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FULDA

Im schattigen Mondlicht, das lange vor dem Einbruch der Morgendämmerung herrschte, stiegen die Mönche des Klosters zu Fulda die Treppen vom Dormitorium hinunter und gingen, schweigend und feierlich, in einer Reihe über den Innenhof der Kirche. Ihre grauen Umhänge verschmolzen nahtlos mit der Dunkelheit. In der vollkommenen Stille war das leise Klatschen ihrer schlichten Ledersandalen auf dem kalten Steinboden das einzige Geräusch; selbst die Vögel würden erst in einigen Stunden mit ihrem Gesang beginnen. Die Mönche betraten den Chorraum und bewegten sich mit einer Sicherheit, wie nur lange Gewohnheit sie hervorbringt, an ihre zugewiesenen Plätze, um die Vigilien zu feiern, die Morgenmesse.

Bruder Johannes Anglicus kniete gemeinsam mit den anderen nieder und rutschte mit unbewußten, geübten Bewegungen solange auf den Knien, bis er auf dem festgestampften Lehmfußboden die bequemste Körperhaltung gefunden hatte.

Domine labia mea aperies … Die Mönche begannen mit der Morgenfeier, mit drei Psalmenlesungen samt Responsorien und Halleluja, Laudes, Apostellesung, Responsorium, Hymnus, Bibelvers, Evangelium und Bittgebet und noch einmal Lobgesängen – der Ablauf der Laudes laut jenen Ordensregeln, die der heilige Benedikt dreihundert Jahre zuvor aufgestellt hatte.

Johannes Anglicus mochte diesen ersten Gottesdienst des Tages. Das unveränderliche Muster der Zeremonie ließ dem Geist genug Freiraum umherzuschweifen, während die Lippen ganz von selbst die vertrauten Worte formten. Einigen Brüdern sank bereits wieder der Kopf auf die Brust, doch Johannes Anglicus fühlte sich hellwach; all seine Sinne waren klar und geschärft in dieser kleinen, von flackerndem Kerzenlicht erhellten Welt, die von gewaltigen, Sicherheit gewährenden Wänden umgrenzt wurde.

|245|Zu dieser nächtlichen Stunde empfand Johannes Anglicus das Gefühl der Zugehörigkeit zur klösterlichen Gemeinschaft besonders stark. Die krassen Unterschiede, die grelles Tageslicht hervorbrachte, das die Einzelpersönlichkeiten enthüllte, das die Vorlieben und Abneigungen erkennen ließ, die Sympathien und die Antipathien – all diese scharfen Konturen wurden von den gedämpften Schatten und dem volltönenden Gleichklang der Stimmen verwischt, die melodisch und gedämpft durch die stille Nachtluft klangen.

Te deum laudamus … Mit den anderen Mönchen sang Johannes Anglicus das Halleluja. Die gesenkten, von Kapuzen bedeckten Köpfe waren einander so ähnlich, daß man sie ebensowenig unterscheiden konnte wie Samenkörner in einer Ackerfurche.

Doch Johannes Anglicus war anders als die anderen. Er gehörte nicht in diese erlesene Bruderschaft aus Gelehrten, Theologen, Denkern, Malern, Übersetzern und Kopisten. Aber dies war nicht auf eine unterlegene Kraft des Geistes oder des Willens zurückzuführen oder auf mangelnde Charakterstärke. Es lag an der Launenhaftigkeit des Schicksals, vielleicht auch am Willen eines grausamen und gleichgültigen Gottes, daß Johannes Anglicus ein Außenseiter war – unabänderlich und unwiderruflich. Er gehörte nicht zu den Brüdern des Klosters zu Fulda, weil Johannes Anglicus, geborene Johanna von Ingelheim, eine Frau war.

 

Vier Jahre waren vergangen, seit Johanna – in der Verkleidung ihres Bruders Johannes – an der Pforte des Klosters erschienen war. Ihres englischen Vaters wegen gaben die Mönche ihr den Beinamen »Anglicus«, und selbst unter dieser auserlesenen Schar von Künstlern und Gelehrten tat sie sich rasch durch ihre einzigartigen Geistesgaben hervor.

