half. Die Krankheit, die Leos Körper auszehrte, ließ sich nicht aufhalten. Unaufhaltsam sank er dem Tod entgegen.

 

Laut erhoben sich die Stimmen des Chores beim Te Deum, dem abschließenden Lobgesang der Messe. Anastasius versuchte, bei den disharmonischen Klängen nicht das Gesicht zu verziehen, und behielt seine ausdruckslose Miene bei. Er hatte |474|sich nie an diesen fränkischen Gesang gewöhnen können, dessen rauhe Töne ihm wie das Krächzen von Raben in den Ohren kratzte. Als Anastasius an die lieblichen, harmonischen Gesänge in den römischen Kirchen dachte, verspürte er einen schmerzhaften Stich des Heimwehs.

Nicht, daß die Zeit in Aachen verschwendet gewesen wäre: Den Anweisungen seines Vaters gemäß, hatte Anastasius entschlossen daran gearbeitet, die Unterstützung des Kaisers zu gewinnen. Er umwarb Lothars Freunde und Vertraute; er hegte ein freundschaftliches Verhältnis zu Lothars Frau Ermengard; er umschmeichelte eifrig die fränkischen Adeligen und beeindruckte sie mit seinem Bibelwissen und besonders mit seinen Griechischkenntnissen – eine seltene Fertigkeit. Ermengard und ihre Freundinnen verwendeten sich beim Kaiser für Anastasius, und der in Ungnade gefallene Kardinal erwarb sich wieder Lothars Sympathien. Der Groll, den der Kaiser ihm gegenüber gehegt haben mochte, verflog ebenso wie die Zweifel an Anastasius’ Loyalität. Bald konnte der Kardinal sich wieder des Vertrauens und der Unterstützung Lothars erfreuen.

Ich habe alle Wünsche meines Vaters erfüllt – und mehr. Aber wann werde ich meinen Lohn bekommen? Es gab Zeiten – so wie jetzt –, da Anastasius befürchtete, er müsse vielleicht für immer in diesen kalten, barbarischen Landen im Norden bleiben.

Als er nach der Messe auf seine Gemächer zurückkehrte, entdeckte er einen Brief, der während seiner Abwesenheit eingetroffen sein mußte. Als er die Handschrift seines Vaters erkannte, nahm Anastasius ein Messer und schnitt hastig das Siegel durch. Nachdem er die ersten Zeilen gelesen hatte, stieß er einen Freudenschrei aus.

Die Zeit ist reif, hatte sein Vater geschrieben. Komm und mache deinen Anspruch geltend.

 

Leo lag auf der Seite im Bett. Er hatte die Knie an den Leib gezogen, so schlimm wütete der Schmerz in seinem Magen. Johanna bereitete ein Linderungsmittel aus Eiweiß, das in gesüßte Milch geschlagen war, in die sie als Mittel gegen Blähungen ein wenig Fenchel gegeben hatte. Sie beobachtete, wie Leo den Trank zu sich nahm.

»Das hat gut getan«, sagte er.

|475|Johanna wartete, ob Leo das Mittel im Magen behielt. Zu ihrer Erleichterung war das der Fall. Dann schlief Leo so ruhig wie seit Wochen nicht mehr, und als er Stunden später erwachte, fühlte er sich besser.

Johanna beschloß, ihm eine strenge Diät aus Heiltränken zu verabreichen; alle anderen Speisen und Getränke waren vorerst gestrichen.

Waldipert protestierte. »Er ist viel zu schwach! Er braucht vernünftiges Essen, um wieder zu Kräften zu kommen.«

Johanna erwiderte fest: »Die Behandlung hilft ihm. Vorerst braucht er keine andere Nahrung als die Heiltränke.«

Als er den entschlossenen Ausdruck in Johannas Augen sah, gab Waldipert klein bei. »Wie Ihr wünscht, nomenclator.«

Eine Woche lang besserte sich Leos Gesundheitszustand. Die Schmerzen verschwanden, und sein Gesicht bekam wieder Farbe, ja, er schien sogar ein wenig von seiner alten Energie zurückzuerlangen. Als Johanna ihm eines Abends seinen Heiltrank brachte, betrachtete Leo die milchig-trübe Mixtur mit leichtem Widerwillen.

