In St. Denis fand ein Jahrmarkt statt! Diese Nachricht war sensationell. Im gesamten Kaiserreich hatte seit mehr Jahren kein Volksfest oder Jahrmarkt stattgefunden, als die meisten Leute zählen konnten. Doch einige von den ganz Alten – Burkhard der Müller zum Beispiel – konnten sich an eine Zeit erinnern, als es im Frankenreich jedes Jahr zwei oder gar drei große Jahrmärkte gegeben hatte. Jedenfalls behaupteten die Alten dies, obwohl man es kaum glauben mochte. Und falls es stimmte, wäre es ohnehin in der guten alten Zeit gewesen, als Kaiser Karl – Gott hab ihn selig – noch in den besten Jahren gewesen war, als man noch für die Instandhaltung von Straßen und Wegen und Brücken gesorgt hatte, und als noch keine Diebe und Räuber und Scharlatane ihr Unwesen trieben. Vor allem hatten damals noch keine Normannen – möge Gott sie der ewigen Verdammnis anheimfallen lassen! – mit ihren überfallartigen, grausamen Raubzügen das Land in Furcht und Schrecken versetzt. Heutzutage war das Reisen zu gefährlich, als daß man noch einträgliche Jahrmärkte hätte veranstalten können. Kein Kaufmann ging das Risiko ein, seine kostbaren Waren über unsichere Straßen zu befördern; ebensowenig waren die Leute bereit, um eines Vergnügens willen ihr Leben auf einer Reise aufs Spiel zu setzen.
Trotzdem – in St. Denis sollte ein Jahrmarkt stattfinden. Und wenn nur die Hälfte von dem stimmte, was der Herold berichtete, der diese Neuigkeit überbrachte, gab es dort wunderbare Dinge zu sehen. Kaufleute aus Byzanz, die exotische Gewürze, Seide und Brokat verkauften; venezianische Händler in Umhängen aus Pfauenfedern und geprägtem Leder; friesische Sklavenhändler, die ihre menschliche Ware – Sachsen und Slawen – feilboten; Langobarden aus dem Norden mit Säcken voller Salz, die in den Bäuchen von Schiffen gestapelt waren, deren leuchtend orangefarbenen Segel die Tierkreiszeichen |152|trugen. Und es gäbe alle Arten von Unterhaltung, berichtete der Herold: Seiltänzer und Akrobaten, Geschichtenerzähler und Jongleure, sogar Hunde und Bären, die auf der Bühne auftraten.
Allerdings lag St. Denis nicht in der Nähe von Dorstadt, sondern war ungefähr hundertundfünfzig Meilen entfernt, was eine Reise von zwei Wochen über holperige Straßen und reißende Flüsse bedeutete. Aber davon ließ sich diesmal niemand entmutigen. Jeder, der sich ein Pferd oder ein Maultier oder auch nur ein Pony beschaffen konnte, machte sich auf die Reise.
Gerolds Gefolge war riesig, wie es sich für einen Markgrafen geziemte. Fünfzehn seiner fideles ritten mit – gut bewaffnete Gefolgsleute –, sowie mehrere seiner Diener, die sich um die Familie zu kümmern hatten. Auch Johanna war dabei; und als besondere Geste der Höflichkeit – Johanna war sicher, daß es Gerolds Idee gewesen war – wurde auch ihr Bruder Johannes eingeladen, mit auf die Reise zu gehen. Richilds Vorbereitungen waren peinlich genau gewesen; sie hatte sich große Mühe gegeben, dafür zu sorgen, daß es ihnen an nichts mangelte, was für die Bequemlichkeit und Sicherheit auf der Reise vonnöten war. Seit Tagen waren nunmehr Karren und Wagen auf den Haupthof der Burganlage gerollt und mit Reiseproviant und Waren aller Art beladen worden.
Am Morgen der Abreise herrschte auf Villaris hektisches Treiben. Stallburschen eilten umher und fütterten und beluden die Packpferde; der Koch und die Küchenjungen schwitzten an dem großen Herd, dessen hoher Kamin riesige Rauchwolken ausstieß; der Hufschmied arbeitete fieberhaft an seiner Esse und hämmerte die letzten Hufeisen, Nägel und Zubehörteile für die Wagen in Form. Die verschiedensten Geräusche vermischten sich zu einem lärmenden Durcheinander: Über das Hämmern und Klopfen, Rasseln und Rumpeln hinweg riefen Dienerinnen mit schrillen Stimmen einander Anweisungen zu, um die tieferen Rufe und die grellen Pfiffe der Stallburschen und Handwerker zu übertönen; Kühe muhten und stampften auf, als sie hastig gemolken wurden; zu schwer bepackte Esel schrien lautstark ihren Protest hinaus. Hufe, Pfoten, Schuhe, Stiefel und Wagenräder wirbelten eine dünne Staubwolke vom hartgebackenen Boden auf; sie stieg in die Luft und schwebte rötlichbraun in einem schimmernden Frühnebel, |153|der im klaren morgendlichen Frühlingssonnenschein erstrahlte.
Johanna wartete im Haupthof, beobachtete die letzten Vorbereitungen für die Reise und staunte über die hektischen Aktivitäten. Lukas tänzelte um sie herum, die Ohren gespitzt; in seinen opaleszierenden Augen strahlte erwartungsvolle Erregung. Auch der nunmehr sechs Monate alte Wolf ging mit auf die Reise, denn er hatte sich so sehr an Johanna gewöhnt, daß eine Trennung ›gar nicht in Frage kam‹, wie Gerold kategorisch erklärt hatte.
Johanna lachte und streichelte Lukas und genoß das Gefühl des weichen weißen Fells unter ihren Händen, während der junge Wolf ihr über die Wange leckte und sich dann auf die Hinterpfoten setzte und Johanna beäugte, das Maul aufgerissen, so, als würde auch er lachen.
»Hast du nichts Besseres zu tun, als herumzustehen und zu gaffen?« ertönte eine schroffe Stimme. »Mach dich nützlich und geh dem Küchenmeister zur Hand!« Richild schubste Johanna in Richtung der Kochstube, wo der Küchenmeister seine mehlgepuderten, müden Hände ausschlackerte. Er war bereits die ganze Nacht auf den Beinen und hatte Brot und Brötchen, Kuchen und Plätzchen für die Reisegesellschaft gebacken.
Am Vormittag war der Haushalt aufgeladen. Der Hofkaplan sprach ein kurzes Gebet, daß Gott den Reisenden sicheres Geleit geben möge; dann zog die Prozession der Wagen und Pferde langsam vom Hof und auf die Straße. Johanna fuhr im vordersten Wagen mit, hinter Gerold und seinen Männern, zusammen mit Richild, Gisla und Dhuoda sowie den drei Mädchen aus Dorstadt, die als Dienerinnen der drei Damen mit von der Partie waren. Richild und die Mädchen wurden auf den harten Holzsitzen durchgeschüttelt, als die Wagenräder über die unebene, von Schlaglöchern übersäte Straße hüpften und sprangen. Lukas trottete neben dem Wagen her und hielt ein wachsames Auge auf Johanna, so, als würde er sich Sorgen machen, sie könnte sich verletzen. Johanna schaute nach vorn und sah Johannes inmitten der Männergruppe reiten. Im Herrensitz saß er lässig auf dem Rücken einer schönen Rotschimmelstute.
Ich sitze genauso gut auf einem Pferd wie er, dachte Johanna. Gerold hatte viele Stunden damit verbracht, sie das Reiten und den Umgang mit Pferden zu lehren, und mittlerweile war Johanna eine geschickte Reiterin.
|154|Als hätte er Johannas musternde Blicke gespürt, drehte Johannes sich um und bedachte die Schwester mit einem wissenden Lächeln, vertraulich und boshaft zugleich. Dann trieb er sein Pferd mit den Hacken in einen leichten Galopp und ritt neben Gerold. Sie wechselten einige Worte miteinander; Gerold legte den Kopf in den Nacken und lachte.
Johanna verspürte einen scharfen Stich der Eifersucht. Was konnte Johannes sagen – oder wissen –, das Gerold so sehr erheiterte? Sie hatten nichts gemeinsam. Gerold war ein gebildeter Mann, ein Gelehrter. Johannes aber wußte so gut wie nichts über die Philosophie oder die Wissenschaft. Dennoch ritt er jetzt neben Gerold, unterhielt sich mit ihm, lachte mit ihm, während sie, Johanna, auf diesem unbequemen, rumpelnden Wagen hinter ihnen herzockeln mußte.
Weil sie ein Mädchen war. Nicht zum erstenmal verfluchte Johanna den Schicksalsschlag, dem weiblichen Geschlecht anzugehören.
»Es ist unhöflich, so zu starren, Johanna.«
Richilds dunkle Augen betrachteten sie verächtlich.