Genau jene Eigenschaften, die ihr als Frau Verachtung und Spott eingetragen hatten, wurden hier ohne Einschränkungen geachtet und geschätzt: Ihre Klugheit, ihre Kenntnisse der Heiligen Schrift, ihre rasche Auffassungsgabe, ihre Schlagfertigkeit und die logische Schärfe ihrer Gedanken bei gelehrten Disputen wurden zum Stolz der gesamten Bruderschaft. Im Kloster hatte Johanna die Möglichkeit, bis an die Grenzen ihrer Fähigkeiten vorzustoßen; hier schob man ihr keinen Riegel vor, sondern ermutigte sie sogar zum Studium. Unter den |246|Novizen wurde sie rasch zum senior ernannt, einem »älteren Bruder«. Dies wiederum verschaffte ihr größere Freiheiten, was den Zugang zur berühmten Bibliothek des Fuldaer Klosters betraf – einem gewaltigen Bestand von etwa dreihundertundfünfzig Codices, einschließlich einer wundervollen Sammlung von Werken klassischer Autoren, darunter Sueton, Tacitus, Vergil, Plinius und Marcellinus. Mit freudigem Entzücken durchforschte Johanna die sorgfältig geordneten Stapel aus Pergamentrollen. Wie es schien, war hier alles Wissen der Welt gesammelt, und dieses Wissen stand ihr uneingeschränkt offen.

Als Joseph, der Prior, Johanna eines Tages dabei antraf, wie sie eine wissenschaftliche Abhandlung des heiligen Chrysostomos las, erkannte er voller Erstaunen, daß sie der griechischen Sprache mächtig war – eine Fähigkeit, die keiner der anderen Brüder besaß. Joseph erzählte dem Abt Rabanus Maurus davon, der Johanna sofort mit der Aufgabe betraute, die kostbare Sammlung griechischer Abhandlungen über die Medizin zu übersetzen, die sich im Besitz des Klosters befand. Unter diesen Schriften befanden sich fünf der sieben Aphorismenbücher des Hippokrates, die vollständige tetrabiblios des Aetius sowie Fragmente der Werke des Oribasius und des Alexander von Tralles. Bruder Benjamin, der Arzt des Klosters, war von Johannas Arbeit dermaßen beeindruckt, daß er sie zu seinem Lehrling machte. Er brachte ihr bei, wie man die Pflanzen im Kräutergarten pflegte, wie man sie erntete und aufbewahrte und auf welche Weise man sich ihre verschiedenen Heilkräfte zunutze machte: Fenchel gegen Verstopfung; Senf gegen Husten; Kerbel gegen Hämorrhoiden; Absinth gegen Fieber – in Benjamins Garten wuchs gegen jedes erdenkliche Leiden, das den Menschen heimsuchen konnte, ein Heilkraut. Johanna half ihm, die verschiedenen Wickel und Umschläge, Aufgüsse und Abführmittel, Tränke und Pulver zu bereiten, die den wichtigsten Stützpfeiler klösterlicher Medizin bildeten, und sie begleitete ihn zum Spital, um sich um die Kranken zu kümmern. Es war eine faszinierende Arbeit, die Johannas analytischem Verstand und ihrem von Forscherdrang beseelten Geist entgegenkam. Ihre Tage waren geschäftig und ausgefüllt; neben ihren Studien und der Zeit, die sie bei Bruder Benjamin verbrachte, läutete siebenmal täglich die Klosterglocke und rief die Mönche zu Gebeten und Gottesdiensten. |247|Doch besonders die Stunden, die Johanna bei Bruder Benjamin verbrachte, gefielen ihr. Sie gefielen ihr sogar sehr. Denn Benjamin besaß eine innere Freiheit und Kraft, wie Johanna es bis jetzt bei keinem Menschen erlebt hatte.