»Wie wär’s statt dessen mit einer Fleischpastete?«

»Ah, Ihr bekommt wieder Appetit. Das ist ein gutes Zeichen. Aber es ist besser, nichts zu überstürzen. Nehmt jetzt bitte Euren Trank; ich schaue morgen früh wieder nach Euch. Falls Ihr dann immer noch hungrig seid, werde ich Euch eine leichte Gemüsesuppe kochen.«

»Tyrann!« schimpfte er. »Henkersknecht!«

Johanna lächelte zuversichtlich. Leo war offensichtlich auf dem Wege der Besserung.

Doch als sie früh am nächsten Morgen nach ihm schaute, hatte er einen Rückfall erlitten. Stöhnend lag er im Bett; seine Schmerzen waren so schlimm, daß er nicht einmal auf Johannas Fragen antworten konnte.

Rasch bereitete sie ein frisches Schmerzmittel. Während sie noch damit beschäftigt war, fiel ihr Blick auf einen leeren Teller, auf dem Essensreste zu sehen waren und der auf dem Tisch neben dem Bett stand.

»Was ist das?« fragte sie Renatus, Leos persönlichen Kammerdiener.

»Wieso fragt Ihr?« entgegnete der Junge verwundert. »Ich habe Seiner Heiligkeit die Fleischpastete gebracht, wie Ihr es angeordnet hattet.«

|476|»Ich habe nichts dergleichen angeordnet!«

Renatus blickte verwirrt drein. »Aber … aber mein Herr, der vicedominus, hat gesagt, Ihr hättet es ausdrücklich befohlen.«

Johanna betrachtete Leo, der sich vor Schmerzen krümmte, und ein schrecklicher Verdacht stieg in ihr auf.

»Lauf!« befahl sie Renatus. »Hol den superista und die Wachen! Und sorge dafür, daß Waldipert den Palast nicht verläßt!«

Der Junge zögerte nur einen Augenblick; dann stürmte er aus dem Schlafgemach.

Mit zitternden Händen bereitete Johanna ein starkes Brechmittel aus Senf und Essig; dann flößte sie Leo die gelbe Mixtur löffelweise ein. Nach wenigen Augenblicken überkam ihn der reinigende Krampf; sein ganzer Körper bäumte sich konvulsivisch auf, doch er erbrach lediglich dünne grüne Galle.

Zu spät. Das Gift ist schon aus seinem Magen und im Körper. Voller Entsetzen beobachtete Johanna, daß es bereits seine todbringende Arbeit aufgenommen hatte: Es spannte die Muskeln an Leos Kiefer und der Kehle und erwürgte ihn.

Fieberhaft überlegte Johanna, was sie noch tun konnte.

 

Gerold erteilte den Befehl, jedes Zimmer im Palast zu durchsuchen. Waldipert war nirgends zu finden. Sofort wurde der vicedominus zum flüchtigen Verbrecher erklärt und in allen Stadtteilen eine intensive Suche eingeleitet, die bis in die umliegenden Landstriche hinein geführt wurde. Doch die Jagd nach dem Attentäter war erfolglos; Waldipert war wie vom Erdboden verschluckt.

Als die Männer ihre Suche schon aufgeben wollten, wurde Waldipert gefunden. Er trieb im Tiber; seine Kehle war von einem Ohr bis zum anderen aufgeschlitzt, und auf seinem starren Gesicht lag noch immer ein Ausdruck der Verwunderung.