Johanna riß den Blick von Gerold los. »Es tut mir leid, Herrin.«
»Laß die Hände gefaltet im Schoß liegen«, ermahnte Richild sie, »und halte die Augen gesenkt, wie es sich für eine anständige Dame gehört.«
Gehorsam befolgte Johanna Richilds Anweisungen.
»Ein gebührliches Auftreten«, fuhr Richild fort, »ist für eine Dame eine höhere Tugend als die Fähigkeit, lesen zu können. Das wüßtest du, wärst du vernünftig erzogen worden.« Für einen Moment blickte sie Johanna kühl an; dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder ihrer Stickerei zu.
Johanna betrachtete Richild aus den Augenwinkeln. Sie war unbestreitbar eine Schönheit. Blaß, asketisch, mit schmalen, hängenden Schultern entsprach sie dem modischen Ideal der Zeit. Sie hatte einen hellen, reinen Teint, eine ausgesprochen hohe Stirn und ein zartes Gesicht, das von üppigen, dichten schwarzen Locken umrahmt wurde. Ihre Augen mit den langen dunklen Wimpern waren von einem so tiefen Braun, daß sie beinahe schwarz aussahen. Johanna verspürte einen scharfen Stich des Neides. Was das Äußere betraf, hatte Richild alles, was Johanna nicht besaß.
»Komm, du mußt uns helfen, eine Entscheidung zu treffen.« |155|Gisla, die ältere der beiden Töchter, blickte Johanna strahlend an. »Welches von meinen Kleidern soll ich beim Hochzeitsfest tragen? Was meinst du?« Sie kicherte aufgeregt.
Gisla war vierzehn, knapp ein Jahr älter als Johanna, und bereits dem Markgrafen Hugo versprochen, einem neustrischen Adeligen aus dem westlichen Frankenreich. Gerold und Richild waren erfreut darüber, denn es war eine vorteilhafte Verbindung. Die Hochzeit war für den Winnemanoth geplant, in ungefähr sechs Monaten.
»Ach, Gisla, du hast so viele schöne Sachen«, sagte Johanna. Und das stimmte. Johanna hatte über die Größe von Gislas Garderobe gestaunt – sie besaß so viele Gewänder, daß sie zwei Wochen lang jeden Tag ein anderes tragen konnte, wenn sie wollte. In Ingelheim besaß ein Mädchen nur eine einzige Tunika – wenn es Glück hatte, aus festem Wollstoff –, die es sorgsam pflegte; denn das Kleidungsstück mußte viele Jahre halten. »Markgraf Hugo wird dich in jedem deiner Kleider wunderschön finden, da bin ich ganz sicher.«
Wieder kicherte Gisla. Sie war ein gutherziges, jedoch ein bißchen einfältiges Mädchen, das jedesmal in nervöses Gekichere ausbrach, wenn der Name des Mannes genannt wurde, der ihr versprochen war.
»Nein, nein«, sagte sie atemlos. »So leicht kommst du mir nicht davon. Also, hör zu. Mutter meint, ich soll das Blaue tragen; aber ich finde das Gelbe schöner. Was meinst du? Aber gib mir eine vernünftige Antwort!«
Johanna seufzte. Sie mochte Gisla trotz ihrer Oberflächlichkeiten und Albernheiten. Seit Johannas erster Nacht auf Villaris, als Gerold sie als verängstigtes, erschöpftes Mädchen vom Bischofspalast mit nach Hause nahm, hatten sie und Gisla in einem Bett geschlafen. Gisla hatte sie herzlich aufgenommen und war stets freundlich zu ihr gewesen – und dafür würde Johanna ihr immer dankbar sein. Dennoch konnte sie nicht leugnen, daß es mitunter anstrengend war, mit Gisla zu reden, denn die Interessen des Mädchens galten ausschließlich den drei Themen Kleider, Essen und Männer. In den letzten paar Wochen hatte Gisla unaufhörlich über die Hochzeit geredet, und allmählich ging sie damit allen auf die Nerven.
Johanna lächelte und versuchte, Gisla gefällig zu sein. »Ich finde, du solltest das blaue Kleid tragen. Es paßt zur Farbe deiner Augen.«
|156|»Das Blaue? Wirklich?« Gisla furchte die Brauen. »Aber das Gelbe hat vorn den schönen Spitzenbesatz.«
»Stimmt. Also dann doch lieber das Gelbe.«
»Andererseits … das Blaue paßt wirklich zur Farbe meiner Augen. Vielleicht sollte ich doch das Blaue nehmen. Ja. Ich glaub’ schon. Oder doch nicht? Was glaubst du?«
»Ich glaube, ich kriege gleich einen Schreikrampf, wenn du nicht endlich von dieser dummen Hochzeit aufhörst«, sagte Dhuoda. Sie war inzwischen neun Jahre alt und verärgert darüber, daß ihre ältere Schwester in den vergangenen Wochen im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit gestanden hatte. »Wen interessiert es schon, welche Farbe dein blödes Kleid hat!«
Richild blickte von ihrer Stickerei auf. »Diese Bemerkung ist einer Dame nicht würdig, Dhuoda!« ermahnte sie ihre jüngere Tochter streng.
»Tut mir leid«, wandte Dhuoda sich kleinlaut an Gisla. Doch kaum schaute Richild weg, streckte sie der älteren Schwester, die Dhuoda gutmütig anlächelte, die Zunge heraus.
»Und was dich angeht, Johanna«, sagte Richild, »steht es dir nicht zu, eine Meinung zu äußern. Gisla wird die Sachen tragen, die ich für geeignet halte.«
Johanna errötete angesichts dieser Zurechtweisung, sagte aber nichts.
»Markgraf Hugo ist ein so hübscher junger Mann!« meldete sich Bertha zu Wort, eine der Dienstmägde. Sie war ein rotwangiges Mädchen von nicht mehr als sechzehn Wintern und stand erst seit kurzem in Richilds Diensten. Erst einen Monat zuvor war Bertha für eine Magd eingestellt worden, die an Typhus gestorben war. »In seinem Umhang und den Handschuhen aus Hermelin sieht er einfach wunderschön aus. Und dann erst auf seinem Roß!«
Gisla kicherte entzückt. Dieserart ermutigt, fuhr Bertha fort: »Und so, wie er Euch anschaut, junge Herrin, dürfte es wohl keine Rolle spielen, welche Farbe Euer Kleid hat. Wenn erst die Hochzeitsnacht gekommen ist, wird er’s Euch sehr schnell ausziehen.«
Sie lachte hell und freute sich über ihren Scherz. Gisla kicherte. Die anderen auf dem Wagen saßen in erstarrtem Schweigen da, die Blicke auf Richild gerichtet.
Richild legte ihre Stickerei zur Seite. In ihren dunklen |157|Augen loderte Zorn. »Was hast du da gesagt?« fragte sie mit bedrohlich leiser Stimme.
»Äh … nichts, Herrin«, stammelte Bertha.
»Ach, Mutter, ich glaube nicht, daß sie es so gemeint hat, wie du jetzt …« Vergeblich versuchte Gisla, den Ausbruch zu verhindern.
»Derbheit und Unflätigkeit! Das werde ich in meinem Beisein nicht dulden!«
»Es tut mir leid, Herrin«, sagte Bertha kleinlaut. Doch immer noch lächelte sie leicht; denn sie glaubte nicht, daß Richild wirklich so wütend sein könnte.
Richild bedeutete Bertha, die Rückseite des Wagens zu öffnen. »Raus.«
»Aber … Herrin!« stieß Bertha schluchzend hervor, die jetzt erst erkannte, wie sehr sie sich geirrt hatte.
»Raus!« Richild war unerbittlich. »Als Strafe für deine Ungezogenheit und Respektlosigkeit wirst du den Rest des Weges zu Fuß gehen.«
Bis St. Denis waren es mehr als einhundertfünfzig Meilen – eine mörderisch lange Strecke. Reumütig starrte Bertha auf ihre Füße, die in groben Rehlederschuhen mit Hanfsohle steckten. Das Mädchen tat Johanna leid. Ihre Bemerkung war dumm und unbedacht gewesen; aber Bertha war jung und noch neu in den Diensten der Familie, und sie hatte ganz gewiß nicht beleidigend sein wollen.
»Und beim Laufen wirst du laut das Paternoster beten.«
»Ja, Herrin«, antwortete Bertha schicksalergeben. Sie kletterte aus dem Wagen, trottete hinterdrein und rezitierte dabei langsam auf Latein: »Pater noster qui es in coelis …« Sie sprach in einem eigenartigen Singsang, bei dem die falschen Worte besonders hervorgehoben wurden. Johanna war sicher, daß Bertha keine Ahnung hatte, was sie da sagte.
Richild wandte sich wieder ihrer Stickerei zu. Ihr schwarzes Haar schimmerte im Sonnenlicht, als sie den Kopf über das Kleid beugte. Ihre Lippen waren fest zusammengepreßt, und ihre Augen blickten kalt und hart vor Zorn, als sie die Nadel durch den dicken Stoff drückte.