»Vielleicht sollte ich es dir gar nicht erzählen, sonst schwillt dir vor Stolz der Kamm so sehr, daß dein Kopf nicht mehr unter die Kapuze paßt«, hatte der geschwätzige alte Hatto, der Pförtner, erst wenige Tage zuvor zu Johanna gesagt und sie dabei fröhlich angelächelt, damit sie erkannte, daß seine Worte scherzhaft gemeint waren. »Aber gestern habe ich gehört, wie der Vater Abt und Prior Joseph sich darüber unterhalten haben, daß du den schärfsten Verstand von uns allen besitzt und daß du diesem Kloster eines Tages sehr viel Ehre machen wirst.«

Die Worte der alten Wahrsagerin auf dem Jahrmarkt in St. Denis kamen Johanna in den Sinn: »Macht und Größe werden dein …« Hatte die alte Frau das damit gemeint? »Wechselbalg«, hatte die Alte sie genannt und gesagt: »Du bist, was du nicht sein wirst, und was du werden wirst ist anders, als du bist.«

Was das angeht, hatte die alte Frau schon mal recht, ging es Johanna voller Bedauern durch den Kopf, wobei sie ihren Scheitel betastete und den haarlosen Kreis der Tonsur spürte, der von der dichten Fülle des weißblonden Haarkranzes fast verdeckt wurde. Ihr Haar – es war wie das Haar ihrer Mutter – war Johannas einzige Eitelkeit gewesen. Dennoch hatte sie es bereitwillig abschneiden lassen; denn ihre Mönchstonsur sowie die Narbe auf der Wange, die das Normannenschwert hinterlassen hatte, ließen die Maske der Männlichkeit glaubwürdiger erscheinen – eine Maskerade, von der Johannas Leben abhing.

Als sie ins Kloster nach Fulda gekommen war, hatte sie anfangs jeden Tag in ängstlicher Anspannung verbracht; denn damals wußte sie ja nicht, ob irgendein neuer, unbekannter und unerwarteter Aspekt des klösterlichen Alltagslebens plötzlich ihre wahre Identität enthüllen würde. Sie mühte sich nach besten Kräften, die Körperhaltung, die Mimik und das Gebaren eines Mannes anzunehmen, lebte aber in ständiger Furcht, ihr wahres Geschlecht durch Dutzende unmerklicher, unverdächtiger weiblicher Gesten zu verraten. Doch niemand schien etwas zu bemerken.

Glücklicherweise war das Leben in einem Benediktinerkloster |248|sorgfältig darauf eingerichtet, die Würde und das Schamgefühl eines jeden Mitglieds der Mönchsgemeinschaft zu schützen, vom Abt bis zum niedersten Bruder. Der Körper, dieses Gefäß der Sünde, mußte so weit wie möglich verhüllt werden. Die langen, weiten Umhänge der Benediktiner boten Johanna die Möglichkeit, ihre weiblichen Körperformen zu kaschieren; dennoch schnürte sie sich – als zusätzliche Vorsichtsmaßnahme – mit dicken Streifen aus Leinentuch die Brüste fest zusammen. Die Bendiktinerregeln besagten ausdrücklich, daß die Brüder in ihrer Mönchskleidung schlafen mußten und selbst in den heißesten Nächten des Hochsommers, im Heuvimanoth, lediglich die Hände und Füße enthüllen durften. Bäder waren untersagt, ausgenommen für die Kranken. Selbst die necessaria, die Aborte, gewährten den Brüdern durch Trennwände zwischen den einzelnen Latrinen mit den kalten Steinsitzen ihre Privatsphäre.

Als Johanna auf dem Weg von Dorstadt nach Fulda in die Männerrolle geschlüpft war, hatte sie es sich außerdem zur Gewohnheit gemacht, ihre Monatsblutung mittels dicker Lagen aus trockenen, saugfähigen Blättern aufzunehmen; anschließend vergrub sie diese Blätter. Doch im Kloster erwies sich selbst die letztgenannte Vorsichtsmaßnahme als überflüssig: Johanna ließ die benutzten Blätter einfach in die tiefen, dunklen Löcher der necessaria fallen.

Jeder Mönch im Kloster zu Fulda hielt Johanna für einen jungen Mann. Sie machte die Erfahrung, daß keiner der Brüder sich auch nur einen Gedanken über das Geschlecht einer bestimmten Person machte, sobald der oder die Betreffende als Mann oder Frau akzeptiert worden war – zum Glück für sie. Denn hätte man ihre wahre Identität aufgedeckt, hätte dies mit Sicherheit ihren Tod bedeutet.