 

Der Klerus und die hohen Beamten Roms hatten sich im päpstlichen Schlafgemach versammelt. Dichtgedrängt standen sie am Fuße des Bettes, als wollten sie einander durch die körperliche Nähe Trost spenden.

Die Flammen der Öllampen brannten niedrig in ihren silbernen Feuerschalen. Beim ersten Licht des neuen Tages kam der oberste Kammerdiener aufs Zimmer, um die Lampen zu |477|löschen. Johanna beobachtete, wie der alte Mann die Stricke in den Wandhalterungen löste und die Lampen mit äußerster Vorsicht herunterließ, um nichts von dem kostbaren Öl zu vergießen. Diese schlichte, alltägliche Geste erschien Johanna in der gefühlsgeladenen Atmosphäre des Schlafgemachs seltsam fehl am Platze.

Johanna hatte nicht damit gerechnet, daß Leo diese Nacht überlebte. Seit langer Zeit schon reagierte er nicht mehr auf Worte oder auf Berührungen, und seit Stunden war seine Atmung dem gleichen unveränderlichen Ablauf gefolgt: Zuerst wurde sie immer lauter, ging immer schneller und keuchender, bis sie zu einem beängstigenden Crescendo angestiegen war – um dann abrupt auszusetzen. Immer dann verharrten alle Anwesenden und erwarteten das Ende; doch bis jetzt hatte der schreckliche Kreislauf jedesmal von neuem begonnen.

Eine plötzliche Bewegung erregte Johannas Aufmerksamkeit. Auf der anderen Seite des Zimmers war der Erzpriester Eustathius in Tränen ausgebrochen; er hatte sich den Ärmel seines Umhangs vor den Mund geschlagen, um seine Schluchzer zu dämpfen.

Wieder stieß Leo mit einem lang anhaltenden, rasselnden Laut den Atem aus; dann verstummte er aufs neue. Diesmal zog die Stille sich schier endlos dahin. Johanna trat vor. Das Leben war aus Leos Gesicht gewichen. Sie drückte ihm die Augen zu und ließ sich neben dem Bett auf die Knie fallen.

Eustathius schrie vor Kummer laut auf. Die Bischöfe und optimates knieten zum Gebet nieder. Paschal, der primicerius, bekreuzigte sich; dann verließ er das Schlafgemach, um denen, die draußen warteten, die traurige Botschaft zu überbringen.

Papst Leo, Bischof von Rom, Statthalter Jesu Christi, Nachfolger der Apostelfürsten, Summus pontifex der gesamten Kirche, Patriarch des Abendlandes, Erzbischof und Metropolit der römischen Kirchenprovinz, Souverän des Staates der Vatikanstadt, war tot.

Draußen vor dem Patriarchum begann das Jammern und Klagen.

 

Leo wurde in der Peterskirche beigesetzt, vor dem Altar eines neuen Oratoriums, das ihm geweiht war. Zu dieser Jahreszeit |478|wurden Bestattungen rasch vorgenommen, wobei die Person des Verstorbenen keine Rolle spielte; denn in der römischen Julihitze setzte der Verwesungsprozeß sehr schnell ein.

Kurz nach der Beisetzung Leos verkündete das Interimstriumvirat für die »papstlose« Zeit – Erzdiakon Desiderius, Erzpriester Eustathius und primicerius Paschal –, daß die Wahl des neues Papstes in drei Tagen stattfände. Mit Lothar im Norden, den Sarazenen im Süden und den Langobarden und Byzantinern dazwischen, war Roms Lage zu gefährlich, als daß der Thron des heiligen Petrus länger hätte unbesetzt bleiben dürfen.

 

Es geht zu schnell, dachte Arsenius voller Zorn, als er die Neuigkeit erfuhr. Die Wahl findet zu früh statt! Bis dahin kann Anastasius noch nicht hier sein. Waldipert, dieser stümperhafte Dummkopf, hatte alles verpfuscht. Dabei hatte dieser Narr genaue Anweisungen erhalten, wie er das Gift nach und nach verabreichen mußte, in kleinen Dosen; auf diese Weise hätte Leo mindestens einen Monat lang kränkeln müssen – und sein Tod hätte keinen Verdacht erregt.