Sie ist eine unglückliche Frau, dachte Johanna. Das war nicht leicht zu verstehen. Schließlich war sie schön, geachtet und wohlhabend, und vor allem: Sie war mit einem Mann wie Gerold verheiratet. Ja, auch ihre Hochzeit war von den Eltern vereinbart |158|worden, doch viele dieser Ehen erwiesen sich als glücklich. Bei Richild und Gerold war dies offensichtlich nicht der Fall. Sie schliefen in getrennten Betten und hatten seit Jahren keinen ehelichen Verkehr mehr gehabt, falls man dem Klatsch der Dienerschaft glauben konnte.
»Möchtest du gern reiten?« Gerold, der seinen Fuchshengst neben den Wagen gelenkt hatte, blickte lächelnd auf Johanna hinunter. In der rechten Hand hielt er die Zügel von Boda, einer lebhaften braunen Stute, die Johanna besonders gern hatte, wie er wußte.
Johanna errötete. Es war ihr peinlich, worüber sie soeben nachgegrübelt hatte. Sie war so sehr in Gedanken vertieft gewesen, daß sie gar nicht bemerkt hatte, wie Gerold zurückgeritten war, um Boda aus der Herde der Ersatzpferde herauszuholen, und mit der Stute zum Wagen kam.
»Sie soll mit den Männern reiten?« Richild machte ein düsteres Gesicht. »Das wäre unschicklich.«
»Unsinn!« erwiderte Gerold. »Das macht gar nichts. Außerdem möchte das Mädchen gern reiten. Stimmt’s, Johanna?«
»Ich … ich …«, stammelte sie verlegen und unschlüssig; denn zum einen wäre sie gern geritten, zum anderen aber war sie darauf bedacht, die zornige Richild nicht noch mehr zu verärgern.
Gerold hob eine Braue. »Aber wenn du lieber im Wagen fahren möchtest, dann …«
»Nein!« sagte Johanna rasch. »Bitte, ich möchte sehr gern auf Boda reiten.« Sie erhob sich, stand auf dem schwankenden Wagen und streckte die Arme aus. Gerold lachte, beugte sich zur Seite, schlang ihr den Arm um die Hüfte, schwang sie in die Höhe und setzte sie vor sich in den Sattel. Dann, indem er die Pferde dicht beieinander hielt, hob er Johanna zur Seite und auf den Rücken Bodas.
Johanna setzte sich im Sattel zurecht. Vom Wagen aus schauten Gisla und Dhuoda erstaunt zu, während Richild ihren Mann und das Mädchen mit zorniger Mißbilligung beobachtete. Gerold schien es nicht zu bemerken. Johanna trieb Boda zu einem langsamen Galopp und ritt rasch nach vorn zu den Männern. Die geschmeidigen, rhythmischen Bewegungen der Stute waren ein Genuß, verglichen mit der Fahrt auf dem rüttelnden und schüttelnden Wagen. Lukas rannte neben dem Pferd her, den Schwanz hoch erhoben; auf seinem Maul |159|schien ein Lachen zu liegen, das eine beinahe ebenso große Freude widerspiegelte, wie Johanna sie empfand.
Sie lenkte die Stute neben das Pferd ihres Bruders, der seine Mißbilligung kaum verbergen konnte. Johanna lachte, und ihre trübe Stimmung verflog. Der Weg nach St. Denis würde doch nicht so lang werden.
Ohne Schwierigkeiten überquerten sie die Brücke über den Rhein. Sie war breit und fest und gehörte zu den soliden Brücken, die während der Regierungszeit Kaiser Karls errichtet worden waren. Zudem wurde die Rheinbrücke vom Landesherrn instand gehalten. Doch die Überquerung der Maas, deren Ufer sie am achten Tag der Reise erreichten, erwies sich als Problem. Die dortige Brücke war so sehr verfallen, daß man sie nicht mehr wiederaufbauen konnte. Die Planken waren verrottet; an zwei, drei Stellen waren sie in den Fluß gestürzt und bildeten breite Lücken, so daß eine Überquerung völlig unmöglich war. Irgend jemand hatte eine behelfsmäßige Brücke errichtet, indem er mehrere Holzboote in einer Reihe nebeneinander vertäut hatte; man konnte den Fluß überqueren, indem man von einem Boot ins andere stieg. Doch bei so vielen Personen, Pferden und mit Waren beladenen, schweren Karren und Wagen nützte diese Brücke aus Booten nichts. Gerold und zwei seiner Männer ritten das Ufer entlang nach Süden und suchten nach einer Stelle, an der man den Fluß durchqueren konnte. Nach einer Stunde kehrten sie zurück und berichteten, daß sie zwei Meilen entfernt eine günstige Furt entdeckt hätten, dort, wo der Fluß breiter und dadurch niedriger wurde.
Also brach die Reisegruppe wieder auf. Die Karren sprangen und hüpften wild über das dichte Unterholz, das entlang des Ufers wuchs, und die Frauen hielten sich mit beiden Händen an den seitlichen Bracken der Wagen fest, damit sie nicht hinausgeschleudert wurden. Bertha ging noch immer zu Fuß, und ihre Lippen bewegten sich in fortwährendem Gebet. Die Hanfsohlen ihrer Schuhe waren bereits durchgelaufen, und das Mädchen hatte zu humpeln angefangen; ihre Zehen waren geschwollen, die Fußsohlen zerschnitten und blutig. Doch Johanna bemerkte, daß Bertha hin und wieder verstohlene Seitenblicke auf Richild und deren Töchter warf, und es schien dem Mädchen ein wenig Genugtuung zu verschaffen, daß die Insassen des Wagens heftig hin und her geschleudert wurden.
|160|Schließlich erreichten sie die Furt. Gerold und einige seiner Männer ritten zuerst ein Stück in den Fluß hinein, um die Tiefe und die Beschaffenheit des Untergrunds zu erkunden. Das Wasser wirbelte und schäumte um die Beine ihrer Pferde; in der Strommitte stieg es bis zu den Säumen ihrer Tuniken, um dann in Richtung des gegenüberliegenden Ufers allmählich wieder flacher zu werden.
Gerold kam zurückgeritten und bedeutete den anderen, mit der Überquerung zu beginnen. Ohne zu zögern, ritt Johanna in den Fluß, dicht gefolgt von Lukas, der ins Wasser sprang und mit sicheren, zuversichtlichen Bewegungen losschwamm. Nach einem Augenblick des Zauderns folgten Johannes und die anderen.
Das kalte Wasser der Maas umspülte Johannas Beine. Sie holte scharf Luft, als die kalte Nässe ihre Kleidung bis auf die Haut durchdrang. Hinter ihr rollten die Wagen langsam zum Fluß hinunter, um sich im Wasser zu heben, zu schwimmen und von den Maultieren langsam vorangezogen zu werden. Richild und die Mädchen saßen in der Mitte des vordersten Wagens, sichtlich erleichtert über diese unerwartete, wenngleich nur vorübergehende Erlösung von den Unbilden der holperigen Straße. Hinter dem Wagen kämpfte Bertha sich durch das eiskalte Wasser, das ihr fast bis zu den Schultern reichte, und versuchte, den Anschluß zum Gefährt nicht zu verlieren.
Als Johanna einen Blick nach hinten warf, sah sie, daß Bertha Schwierigkeiten hatte. Sie trieb ihr Pferd zu dem Mädchen; denn die Stute konnte sie beide problemlos ans andere Ufer tragen. Johanna war kaum mehr zwei, drei Meter von Bertha entfernt, als das Mädchen plötzlich verschwand; es glitt so schnell unter die Wasseroberfläche, als hätte jemand sie an den Füßen in die Tiefe gezogen. Johanna zügelte die Stute. Für einen schrecklichen Augenblick wußte sie nicht, was sie tun sollte; dann trieb sie das Pferd voran und auf die konzentrischen, sich ausbreitenden Kreise zu, die sich auf der Wasseroberfläche gebildet hatten und jene Stelle bezeichneten, an der Bertha versunken war.
»Bleib hier!« Gerolds Hand packte plötzlich die Zügel und hielt die Stute zurück. Er brach einen langen Ast von einer überhängenden Birke ab, stieg vom Pferd und ging langsam zum Ufer zurück, wobei er mit dem Ast im Flußbett stocherte. Eine Armlänge von der Stelle entfernt, an der Bertha verschwunden |161|war, stolperte er und wäre beinahe gestürzt, als der Zweig plötzlich tief im Wasser versank.
»Ein Loch!« Hastig streifte Gerold seinen Umhang ab und tauchte unter.
Mit einem Mal breitete sich allgemeine Verwirrung aus. Rufe ertönten. »Unser Herr ist fort!« Gerolds Männer, die nicht beobachtet hatten, was geschehen war, ritten ziellos im Fluß umher, riefen einander Anweisungen zu und schlugen mit Stöcken auf die Wasseroberfläche.