Diese Gewißheit hielt Johanna anfangs auch davon ab, den Versuch zu unternehmen, sich mit Gerold in Verbindung zu setzen. So sehr durfte sie niemandem vertrauen, daß sie ihn eine Nachricht an Gerold überbringen ließ. Und sie selbst konnte das Kloster nicht verlassen; als Novize wurde sie Tag und Nacht aufmerksam im Auge behalten.

Von Zweifeln geplagt, hatte sie in den ersten Wochen und Monaten des Nachts stundenlang auf ihrer schmalen Pritsche im Dormitorium wach gelegen. Selbst wenn es ihr gelang, sich mit Gerold in Verbindung zu setzen – wollte er sie haben? Als |249|sie das letzte Mal zusammengewesen waren, an der leerstehenden Hütte am Flußufer, hatte sie sich Gerold angeboten; sie hatte von ihm geliebt werden wollen – Johanna errötete, als sie daran zurückdachte -, doch Gerold hatte sie zurückgewiesen. Später, auf dem Heimweg, war er in sich gekehrt und wortkarg gewesen, beinahe so, als wäre er wütend. Und anschließend hatte er die erste Gelegenheit beim Schopf gepackt, Villaris eine Zeitlang zu verlassen.

»Du hättest ihn nicht so ernst nehmen sollen«, hatte Richild damals gesagt. »Du bist lediglich die letzte Perle in Gerolds langer Halskette aus Eroberungen.« Stimmte das wirklich? Damals war es Johanna unvorstellbar erschienen; aber vielleicht hatte Richild ja die Wahrheit gesagt.

Es wäre verrückt, alles aufs Spiel zu setzen, sogar ihr Leben, nur um mit einem Mann Verbindung aufzunehmen, der sie gar nicht haben wollte, der sie wahrscheinlich nie gewollt hatte. Und trotzdem …

 

Johanna war drei Monate im Kloster zu Fulda, als sie Zeugin eines Ereignisses wurde, das ihr half, eine schwierige Entscheidung zu treffen. Auf dem Weg zu den cellae novicorum war Johanna mit einer Gruppe anderer Novizen durch den Gemüsegarten geschlendert, als plötzlicher Lärm und Bewegung aller Aufmerksamkeit auf das Eingangstor gelenkt hatte. Johanna beobachtete, wie eine Eskorte Bewaffneter durch das Tor geritten kam, gefolgt von einer Dame in einem prachtvollen Gewand aus goldener Seide. Anmutig und gerade wie eine Marmorstatue saß die Frau im Sattel. Sie war wunderschön. Ihr zartes, blasses Gesicht wurde von einer Kaskade aus üppigem, hellbraunem Haar umrahmt, und in ihren dunklen, klugen Augen lag ein geheimnisvoller Ausdruck von Trauer.

»Wer ist diese Frau?« fragte Johanna fasziniert.

»Judith, die Gattin von Baron Waifar«, antwortete Bruder Rudolph, der die Aufsicht über die Novizen führte. »Eine gelehrte Frau. Man sagt, daß sie Latein in Wort und Schrift so gut beherrscht wie ein Mann.«

»Deus nos salva.« Ängstlich bekreuzigte sich Bruder Gailo. »Ist sie eine Hexe?«

»Ganz und gar nicht. Sie steht in dem Ruf tiefer Frömmigkeit. Sie hat sogar einen Kommentar zum Leben der Esther geschrieben.«

|250|»Was für eine Scheußlichkeit«, sagte Bruder Thomas, einer der anderen Novizen. Thomas – ein unscheinbarer junger Mann mit rundem, pausbäckigem Gesicht, Kinngrübchen und schwerlidrigen Augen – nutzte jede Gelegenheit, seine überlegene Frömmigkeit und Tugendhaftigkeit hervorzuheben. »Ein schwerer Verstoß gegen die natürliche Ordnung. Was kann eine Frau von solchen Dingen schon wissen, wo sie doch von niederen Instinkten geleitet wird? Gewiß wird Gott sie für ihre Überheblichkeit bestrafen.«

»Das hat er schon«, erwiderte Bruder Rudolph, »denn der Baron braucht einen Erben, doch seine Frau ist unfruchtbar. Erst letzten Monat hatte sie wieder eine Totgeburt.«

Die vornehme Prozession zog bis vor die Klosterkirche. Johanna beobachtete, wie Judith vom Pferd stieg und sich mit ernster Würde dem Kircheneingang näherte, eine Kerze in der Hand.