Doch Waldipert hatte die Nerven verloren; er hatte Leo eine zu starke Dosis verabreicht und ihn dadurch binnen weniger Stunden getötet. Und dann hatte dieser Versager auch noch die Frechheit besessen, zu Arsenius zu kriechen und ihn um Schutz anzuflehen! Tja, das Gesetz kann Waldipert jetzt wirklich nichts mehr anhaben; diesen Gefallen habe ich ihm getan, dachte Arsenius, wenn auch auf andere Weise, als er es sich vorgestellt hatte.

Arsenius hatte nicht zum erstenmal den Befehl erteilt, einen Menschen zu töten; das war der Preis, den man für die Macht entrichten mußte, und nur die Schwachen schreckten davor zurück, ihn zu bezahlen. Doch nie zuvor hatte Arsenius jemanden ermorden lassen, den er so gut gekannt hatte wie Waldipert. Aber so widerwärtig diese Sache auch gewesen sein mochte – sie war unumgänglich. Denn hätten die Leute des Papstes Waldipert gefaßt, hätte er unter der Folter geredet und alles gestanden, was er wußte. Arsenius hatte lediglich getan, was getan werden mußte, um sich und seine Familie zu schützen. Er hätte jeden vernichtet, der die Sicherheit seiner Familie gefährdete; er hätte ihn zerquetscht, wie man einen Floh zerdrückt, der einen zwischen den Fingern gebissen hat.

|479|Dennoch hatte Waldiperts Tod in Arsenius’ Innerem ein Gefühl der Trauer und des Unbehagens hinterlassen. Derartige Gewalttaten, und mochten sie noch so notwendig sein, forderten nun einmal einen hohen Tribut.

Arsenius schob diese Gedanken von sich und wandte sich dringlicheren Angelegenheiten zu. Daß sein Sohn nicht in der Stadt war, machte die Dinge komplizierter; dafür zu sorgen, daß man Anastasius zum neuen Papst wählte, würde jetzt noch schwieriger werden, war aber nicht unmöglich. Zuerst einmal mußte Arsenius den Erzpriester Eustathius aufsuchen, um die Exkommunikation gegen Anastasius aufheben zu lassen. Um dieses Problem zu bewältigen, war kompliziertes politisches Taktieren erforderlich. Arsenius nahm eine edelsteinbesetzte Klingel von seinem Pult und läutete nach seinem Schreiber. Es gab sehr viel zu tun und nur sehr wenig Zeit.

 

In ihrem kleinen Labor im Patriarchum stand Johanna am Arbeitstisch und zerstampfte in ihrem Mörser getrockneten Ysop zu feinem Pulver. Mahlen und stampfen, mahlen und stampfen – die gewohnten Bewegungen der Hände und Handgelenke mit dem Stößel waren lindernder Balsam für den Schmerz und die Trauer in ihrem Innern.

Leo war tot. Es schien unfaßbar, unmöglich. Er war so voller Energie gewesen, so kraftvoll – schon zu Lebzeiten eine beinahe überlebensgroße Gestalt. Wäre es diesem Mann gelungen, Rom endgültig aus dem Sumpf des Verfalls und der Armut zu ziehen, in dem die Stadt seit Jahrhunderten steckte? Sein Herz war groß genug dafür gewesen, und seine Willenskraft hätte genügt. Aber die Zeit war ihm nicht vergönnt gewesen.

Die Tür wurde geöffnet, und Gerold trat ins Zimmer. Ihre Blicke trafen sich; Johanna spürte seine Präsenz so klar und deutlich, als hätte er sie berührt.