Johanna erschrak. Gerold war dort unten, unsichtbar für seine Leute; er konnte von einem Pferdehuf getroffen und verletzt werden. Warum erkannten die Männer das nicht?
»Hört auf!« rief Johanna, doch niemand schenkte ihr Beachtung. Sie ritt zu Egbert, dem obersten Gefolgsmann Gerolds, und zerrte ihn wild am Arm. »Aufhören!« sagte sie.
Verwirrt und verärgert wollte Egbert das Mädchen abschütteln, doch Johannas Blick ließ ihn innehalten. »Sagt den Leuten, sie sollen sofort aufhören. Sie machen es nur noch schlimmer.« Egbert rief den anderen zu, die Pferde zu zügeln und zu ihm zu kommen. Dann ritten sie zu der Stelle, die Johanna ihnen bezeichnete und an der sich das Loch im Flußbett befand. Dort verharrten sie alle in ängstlicher Erwartung.
Eine Minute verging. Hinter ihnen gelangten die ersten Wagen bereits ans gegenüberliegende Ufer und fuhren rumpelnd an Land. Johanna bemerkte es nicht. Ihre Blicke waren wie gebannt auf jene Stelle gerichtet, an der Gerold untergetaucht war.
Die Angst ließ ihre Handflächen feucht werden, und ihre Hände rutschten über die Zügel. Die Fuchsstute spürte die Nervosität; sie wieherte und bockte. Lukas legte den Kopf in den Nacken und heulte.
Deus Misereatur, betete Johanna. Lieber Gott, hab Erbarmen! Nimm jedes Opfer, das du willst, wenn du nur diesen Mann rettest!
Zwei Minuten.
Es dauerte zu lange! Gerold müßte längst an die Oberfläche gekommen sein, um Luft zu holen.
Johanna schwang sich aus dem Sattel und ließ sich ins kalte Wasser gleiten. Sie konnte nicht schwimmen, dachte aber gar nicht daran. Hoch spritzte das Wasser auf, als sie zum Loch im Flußbett rannte. Vor ihr sprang Lukas wild vor und zurück und versuchte, ihr den Weg zu versperren, doch Johanna drängte |162|sich an ihm vorbei, von einem einzigen Gedanken beherrscht: Du mußt zu Gerold, ihn aus der Tiefe ziehen, ihn retten …
Sie war noch zwei Schritte von dem Loch entfernt, als vor ihr plötzlich ein Schwall Wasser gischtend in die Höhe schoß. Mit einem gewaltigen Sprung kam Gerold an die Oberfläche. Nach Atem ringend stand er da; das lange, nasse rote Haar klebte ihm am Kopf.
»Gerold!« Johannas heller, klarer Freudenschrei übertönte sogar die Jubelrufe der Männer. Gerold wandte sich ihr zu und nickte. Dann holte er tief Luft, um noch einmal zu tauchen.
»Da! Seht nur!« Der Maultierkarrenfahrer des ersten Wagens wies mit dem ausgestreckten Arm flußabwärts.
Ein länglicher blauer Gegenstand war am anderen Ufer zu erkennen, der sich sanft mit den Wellen hob und senkte. Berthas Umhang war blau.
Johanna, Gerold und die Männer stiegen wieder auf die Pferde und ritten flußab. Im Uferschilf, zwischen abgebrochenen Ästen und Trümmerstücken, die ans Ufer gespült worden waren, trieb Bertha auf dem Rücken im Wasser. Ihre schlaffen Arme und Beine waren weit ausgestreckt, und auf ihrem toten, starren Gesicht lag ein letzter schrecklicher Ausdruck von Hilflosigkeit und Angst.
»Hebt sie auf«, wandte Gerold sich mit schroffer Stimme an seine Männer. »Wir bringen sie zur Kirche in Prüm, damit sie eine anständige Beerdigung bekommt.«
Johanna begann heftig zu zittern. Sie konnte den Blick nicht von Bertha nehmen. Jetzt, im Tod, sah sie Matthias erschreckend ähnlich: die fahle, graue Haut; die halbgeschlossenen Augen; der schlaffe Mund.
Plötzlich lagen Gerolds Arme um Johanna. Sanft drehte er ihren Kopf zur Seite, drückte ihn an seine Schulter. Johanna schloß die Augen und klammerte sich an Gerold fest. Die Männer stiegen von den Pferden und sprangen klatschend ins Wasser; Johanna hörte das leise Rascheln des Uferschilfs, als sie Berthas Leichnam daraus befreiten und in die Höhe hoben.
»Du bist mir vorhin ins Wasser gefolgt, nicht wahr?« flüsterte Gerold, den Mund dicht an Johannas Ohr. Seine Stimme klang verwundert, als wäre ihm dies gerade erst bewußt geworden.
»Ja.« Johanna nickte, ohne den Kopf von seiner Schulter zu nehmen.
»Kannst du denn schwimmen?«
|163|»Nein«, gab sie zu und spürte, wie Gerolds Arm sich fester um ihre Schultern legte, als sie gemeinsam am Flußufer standen.
Hinter ihnen trugen die Männer Berthas Leichnam behutsam zum Wagen. Der Hofgeistliche schritt neben ihnen her; den Kopf gesenkt, sprach er Gebete für das tote Mädchen. Richild dagegen betete nicht. Statt dessen starrte sie zu Johanna und Gerold hinüber, den Kopf hoch erhoben.
Schließlich löste Johanna sich aus Gerolds Umarmung.
»Was ist?« In seinem Blick lagen Zuneigung und Sorge.
Richild beobachtete die beiden noch immer.
»N-nichts.«
Gerold hob den Kopf, folgte Johannas Blick. »Ah.« Sanft strich er ihr eine Strähne weißgoldenen Haares aus der Stirn. »Sollen wir uns wieder zu den anderen gesellen?«
Johanna nickte, und Seite an Seite gingen sie zu den Wagen. Dort verließ Gerold sie, um sich mit dem Hofgeistlichen darüber zu besprechen, wie sie Berthas Leiche nach Prüm bringen sollten.
Sofort rief Richild Johanna zu: »Für den Rest der Reise bleibst du im Wagen, Johanna. Hier bei uns bist du sicherer.«
Widerspruch war zwecklos. Johanna stieg in den Wagen.
Derweil legten die Männer Berthas Leichnam behutsam auf einen der hintersten Wagen, wobei sie erst einmal Säcke zur Seite schieben mußten, um Platz zu schaffen. Eine Hausdienerin, eine ältere Frau, schrie auf und warf sich weinend über die tote Bertha. Wahrscheinlich war sie eine Verwandte des Mädchens.
Die Frau begann mit der traditionellen Totenklage. Die anderen warteten in respektvollem, verlegenem Schweigen. Als die Klage endete, ging der Hofgeistliche nach einer angemessenen Wartezeit zu der Frau und redete mit leiser Stimme auf sie ein. Die Frau hob den Kopf; ihre Augen, von Schmerz und Trauer erfüllt, wandten sich Richild zu.
»Ihr!« schrie die Frau. »Das wart Ihr, Herrin! Ihr habt sie getötet! Sie war ein liebes Mädchen, meine Bertha, und sie wäre Euch eine gute Dienerin gewesen! Berthas Tod ist Eure Schuld, Herrin. Eure Schuld!«
Zwei von Richilds Gefolgsleuten packten die Frau mit grobem Griff und zerrten sie rasch fort. Noch immer schrie sie Richild Verwünschungen zu.
|164|Der Hofgeistliche ging zu Richild herüber. Voller nervösen Unbehagens knetete er sich die Hände. »Sie ist Berthas Mutter. Die arme Frau muß vor Trauer den Verstand verloren haben. Natürlich war der Tod des Kindes ein Unfall. Ein tragischer Unfall.«
»Es war kein Unfall, Wala«, entgegnete Richild streng. »Es war Gottes Wille.«
Wala erbleichte. »Gewiß. Natürlich.« Als Richilds Hofgeistlicher, als privater ›Hauspriester‹, stand Wala im Rang nur um weniges höher als ein gewöhnlicher halbfreier colonus; falls er Richilds Zorn auf sich zog, konnte sie ihn auspeitschen lassen oder – schlimmer noch – ihn davonjagen und der Armut und dem Hunger preisgeben. »Es war Gottes Wille. Ja, natürlich, Gottes Wille, Herrin, ganz gewiß.«
»Geh jetzt und rede mit der Frau, denn ihr Kummer war so schrecklich, daß er ihre Seele bestimmt in tödliche Gefahr gebracht hat.«
»Oh, Herrin!« Wala hob seine langen weißen Hände zum Himmel. »Welch göttliche Milde! Welche Güte! Welch eine Barmherzigkeit!«
Mit einer ungeduldigen Handbewegung scheuchte Richild den Priester fort, und er eilte davon. Er sah wie ein Mann aus, den man vom Galgenstrick befreit hatte, kurz bevor die Falltür sich öffnete.