»Du solltest nicht so starren, Bruder Johannes«, sagte Thomas tadelnd, der sich gern auf Kosten der anderen Novizen bei Bruder Rudolph lieb Kind machte. »Sobald eine Frau erscheint, sollte ein guter Mönch die Augen stets voller Keuschheit gesenkt halten.«

»Da hast du recht, Bruder«, erwiderte Johanna. »Aber eine Frau wie sie habe ich noch nie gesehen. Ein Auge ist blau und das andere braun.«

»Du solltest deine Sünden nicht durch Lügen vertuschen, Bruder Johannes. Beide Augen der Frau sind braun.«

»Das kannst du doch gar nicht wissen, Bruder«, erwiderte Johanna. »Es sei denn, du hast deine Augen nicht voller Keuschheit gesenkt, sondern hingeschaut.«

Die anderen Novizen brachen in Gelächter aus. Selbst Bruder Rudolph konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

Thomas starrte Johanna zornig an. Sie hatte ihn zum Narren gemacht, und eine solche Beleidigung vergaß er nicht so schnell.

Die Aufmerksamkeit der Novizen wurde von Bruder Hildwin abgelenkt, dem Sakristan, der herbeigeeilt kam, um rasch zwischen Judith und dem Kircheneingang Aufstellung zu nehmen.

»Friede sei mit Euch, meine Tochter«, sagte er und benutzte dabei den fränkischen Dialekt.

»Et cum spiritu tuo«, gab Judith auf Latein zurück.

|251|Hildwin wandte sich noch einmal an sie, wobei er besonderen Nachdruck auf den fränkischen Dialekt legte: »Falls Ihr Essen und Unterkunft möchtet, sind wir gern bereit, Euch und Eurem Gefolge beides zu gewähren. Kommt mit, ich führe Euch ins Haus für die vornehmen Gäste. Dann werde ich den ehrenwerten Abt von Eurer Ankunft in Kenntnis setzen. Gewiß wird er den Wunsch haben, Euch persönlich zu begrüßen.«

»Ihr seid sehr zuvorkommend, Vater, aber ich möchte keine hospitalitas«, erwiderte Judith erneut auf Latein. »Ich möchte nur in der Kirche diese Kerze entzünden, für mein totgeborenes Kind. Dann mache ich mich wieder auf den Weg.«

»Ach? Dann ist es als Sakristan meine Pflicht, Tochter, Euch davon in Kenntnis zu setzen, daß Ihr diese Kirche nicht betreten dürft, solange Ihr noch …«, er suchte nach einem passenden Wort, »… unrein seid.«

Judith errötete, verlor aber nicht die Beherrschung. »Ich kenne dieses Gesetz, Vater«, sagte sie mit ruhiger Stimme, »aber mein Kind ist die vorgeschriebenen dreiunddreißig Tage tot.«

»Euer Kind war ein Mädchen, nicht wahr?« fragte Bruder Hildwin mit einem Hauch von Herablassung.

»Ja.«

»Dann währt die Zeitspanne der … Unreinheit … doppelt so lange. In diesem Fall dürft Ihr den heiligen Boden dieser Kirche also erst sechsundsechzig Tage nach der Geburt des Kindes betreten.«

»Wo steht das geschrieben? Von einem solchen Gesetz habe ich noch nie gelesen.«

»Noch solltet Ihr jemals davon lesen; denn Ihr seid eine Frau.«

Johanna fuhr angesichts der Dreistigkeit dieser Beleidigung zusammen. Mit der ganzen Kraft ihrer eigenen leidvollen Erfahrungen spürte sie die Schändlichkeit der Demütigung, die Judith hinnehmen mußte. Die Gelehrtheit dieser Frau, ihre Frömmigkeit, ihre Klugheit, ihre vornehme Herkunft waren in dieser Männerwelt null und nichtig. Der heruntergekommenste, ungebildetste und schmutzigste Bettler durfte diese Kirche betreten, um zu beten; Judith dagegen verwehrte man den Zutritt, weil sie »unrein« war.