»Ich habe gerade die Nachricht erhalten«, sagte er knapp, »daß Anastasius aus Aachen abgereist ist.«

»Du glaubst doch nicht etwa, er kommt hierher?«

»Doch. Warum sonst hätte er den kaiserlichen Hof so schnell verlassen sollen? Er kommt nach Rom, um Anspruch auf den Thron zu erheben, der ihm vor sechs Jahren verweigert wurde.«

|480|»Aber er kann nicht zum Papst gewählt werden. Er ist exkommuniziert.«

»Arsenius arbeitet schon eifrig daran, die Exkommunikation aufheben zu lassen. Er hat sich bereits an den Erzpriester gewandt.«

»Großer Gott!« Das waren in der Tat schlechte Nachrichten. Nach sechs Jahren Exil am kaiserlichen Hof in Aachen war Anastasius gewiß mehr als je zuvor Lothars Marionette. Falls man ihn zum Papst wählte, würde Lothars Macht sich über Rom und alle seine Territorien ausbreiten.

»Anastasius wird nicht vergessen haben, daß du dich bei der Wahl Leos gegen ihn ausgesprochen hast. Falls man ihn zum Papst wählt, wird es gefährlich für dich, in Rom zu bleiben. Anastasius ist ein Mann, der niemals vergißt.«

Als sich zu dem Leid über Leos Tod nun auch noch Gerolds Worte gesellten, brach Johanna in Tränen aus.

»Nicht weinen, mein Schatz,« sagte Gerold und nahm sie in seine starken, tröstenden Arme. Seine Lippen berührten ihre Schläfen, ihre Wangen, und erweckten in Johanna den Wunsch, diese Zärtlichkeiten zu erwidern. »Du hast genug getan, weiß Gott«, fuhr er fort, »und genug Opfer gebracht. Laß uns zusammen fortgehen, und dann leben wir so, wie wir es längst hätten tun sollen – als Mann und Frau.«

Durch einen Schleier von Tränen sah Johanna sein Gesicht dicht vor dem ihren, und dann küßte er sie sanft.

»Sag ja«, bat er sie. »Sag ja.«

Johanna hatte das Gefühl, als würde sie unter die Oberfläche der bewußten Wahrnehmung hinabgezogen, von einem gewaltigen Strom des Verlangens erfaßt und davongerissen. »Ja«, flüsterte sie, bevor ihr klar wurde, was sie sagte. »Ja.«

Sie hatte ohne bewußten Willen gesprochen und impulsiv auf die Kraft seiner Leidenschaft reagiert. Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, spürte sie, wie tiefe Ruhe sich über sie senkte. Die Entscheidung war gefallen, und sie schien richtig und unvermeidlich zugleich zu sein.

Wieder beugte Gerold sich zu Johanna hinunter und küßte sie. In diesem Moment läutete die Glocke und rief zum Mittagsmahl. Augenblicke später erklangen Stimmen und eilige Schritte vor der Tür.

Mit gemurmelten Zärtlichkeiten lösten sie ihre Umarmung |481|und versprachen einander, sich vor der Papstwahl wiederzutreffen.

 

Am Tag der Wahl betete Johanna in Sankt Michael, der kleinen fränkischen Kirche, an der sie als Hilfspriester gewirkt hatte, nachdem sie nach Rom gekommen war.

Beim großen Feuer bis auf die Grundmauern niedergebrannt, war auch die Sankt Michael mit Baumaterial wiedererrichtet worden, das man aus antiken römischen Tempeln und Monumenten herangeschafft hatte. Als Johanna nun vor dem Hochaltar kniete, bemerkte sie, daß der marmorne Sockel das Symbol der Magna Mater trug, der uralten Erdgöttin, die in grauer Vorzeit von heidnischen Stämmen verehrt worden war. Unter dem primitiven Symbol war die lateinische Inschrift eingemeißelt: »Der Weihrauch, der auf diesem Marmor brennt, soll dir, Göttin, ein Opfer sein.« Als der gewaltige Marmorblock hierher geschafft worden war, hatte offensichtlich niemand das Symbol deuten oder die alte Inschrift lesen können. Aber das war nicht weiter verwunderlich; viele römische Priester waren des Lesens und Schreibens nicht mächtig. Auch in diesem Fall hatten sie die uralte Inschrift nicht entziffern können, geschweige denn, ihre Bedeutung verstanden.