Gerold erteilte den Befehl, weiterzuziehen, und die Prozession bewegte sich wieder voran; die Wagen holperten über die Uferböschung und auf die Straße nach St. Denis. Ganz am Schluß des Zuges, im letzten Wagen, wurden die Schreie der Mutter Berthas allmählich zu einem unablässigen, herzzerreißenden Schluchzen. Dhuodas Augen waren tränenfeucht, und sogar Gisla wirkte bedrückt; ihre beständige gute Laune war verschwunden. Nur Richild schien vollkommen unbeeindruckt. Johanna betrachtete sie abschätzend. Kann jemand seine wahren Gefühle so gut verbergen? fragte sie sich. Oder ist Richilds Inneres wirklich so kalt, wie es den Anschein hat? Lastet der Tod des Mädchens denn kein bißchen auf ihrem Gewissen?
Richild schaute Johanna an, und diese wandte die Augen ab, damit Richild ihre Gedanken nicht lesen konnte.
Gottes Wille?
Nein, Herrin.
Dein Befehl.
|165|Der erste Tag des Jahrmarkts war in vollem Gange. Die Besucher strömten durch das riesige eiserne Tor, das aufs große freie Feld vor der Abtei von St. Denis führte: Bauern in zerlumpten bandelettes und Hemden aus grobem Leinen; Edle und fideles in seidenen Tuniken und mit goldenen bandeliers; ihre Gemahlinnen in elegante, pelzverbrämte Umhänge gewandet und mit edelsteinbesetztem Kopfschmuck; Langobarden und Aquitanier in ihren exotischen gebauschten Pantalons und Stiefeln. Nie zuvor hatte Johanna ein derart seltsames und riesiges Gemisch aus Menschen der verschiedensten Volksstämme gesehen.
Auf dem Feld drängten sich dicht an dicht die Stände der Händler, die ihre Waren in einem leuchtend bunten Wirrwarr aus Farben und Formen zur Schau stellten. Es gab Umhänge und Mäntel aus purpurner Seide; wunderschöne, kostbare Pelze; Pfauenfedern; Wamse aus geprägtem Leder; seltene Delikatessen wie Mandeln und Rosinen; alle Arten von Heilkräutern und Gewürzen; Perlen und Gemmen, Silber und Gold. Und immer noch kamen neue Waren durch die Tore – sei es auf hoch beladenen Wagen, sei es als große, verschnürte Packen, die von den ärmeren Händlern auf dem Rücken getragen wurden und so schwer waren, daß die Träger unter der Last beinahe zusammenbrachen. Mehr als einer dieser Händler würde in der nächsten Nacht kein Auge zutun, weil seine überbeanspruchten Muskeln zu sehr schmerzten. Doch auf diese Weise sparte er sich die hohen Mautgebühren – das rotitacum und das saumaticum –, die für Waren erhoben wurden, die auf Karren, Wagen oder von Lasttieren in die Stadt gebracht wurden.
Als sie durch das Tor hindurch waren, sagte Gerold zu Johanna und Johannes: »Streckt die Hände aus.« Dann legte er den beiden je einen silbernen denarius auf die Handfläche. »Geht vernünftig damit um.«
Johanna starrte auf die silberglänzende Münze. Denarii hatte sie erst ein- oder zweimal zu Gesicht bekommen, und das auch nur von weitem; denn in Ingelheim wurde der Warenverkehr durch Tauschhandel getätigt; selbst das Einkommen ihres Vaters – der Zehnte, den die Bauern und Handwerker der Gemeinde an die Kirche entrichten mußten – war in Form von Lebensmitteln, Stoffen, Holz und anderem erstattet worden.
|166|Ein ganzer denarius! Für Johanna war es ein unvorstellbares Vermögen.
Sie schlenderten die schmalen, überfüllten Durchgangswege zwischen den Ständen hinunter. Überall um sie herum priesen Verkäufer lautstark ihre Waren an; Kunden feilschten temperamentvoll um die Preise, und Darsteller jeder Art – Tänzer, Jongleure, Akrobaten, Bären- und Affendompteure – führten ihre Künste vor. Lachen und Geschrei, Schimpfen und Scherzen und der Lärm der unzähligen Marktschreier, der Streitenden und Feilschenden, die sich in hundert verschiedenen Sprachen und Dialekten unterhielten, umgab sie von allen Seiten.
In diesem Menschengewimmel konnte man leicht verlorengehen. Johanna nahm die Hand ihres Bruders – zu ihrem Erstaunen protestierte er nicht – und hielt sich dicht an Gerolds Seite. Lukas blieb stets hinter ihnen; wie immer unzertrennlich von Johanna. Schon bald wurde die kleine Gruppe von Richild und den anderen getrennt, die langsamer gingen. Vor der ersten Reihe der Stände blieben sie auf halber Strecke stehen und warteten, daß die anderen zu ihnen aufschlossen. Ein Stück zu ihrer Linken stand eine Frau, die zwei Händler anschrie, die an beiden Enden einer Bahn aus Leinen zerrten, welche neben einer hölzernen Meßlatte lag, die genau eine Elle lang war.
»Hört auf!« rief die Frau. »Ihr Dummköpfe! Ihr streckt ja den Stoff!« Es sah tatsächlich so aus, als wollten die beiden Männer die Bahn aus Leinen auseinanderreißen. Offensichtlich hatten sie die Absicht, möglichst wenig Stoff für möglichst viel Geld zu verkaufen.
Ein Stück voraus ertönten Rufe und Gelächter von einer Menge, die um eine kleine, freie, kreisförmige Fläche herumstand.
»Komm weiter.« Johannes zerrte die Schwester am Arm. Sie zögerte, denn sie wollte Gerold nicht allein lassen. Doch Gerold sah, wohin Johannes wollte, und er gab den Geschwistern einen freundschaftlichen Schubs in diese Richtung.
Als die beiden sich der Menge näherten, die um den kleinen Kreis herumstand, erhob sich wieder lautes Geschrei. Johanna sah, wie im Innern des Kreises ein Mann auf die Knie stürzte und sich an die Schulter griff, als würde sie schmerzen. Rasch erhob der Mann sich wieder, und nun konnte Johanna sehen, daß er den kurzen, dicken Ast einer Birke in einer Hand hielt. |167|Ein zweiter, ähnlich bewaffneter Mann stand in dem Ring. Die beiden Burschen umkreisten einander und schwangen ihre Knüttel mit wilder, entschlossener Hingabe. Ein eigenartiges, schrilles Quietschen ertönte, als plötzlich ein blutüberströmtes Schwein in panischer Verzweiflung zwischen den beiden Männern hin und her rannte, wobei seine kurzen, dicken Beine immer wieder über den Boden rutschten. Die Männer ließen ihre Knüttel auf das Tier niedersausen, doch ihr Opfer wehrte sich entschlossen: Der Mann, der vorhin zu Boden gestürzt war, schrie laut auf, als das Schwein ihm den Kopf zwischen die Beine rammte. Wieder brüllte die Menge vor Lachen.
Auch Johannes lachte herzhaft, und seine Augen leuchteten vor Interesse. Er zupfte einen kleinen, pockennarbigen Bauern, der neben ihm stand, am Ärmel. »Was geschieht da?« fragte Johannes aufgeregt.
Der Mann blickte den Jungen grinsend an. Die narbigen Löcher in seiner Haut wurden breiter, als sie sich spannte. »Na, hör mal«, sagte er, »die sind hinter‘m Schwein her, Junge. Siehste das denn nicht? Und wer von beiden das Vieh erschlägt, darf’s mit nach Hause nehmen, für die Speisekammer.«
Seltsam, ging es Johanna durch den Kopf, als sie die beiden Männer beobachtete, die um den Siegespreis kämpften. Sie schwangen die Knüppel zwar mit aller Kraft, doch die Schläge waren halbherzig und ungenau; die Männer trafen öfter den anderen oder ließen den Knüppel durch leere Luft sausen, als daß sie das unglückliche Schwein trafen. Und es war irgend etwas Eigenartiges am Äußeren des Mannes, der Johanna zugewandt war. Sie schaute genauer hin und sah dort, wo seine Pupillen hätten sein müssen, milchiges Weiß. Dann wandte auch der zweite Mann Johanna das Gesicht zu; seine Augen sahen normal aus, wäre da nicht dieser leere und ausdruckslos nach vorn gerichtete Blick gewesen.
Die Männer waren blind.
Ein weiterer Schlag traf ins Ziel, und der Mann mit den milchig-weißen Augen taumelte zur Seite und preßte die Hände an den Kopf. Johannes sprang in die Höhe, klatschte begeistert und rief und lachte wie alle anderen in der Menge. In seinen Augen funkelte eine seltsame Erregung.
Johanna wandte sich ab.