»Kehrt nach Hause zurück, Tochter«, fuhr Bruder Hildwin fort, »und betet in Eurer eigenen Kapelle für das Seelenheil |252|Eures ungetauften Kindes. Was wider die natürliche Ordnung ist, verstößt gegen den Willen Gottes. Legt Schreibfeder und Pergament nieder und nehmt statt dessen Nadel und Zwirn, wie es einer Frau ansteht, und bereut Euren Hochmut. Dann nimmt Gott vielleicht die Last von Euch, die er Euch aufgebürdet hat.«

Die Röte auf Judiths Wangen breitete sich über ihr ganzes Gesicht aus. »Diese Beleidigung wird Folgen haben. Mein Gatte wird davon erfahren, das verspreche ich Euch, und es wird ihm ganz und gar nicht gefallen.« Doch Judiths Worte waren nichts als der Versuch, das Gesicht zu wahren; denn Baron Waifars weltliche Herrschaft besaß hier kein Gewicht, und das wußte Judith. Hocherhobenen Hauptes drehte sie sich um und ging zu ihrem Pferd.

Johanna trat aus der kleinen Gruppe der Novizen hervor.

»Gebt mir die Kerze, edle Dame«, sagte sie und streckte die Hand aus. »Ich werde sie für Euch anzünden.«

In Judiths wunderschönen dunklen Augen spiegelten sich Erstaunen und Mißtrauen zugleich. War das wieder ein Versuch, sie zu demütigen?

Für einen langen Augenblick standen die beiden Frauen sich gegenüber und schauten einander an. So unterschiedlich sie im Erscheinungsbild waren, so ähnlich waren sie sich geistig: Judith, zart und zerbrechlich in ihrer goldenen Tunika, ein Sinnbild weiblicher Schönheit; Johanna, die größere von beiden, jungenhaft und natürlich in ihrer schlichten Mönchskleidung.

Irgend etwas in den zwingenden graugrünen Augen, die so voller Kraft und Zuversicht blickten, veranlaßte Judith, die schlanke Kerze wortlos in Johannas ausgestreckte Hand zu legen. Dann stieg sie aufs Pferd und ritt mit ihren Begleitern durch das Tor.

Vor dem Altar zündete Johanna die Kerze an, wie sie es versprochen hatte.

Der Sakristan war außer sich vor Wut. »So eine Frechheit!« tobte er, und an diesem Abend wurde Johanna – zu Bruder Thomas’ unendlicher Freude – ihres Vergehens wegen zum strengen Fasten verurteilt.

 

Nach diesem Vorfall unternahm Johanna den entschlossenen Versuch, jeden Gedanken an Gerold aus ihrem Innern zu verdrängen. |253|Sie hatte erkannt, daß sie niemals glücklich sein würde, falls sie ihr Leben in der eingeengten Welt der Frauen führen mußte. Außerdem, so wurde ihr klar, war ihr Verhältnis zu Gerold nicht so beschaffen, wie sie geglaubt hatte. Damals, auf Villaris, war sie ein unerfahrenes, naives Kind gewesen, und ihre Liebe eine romantische Schwärmerei, aus Einsamkeit und Verlangen geboren. Und Gerold hatte sie bestimmt nicht geliebt, sonst hätte er sie nie und nimmer allein gelassen.

Gib dich niemals einem Mann hin. Die warnenden Worte ihrer Mutter, die Johanna im Überschwang ihrer kindischen Vernarrtheit vergessen hatte, kamen ihr wieder in den Sinn. Jetzt glaubte sie zu wissen, wie glücklich sie sich schätzen konnte, einem Schicksal wie dem ihrer Mutter entronnen zu sein.

Wieder und wieder redete Johanna sich dies alles ein – so lange, bis sie es glaubte.