Der eigentümliche Kontrast zwischen dem christlichen Altar und seinem heidnischen Sockel erschien Johanna wie ein vollkommenes Abbild ihrer selbst: Obwohl christlicher Priester, träumte sie noch immer von den heidnischen Göttern ihrer Mutter; in den Augen der Welt ein Mann, mußte sie ihr Frausein und ihre weiblichen Gefühle vor eben dieser Welt verbergen; auf der Suche nach dem wahren Glauben, wurde sie hin und her gerissen zwischen dem Verlangen, Gott zu schauen und der Angst, er könne nicht existieren.

Herz und Verstand, Glaube und Zweifel, Wille und Verlangen: Würden diese schmerzlichen Widersprüche ihrer Natur sich niemals miteinander vereinen lassen?

Sie liebte Gerold. Aber könnte sie ihm jemals eine Frau sein? Könnte sie so spät im Leben noch damit beginnen, als Frau zu leben, wo sie es nie getan hatte?

»Hilf mir, Herr«, betete Johanna und hob den Blick zu dem silbernen Kruzifix über dem Altar. »Zeig mir den rechten Weg. Sag mir, was ich tun soll. Heb mich empor in dein helles Licht.«

|482|Doch sie empfand nur Unsicherheit, Unschlüssigkeit, Ratlosigkeit …

Hinter ihr öffnete sich knarrend eine Tür. Von ihrem Platz vor dem Altar schaute Johanna über die Schulter. Sie sah, wie jemand den Kopf in die Eingangstür steckte und ihn dann hastig wieder zurückzog.

»Er ist dort drinnen!« rief eine Stimme. »Ich habe ihn gefunden!«

Vor Angst schlug Johanna das Herz bis zum Hals. War es möglich, daß Anastasius so schnell zum Schlag gegen sie ausgeholt hatte? Johanna erhob sich.

Die Türen schwangen auf, und sieben proceres kamen feierlich in die Kirche; Akoluthen trugen die Banner mit den Insignien ihrer Ämter. Ihnen folgten Bischöfe und Kardinäle, dann die sieben optimates der Stadt. Doch erst als Johanna Gerold sah, wußte sie, daß man sie nicht festnehmen würde.

In langsamer, würdevoller Prozession kam die Abordnung den Mittelgang hinunter und blieb vor Johanna stehen.

»Johannes Anglicus«, sprach Paschal, der primicerius, sie in förmlichem Tonfall an. »Durch den Willen des allmächtigen Gottes und des römischen Volkes seid Ihr zum neuen Papst und Bischof von Rom erwählt.«

Dann warf er sich vor ihr auf den Boden und küßte ihr die Füße.

Johanna blickte fassungslos auf ihn hinunter. War das eine Art unbedachter Scherz? Oder eine Falle, um sie dazu zu verleiten, ihrer Illoyalität gegenüber dem neuen Papst Ausdruck zu verleihen? Sie schaute Gerold an. Sein Gesicht war angespannt und von tiefem Ernst erfüllt, als er sich vor ihr auf die Knie fallen ließ.