»Psst! Junge Dame!« rief eine Stimme ihr zu. Auf der anderen |168|Seite des Durchgangs sah Johanna einen Verkäufer stehen. Der Mann winkte ihr, und sie ließ den lachenden und schreienden Johannes bei den anderen Zuschauern des widerlichen Kampfes und ging zum Stand des Händlers, vor dem ein langer Tisch mit religiösen Gegenständen aufgestellt war. Johanna sah Kreuze aus Holz, Medaillons aller Art und mit den verschiedensten Bildern und Beschriftungen sowie die Reliquien mehrerer Heiliger, die in dieser Gegend besonders verehrt wurden: eine Haarsträhne vom heiligen Willibrord; einen Fingernagel vom heiligen Romarik; zwei Zähne von der heiligen Waldetrudis und einen Fetzen Stoff vom Umhang der jungfräulichen Märtyrerin Genoveva.
Der Mann nahm ein Fläschchen aus seiner ledernen Schäfertasche.
»Wißt Ihr, was da drinnen ist?« Seine Stimme war so leise, daß Johanna ihn bei dem Lärm ringsum kaum verstehen konnte. Sie schüttelte den Kopf.
»Ein paar Tropfen Milch.« Die Stimme des Mannes wurde noch leiser und verschwörerischer. »Von der heiligen jungfräulichen Mutter Gottes.«
Johanna konnte es nicht fassen. Was für eine unvorstellbare Kostbarkeit! Aber was hatte sie hier auf diesem Markt zu suchen? So etwas gehörte in ein großes Kloster oder in einen Domschatz.
»Macht einen denarius«, sagte der Mann.
Einen denarius! Johanna betastete die Silbermünze, die sie in ihrem Ranzen verstaut hatte. Der Mann hielt ihr das Fläschchen hin, und Johanna nahm es; seine Oberfläche war kühl in ihrer Hand. Ganz kurz sah sie ein Bild vor ihrem geistigen Auge: Der Ausdruck auf Odos Gesicht, wenn sie mit einem solchen Geschenk für den Dorstädter Domschatz nach Hause kam.
Der Händler lächelte, streckte die Hand aus und schnippte auffordernd mit den Fingern, um Johanna die Münze zu entlocken.
Johanna zögerte. Weshalb verkaufte der Mann eine derartige Kostbarkeit für eine so geringe Summe? Die Reliquie war ein Vielfaches wert. Manche Abtei oder mancher Domherr hätte ein Vermögen dafür gegeben; denn ein so heiliger Gegenstand hätte Pilger angelockt und einen Wallfahrtsort begründet.
Johanna nahm den Verschluß von dem Fläschchen und spähte hinein. Es war ungefähr halbvoll. Sie konnte die bleiche |169|Oberfläche der Milch sehen, die glatt und blauweiß im Sonnenlicht schimmerte. Kurz entschlossen schob Johanna den kleinen Finger ins Fläschchen und tauchte die Fingerspitze in die milchige Flüssigkeit. Dann schaute sie auf; der Blick aus ihren wachen, klugen Augen schweifte über den Verkaufsstand und dessen nähere Umgebung. Johanna lachte, setzte das Fläschchen an die Lippen und trank.
Der Mann schrie leise auf. »Hast du den Verstand verloren?« fragte er mit wutverzerrtem Gesicht.
»Köstlich«, sagte Johanna, drückte den Verschluß wieder auf das Fläschchen und reichte es dem Mann zurück. »Meine besten Empfehlungen an Eure Ziege.«
»Himmel noch mal! Du … du …«, stammelte der Mann, der vor Zorn und Enttäuschung offenbar keine Worte fand. Für einen Augenblick sah es so aus, als wollte er um den Verkaufsstand herumkommen und auf Johanna losgehen, als plötzlich ein tiefes Knurren ertönte: Lukas, der bis dahin still neben Johanna gesessen hatte, stellte sich vor dem Mädchen auf. In seinen Augen loderte es gefährlich, und drohend hatte er die scharfen Zähne gefletscht.
»Was … ist das?« fragte der Reliquienhändler.
»Das«, sagte eine Stimme hinter Johanna, »ist ein Wolf.«
Die Stimme gehörte Gerold. Während des Wortwechsels Johannas mit dem Verkäufer hatte er sich leise genähert. Jetzt stand er lässig da, die Arme vor der Brust verschränkt, das rechte Bein vor das linke geschlagen, doch in seinen Augen lag eine deutliche Warnung. Der Verkäufer wandte sich ab und murmelte irgend etwas Unverständliches vor sich hin. Gerold legte Johanna den Arm um die Schultern und führte sie davon, nachdem er Lukas herbeigerufen hatte, der immer noch vor dem Ladentisch stand und den Verkäufer anknurrte. Doch auf Gerolds Ruf kam er herbeigerannt.
Gerold schwieg. Schweigend gingen sie über den Jahrmarkt, wobei Johanna schneller ausschreiten mußte, um mit dem großen Mann mithalten zu können.
Er ist wütend, ging es ihr durch den Kopf, und ihre gehobene Stimmung erlosch so plötzlich wie ein ersticktes Herdfeuer.
Und was die Sache noch schlimmer machte: Johanna wußte, daß Gerold recht hatte. Sie war leichtsinnig gewesen, als sie den Händler herausgefordert hatte. Hatte sie Gerold nicht versprochen, vorsichtig zu sein? Warum mußte sie bloß |170|immer irgendwelche Dinge in Frage stellen? Warum konnte sie es nicht begreifen: Manche Gedanken sind gefährlich.
Vielleicht bin ich ein unverbesserlicher Dummkopf.
Dann hörte sie ein tiefes, rollendes Geräusch: Gerold lachte leise.
»Der Gesichtsausdruck des Mannes, als du das Fläschchen an die Lippen gesetzt und es ausgetrunken hast …! Diesen Gesichtsausdruck werde ich nie im Leben vergessen!« Er zog Johanna an sich und umarmte sie voller Wärme. »Ach, Johanna, du bist mein kostbarster Schatz! Aber sag mal – woher hast du eigentlich gewußt, daß in dem Fläschchen nicht tatsächlich Milch von der heiligen Jungfrau Maria war?«
Johanna grinste, erleichtert darüber, daß er nicht zornig war. »Ich war von Anfang an mißtrauisch. Denn wäre das Ding wirklich heilig gewesen, warum hat der Mann es dann so billig verkauft? Und weshalb hatte er seine Ziege hinter dem Stand so angebunden, daß niemand sie sehen konnte? Wenn er sie durch einen Tauschhandel bekommen hat, gäbe es doch keinen Grund, das Tier zu verstecken. Also mußte es irgendwie mit der Milch zu tun haben.«
»Stimmt. Aber das Zeug wirklich zu trinken …« Wieder brach Gerold in Gelächter aus. »Du mußt noch mehr gewußt haben als nur diese Sache mit der Ziege.«
»Ja. Als ich den Verschluß vom Fläschchen genommen hatte, da habe ich gesehen, daß die Milch noch nicht geronnen und vollkommen frisch war, als wäre sie heute morgen erst gemolken worden. Die Milch der Jungfrau Maria aber wäre mehr als achthundert Jahre alt.«
»Oh, ja.« Gerold lächelte, die Brauen gehoben. Er stellte Johanna auf die Probe: »Nun ja, vielleicht liegt es an der Heiligkeit der Milch, daß sie rein und unverdorben geblieben ist.«
»Das könnte sein«, gab sie zu. »Aber als ich den Finger hineingesteckt habe, war sie immer noch warm! Eine so heilige Flüssigkeit mag vielleicht nicht verderben – aber weshalb sollte sie achthundert Jahre lang warm bleiben?«
»Gut beobachtet und ein scharfer logischer Schluß«, sagte Gerold anerkennend. »Nicht einmal Lukretius hätte es besser machen können.«
Johanna strahlte. Wie sehr es ihr gefiel, Gerold zu beeindrucken! Sie waren nun fast am Ende der langen Reihe von Marktständen angelangt, wo das große Holzkreuz des heiligen |171|Denis die Grenzen des Jahrmarktsgeländes anzeigte und über den stillen Frieden der Mönche der dortigen Abtei wachte. Unweit des Kreuzes hatten die Pergamentverkäufer ihre Stände errichtet.
»Schau!« Gerold entdeckte sie zuerst und eilte hinüber, um die Ware zu begutachten. Sie war von sehr hoher Qualität. Besonders das Vellum, das feinste aller Pergamentsorten, war von außergewöhnlicher Güte: die Innenseite des Leders war makellos glatt und von reinerem Weiß, als Johanna es jemals gesehen hatte; die Außenseite war, wie üblich, von weißgelber Farbe. Doch die winzigen Löcher, die das herausgerissene Kalbshaar hinterlassen hatte, waren so klein, daß man sie mit bloßem Auge kaum sehen konnte.
»Was für eine Freude es machen muß, auf so schönen Blättern zu schreiben«, murmelte Johanna und betastete das Pergament ehrfürchtig.
Sofort rief Gerold einen der Händler zu sich. »Gebt mit vier Bogen«, sagte er zu dem Mann. Johanna stieß hörbar ihren Atem aus. Vier Bogen! Das reichte, um einen ganzen Codex darauf zu schreiben!
Während Gerold die Ware bezahlte, wandte Johanna ihre Aufmerksamkeit einigen zerfledderten Seiten Pergament zu, die achtlos verstreut auf dem hinteren Teil des Standes lagen. Die Ränder der Seiten waren eingerissen und ungleichmäßig, und es war noch – wenn auch sehr schwach – die Schrift darauf zu sehen, die an einigen Stellen von häßlichen braunen Flecken bedeckt wurde. Johanna beugte sich vor, um das Geschriebene zu lesen. Kaum hatte sie begonnen, als sich ihr Gesicht vor Erregung rötete.
Sobald der Händler Johannas Interesse bemerkte, kam er herübergeeilt.
»So jung und schon ein so gutes Auge für ein günstiges Geschäft«, sagte der Händler schmeichlerisch. »Die Blätter sind alt, wie Ihr seht, mein Fräulein; aber sie sind noch gut zu gebrauchen. Schaut her!«
Bevor Johanna etwas sagen konnte, nahm der Händler ein langes flaches Werkzeug und schabte es rasch übers Pergament, wobei er mehrere Zeilen der uralten Schrift entfernte.
»Hört auf!« sagte Johanna mit schriller Stimme; denn sie mußte an ein anderes Stück Pergament denken, und an ein anderes Messer. »Bitte, hört auf!«
|172|Der Händler schaute sie verwundert an. »Ihr braucht Euch keine Sorgen zu machen, mein Fräulein. Das ist bloß heidnisches Geschreibsel.« Stolz zeigte er auf die abgeschabte Seite. »Seht Ihr? Rein und glatt, so daß man sofort darauf schreiben kann.« Er hob das Werkzeug, um seine Geschicklichkeit noch einmal zu demonstrieren, doch Johanna hielt die Hand des Mannes fest.
»Ich gebe Euch einen denarius für diese Seiten«, sagte sie knapp.
Der Mann spielte den Entrüsteten. »Aber sie sind drei denarii wert. Mindestens!«
Johanna nahm die Münze aus ihrem Ranzen und hielt sie dem Händler hin. »Ich gebe Euch einen denarius«, wiederholte sie. »Mehr habe ich nicht.«
Der Händler zögerte und musterte abschätzend ihr Gesicht. »Also gut«, sagte er schließlich gereizt. »Nehmt die Seiten.«
Johanna warf ihm die Münze hin und schob die uralten Pergamentblätter rasch zusammen, bevor der Mann es sich anders überlegen konnte. Dann rannte sie zu Gerold.
»Sieh nur!« sagte sie aufgeregt.
Gerold betrachtete die Seiten. »Ich kann die Buchstaben nicht entziffern.«
»Es ist auf Griechisch geschrieben«, erklärte Johanna. »Und es ist sehr alt. Ich glaube, es ist ein technischer Text. Siehst du das Schaubild?« Sie hielt Gerold eine der Seiten hin, und er betrachtete die Zeichnung.
»Scheint eine hydraulische Vorrichtung zu sein.« Sein Interesse war geweckt. »Faszinierend. Könntest du mir den Text übersetzen?«
»Ja.«
»Sehr gut. Dann kann ich diese Vorrichtung vielleicht nachbauen.«
Sie lächelten sich an; gemeinsame Verschwörer bei einem wundervollen neuen Plan.
»Vater!« Gislas Stimme übertönte den Lärm der Menge. Gerold drehte sich um und hielt nach dem Mädchen Ausschau. Er war einen Kopf größer als alle Leute um ihn herum; sein dichtes Haar glänzte rotgolden in der Sonne. Johannas Herz schlug schneller, als sie ihn betrachtete. Du bist mein kostbarster Schatz, hatte er gesagt. Sie drückte die alten Pergamentseiten an sich, während sie Gerold betrachtete und diesen wunderschönen Augenblick für immer festzuhalten versuchte.
|173|»Vater! Johanna!« Gisla tauchte in der Nähe auf. Sie stieß und schubste sich einen Weg durch die Menge. Einer der Diener folgte ihr, mit Waren bepackt. »Ich habe euch schon überall gesucht!« ermahnte Gisla die beiden in gespieltem Zorn; dann schaute sie Johanna an. »Was hast du da?« fragte sie.
Johanna wollte es erklären, doch Gisla winkte ab. »Ach, ich sehe schon, wieder eins von deinen dummen alten Büchern. Aber schaut euch mal an, was ich entdeckt habe«, fügte sie schwärmerisch hinzu, nahm eine mehrfarbige Stoffbahn von den Armen des Dieners und rollte sie ab. »Für mein Hochzeitskleid. Ist das nicht ideal?«
Der Stoff schimmerte und glänzte. Johanna betrachtete ihn genauer und sah, daß feine Gold- und Silberfäden darin eingewirkt waren.
»Das ist ja erstaunlich«, sagte sie aufrichtig.
Gisla kicherte. »Ich weiß!« Ohne auf eine Erwiderung zu warten, packte sie Johanna beim Arm und ging zu einem Stand ein Stück voraus. »Sieh nur«, sagte sie. »Eine Sklavenversteigerung. Komm, schauen wir’s uns an!«
»Nein.« Johanna riß sich los und blieb stehen. Sie hatte gesehen, wie die Sklavenhändler durch Ingelheim gekommen waren; ihre menschliche Fracht war mit dicken Seilen aneinandergefesselt. Viele Sklaven waren Sachsen gewesen, wie Johannas Mutter.
»Nein«, sagte sie noch einmal und rührte sich nicht von der Stelle.
»Nun hab dich doch nicht so«, sagte Gisla. »Es sind doch bloß Heiden. Sie haben keine Gefühle. Jedenfalls keine wie wir.«
Johanna ging nicht darauf ein. »Ich möchte wissen, was da drin ist«, sagte sie statt dessen, darauf bedacht, Gisla vom Sklavenmarkt abzulenken. Sie führte Gisla zu einer kleinen Bude am Ende der Reihe, die von den Ständen gebildet wurde. Die Bude war dunkel und fest verschlossen; keine Ritze war zwischen den Brettern zu entdecken. Lukas umkreiste die kleine Hütte und beschnüffelte neugierig die Wände.
»Wie seltsam«, sagte Gisla.
In der hellen Nachmittagssonne, umgeben von lärmenden Menschenmengen, war die kleine, stille dunkle Bude in der Tat eine Absonderlichkeit. Johanna, deren Neugierde geweckt war, klopfte vorsichtig gegen die verschlossenen Läden eines winzigen Fensters.
|174|»Kommt herein«, erklang eine kratzige Stimme aus dem Innern. Gisla zuckte erschreckt zusammen, wich aber nicht zurück. Die beiden Mädchen gingen zur Seitenwand der Hütte und drückten vorsichtig die Brettertür auf, die quietschend und ächzend nach innen schwang, so daß die Sonnenstrahlen schräg ins düstere Innere der Hütte fielen.
Die Mädchen traten ein. Ein seltsamer Geruch lag in der Luft, durchdringend und süß, wie der Geruch von gegorenem Honig. In der Mitte der abgedunkelten Hütte saß mit überkreuzten Beinen eine winzige Gestalt – eine alte Frau, schlicht in einen weiten, dunklen Umhang gekleidet. Sie schien unglaublich alt zu sein, vielleicht siebzig Winter oder mehr. Die Haare waren ihr ausgefallen – nur auf dem Scheitel waren noch einige weiße, dünne Strähnen zu sehen –, und sie wackelte unablässig mit dem Kopf, als hätte sie Schüttelfrost. Doch ihre Augen leuchteten lebhaft im Halbdunkel und betrachteten Johanna und Gisla mit durchdringenden, abschätzenden Blicken.
»Hübsche kleine Tauben«, krächzte die Frau. »So hübsch und so jung. Was wollt ihr von der alten Balthild?«
»Wir wollten bloß wissen … wie … was …«, stammelte Johanna, als sie nach einer Erklärung suchte. Sie war ein wenig verängstigt; denn der Blick der alten Frau war beunruhigend.
»Wir wollten wissen, was es hier zu kaufen gibt«, vollendete Gisla tapfer den Satz.
»Was es hier zu kaufen gibt? Was es hier zu kaufen gibt?« sagte die alte Frau und lachte krächzend. »Etwas, das ihr haben wollt, aber nie bekommen werdet.«
»Und was ist das?« fragte Gisla.
»Etwas, das euch schon gehört – nur wißt ihr’s nicht.« Die Alte grinste die Mädchen mit ihrem zahnlosen Mund an. »Etwas, das man nicht bezahlen und trotzdem kaufen kann.«
»Was ist das?« fragte Gisla ungeduldig und mit Schärfe in der Stimme, denn sie war der Rätsel überdrüssig.