 

Der Ausgang der Wahl überraschte ganz Rom. Die kaiserliche Partei, die von Arsenius geführt wurde, hatte sich standhaft für Anastasius eingesetzt. Die päpstliche Partei hatte darauf reagiert, indem sie Hadrian als Kandidaten aufstellte, Priester an der Kirche Sankt Calixtus. Doch Hadrian gehörte nicht zu jenen Kirchenmännern, die über Charisma verfügten. Sein Gesicht war von Pockennarben verunstaltet, und er war klein und dick, mit hängenden Schultern, so, als würde das Gewicht der Verantwortungen, die man ihm auferlegt hatte, zu schwer darauf lasten. Zwar war Hadrian ein frommer Mann |483|und ein guter Priester, doch nur wenige hätten ihn zum geistlichen Führer der ganzen Welt gewählt.

Offenbar stimmte Hadrian mit der öffentlichen Meinung überein, denn er zog unerwartet seine Kandidatur zurück und erklärte seinen Befürwortern, er habe nach vielen Gebeten und eingehender Gewissensprüfung beschlossen, die große Ehre zurückzuweisen, die sie ihm auferlegen wollten.

Diese Erklärung erregte unter den Mitgliedern der päpstlichen Partei, die über Hadrians Entschluß im voraus nicht in Kenntnis gesetzt worden waren, einen ziemlichen Aufruhr. Von den Anhängern des Kaisers dagegen wurde Hadrians Schritt mit Jubel aufgenommen. Jetzt schien Anastasius’ Sieg nichts mehr im Wege zu stehen.

Dann aber erhob sich Lärm in den hinteren Reihen der Versammlung, dort, wo die niederen Ränge der Laien standen. »Johannes Anglicus!« riefen sie. »Johannes Anglicus!« Paschal, der primicerius, hatte Gardisten losgeschickt, um die Rufer zum Schweigen zu bringen, doch es erwies sich als unmöglich. Die Leute kannten ihre Rechte und wußten, daß die Verfassung aus dem Jahre 824 allen Römern, ob Laie oder Kleriker, ob hohen oder niederen Ranges, bei einer Papstwahl das Stimmrecht gewährte.

Arsenius versuchte, dieses unerwartete Problem dadurch zu lösen, daß er den maßgeblichen Leuten offen das Angebot machte, ihre Loyalität zu kaufen; seine Spitzel bewegten sich rasch durch die Menge und versuchten, die Wähler mit Wein, Frauen und Geld zu bestechen. Doch selbst diese Verlockungen fruchteten nichts; die Leute waren fest gegen Anastasius eingenommen, den ihr geliebter verstorbener Papst Leo exkommuniziert hatte. Lautstark sprachen sie sich für den »kleinen Papst« aus, Leos Freund und Gefährten Johannes Anglicus, und von diesem Entschluß konnte nichts und niemand sie abbringen.

Trotzdem hätten Johannas Fürsprecher den Sieg vielleicht doch nicht davongetragen; denn der herrschende Adel hätte nicht zugelassen, von einer Horde gemeiner Bürger überstimmt zu werden – ob Verfassung oder nicht. Doch die päpstliche Partei, die in diesem »Volksaufstand« eine unerwartete Möglichkeit sah, Anastasius den Weg zum Papstthron zu versperren, vereinte ihre Stimmen mit denen der Laien. Damit war die Wahl entschieden. Johanna war der neue Papst.

 

|484|Anastasius und seine Eskorte hatten ihr Lager dicht vor Perugia aufgeschlagen, ungefähr hundertfünfzig Kilometer von Rom entfernt, als ein Kurier mit der Nachricht eintraf. Anastasius stieß einen schmerzerfüllten Schrei aus, noch bevor er die Botschaft zu Ende gelesen hatte. Dann, ohne ein Wort an seine verdutzten Männer zu richten, wandte er sich um, verschwand wieder in seinem Zelt und verschloß den Eingang, so daß niemand ihm folgen konnte.

Aus dem Innern des Zeltes hörten die Männer seiner Eskorte ein wildes, ungehemmtes Schluchzen, das sich nach einiger Zeit in ein lautes Jammern und Klagen verwandelte, das den größten Teil der Nacht anhielt.