»Die Zukunft.« Die Augen der alten Frau funkelten im Halbdunkel. »Deine Zukunft, meine kleine Taube. Alles, was sein wird und noch nicht ist.«
»Oh! Dann seid Ihr Wahrsagerin!« Gisla klatschte in die Hände, erfreut darüber, das Rätsel gelöst zu haben. »Wieviel kostet es, wenn Ihr in die Zukunft schaut?«
Einen solidus! Das war der Preis für eine gute Milchkuh, oder zwei kräftige Schafböcke!
»Zu teuer.« Gisla war jetzt in ihrem Element, wirkte selbstsicher und zielstrebig; eine gewiefte Kundin, die darauf aus war, ein gutes Geschäft zu machen.
»Einen obolus«, bot sie der alten Frau an.
»Fünf denarii«, konterte die Alte.
»Zwei. Einen für jede von uns.« Gisla nahm die Münzen aus ihrem Ranzen und hielt sie in der ausgestreckten Hand, damit die alte Frau sie sehen konnte.
Die Alte zögerte: dann nahm sie die Münzen und bedeutete den Mädchen, sich neben sie auf den Fußboden zu setzen. Sie nahmen Platz, und die alte Frau nahm Johannas kräftige junge Hände zwischen ihre zitternden Finger und richtete ihren seltsamen, beunruhigenden Blick auf sie. Lange Zeit sagte die Alte nichts; dann begann sie zu sprechen.
»Du bist, was du nicht sein wirst, Wechselbalg; was du werden wirst ist anders, als du bist.«
Daraus konnte niemand schlau werden – es sei denn, die Alte wollte damit lediglich sagen, daß Johanna bald eine erwachsene Frau sein würde. Aber weshalb hatte die Alte sie als ›Wechselbalg‹ bezeichnet?
»Du strebst nach dem Verbotenen«, fuhr Balthild fort. Johanna zuckte vor Erstaunen zusammen, und die alte Frau verstärkte den Griff ihrer Hände. »Ja, Wechselbalg, ich kann in dein Innerstes schauen. Du wirst nicht enttäuscht. Macht und Größe werden dein – viel mehr, als du’s dir erträumen kannst. Doch auch Schmerz und Kummer werden dir zuteil – schlimmer, als du’s dir vorzustellen vermagst.«
Balthild ließ Johannas Hände fallen und wandte sich Gisla zu, die Johanna zuzwinkerte und mit einer Miene anblickte, die besagte: »Das ist ein Spaß, nicht wahr?«
»Du wirst bald heiraten. Einen reichen Mann«, sagte Balthild.
»Ja!« rief Gisla und kicherte. »Aber ich habe Euch nicht dafür bezahlt, daß Ihr mir sagt, was ich schon weiß, alte Frau. Wird meine Ehe glücklich sein?«
»Nicht glücklicher als die meisten Ehen, aber auch nicht unglücklicher«, sagte Balthild, worauf Gisla den Blick in gespielter Verzweiflung an die Decke der Hütte richtete.
|176|»Eine Ehefrau, die wirst du wohl, aber niemals eine Mutter.« Balthild redete in einem seltsamen Sprechgesang und schwang im Rhythmus der Worte vor und zurück. Ihre Stimme war plötzlich klar und melodisch.
Gislas Lächeln schwand. »Soll das heißen, ich bin unfruchtbar?«
»Leer und dunkel liegt deine Zukunft vor dir.« Balthilds Stimme erhob sich zu einem klagenden Heulen. »Schmerz wirst du erleiden und Verzweiflung und Angst.«
Gisla saß wie angewurzelt da, regungslos wie ein Kaninchen, das vom Blick der Schlange gebannt wird.
»Das reicht jetzt!« Johanna riß Gislas Hände aus den Fingern der alten Frau. »Komm mit«, sagte sie. Gisla gehorchte, sanftmütig wie ein Lämmchen.
Draußen vor der Hütte brach Gisla in Tränen aus.
»Glaub doch nicht an diesen Unsinn«, besänftigte Johanna sie. »Die alte Frau ist nicht mehr bei Verstand. Sie redet Unsinn. Außerdem stimmt es sowieso nicht, was Wahrsager prophezeien.«
Doch Gisla war untröstlich; sie weinte und weinte. Schließlich führte Johanna sie zu den Ständen, an denen es Süßigkeiten gab; dort kauften die Mädchen sich kandierte Feigen und schlangen sie hinunter, bis sie sich ein bißchen besser fühlten.
Als sie Gerold an diesem Abend von ihrem Erlebnis erzählten, reagierte er wütend.
»Was ist das? Hexerei? Johanna und Gisla – ihr führt mich morgen zu dieser Hütte. Ich werde diesem alten Weib, das jungen Mädchen Angst einjagt, einige passende Worte sagen. Und du, Gisla, gibst keinen Pfifferling auf den Unsinn, den die Alte dir erzählt hat, hörst du? Warum seid ihr überhaupt zu einer Wahrsagerin gegangen?« Mit vorwurfsvoller Miene schaute er Johanna an. »Ich hätte gedacht, daß wenigstens du es besser weißt.«
Johanna nahm den Tadel widerspruchslos hin. Dennoch – ein Teil von ihr wollte an Balthilds wahrsagerische Kräfte glauben. Hatte die alte Frau nicht gesagt, sie würde Johannas geheimsten Wunsch kennen? Falls Balthild in diesem Fall recht hatte, dann würde sie, Johanna, zu Macht und Größe gelangen – ungeachtet der Tatsache, daß sie ein Mädchen war, und ganz egal, wie andere Leute über diese Weissagung denken mochten.
Doch wenn Balthild recht hatte, was Johannas Zukunft betraf, |177|dann hatte sie auch recht, was Gislas zukünftiges Schicksal anging.
Als sie am nächsten Tag noch einmal zu der Hütte gingen, war sie leer. Und niemand konnte sagen, wohin die alte Frau gegangen war.
Im Winnemanoth wurde Gisla mit dem Grafen Hugo verheiratet. Es gab jedoch einige Schwierigkeiten, einen passenden Tag zu finden, der den sofortigen Vollzug der Ehe erlaubte. Die Kirche untersagte alle ehelichen Beziehungen an jedem Mittwoch, Freitag und Sonntag – wie auch während der letzten vierzig Tage vor Ostern, während der ersten acht Tage nach Pfingsten, während der letzten fünf Tage vor jeder heiligen Kommunion sowie an den Tagen vor allen großen Kirchenfesten und an den Bittagen. Somit war Geschlechtsverkehr an insgesamt etwa zweihundertundzwanzig Tagen des Jahres untersagt. Berücksichtigte man dies – und nahm dann noch die Zeitspanne hinzu, die wegen Gislas Monatsblutung wegfiel –, blieben nicht mehr allzu viele Tage übrig, die eine Eheschließung mit unmittelbar darauffolgender Hochzeitsnacht erlaubten. Doch schließlich einigte man sich auf den 24. Tag des Monats; ein Datum, das allen Beteiligten zupaß kam – bis auf Gisla, die es gar nicht erwarten konnte, bis die Feiern begannen.
Dann, endlich, war der große Tag gekommen. Die gesamte Dienerschaft stand noch vor Tagesanbruch auf, um sich um Gisla zu kümmern und sie für die Hochzeit fertigzumachen. Zuerst half man ihr in ihre langärmelige gelbe Untertunika aus Leinen. Darüber zog sie das Kleid an, das aus dem gold- und silberdurchwirkten, bunten Stoff geschneidert war, den sie auf dem Jahrmarkt in St. Denis gekauft hatte. Das Kleid fiel in anmutigem Faltenwurf von den Schultern bis auf den Boden. Dann wurde ihr ein schwerer Gürtel um die Hüfte geschlungen, der mit ›Glückssteinen‹ besetzt war: Achaten, um das Fieber abzuwehren; Kreide zum Schutz gegen den bösen Blick; Blutjaspis zur Förderung der Fruchtbarkeit und Jaspis, um eine leichte und sichere Kindsgeburt zu bewirken. Zum Schluß befestigten die Dienerinnen einen zarten, wunderschön gearbeiteten Schleier aus Seide in Gislas Haar, der sich bis zum Boden bauschte, über ihre Schultern fiel und ihr rotbraunes Haar vollkommen verdeckte. Als Gisla schließlich in ihrem vollständigen |178|Hochzeitskleid dastand – und sich kaum bewegen oder gar hinsetzen konnte, aus Angst, die Pracht zu zerknittern –, sah sie in Johannas Augen wie ein exotisches Federvieh aus: ein seltsamer Truthahn vielleicht – gefüllt, dressiert und fertig zum Anschneiden.
Nicht mit mir, schwor Johanna sich. Sie wollte niemals heiraten, wenngleich sie in sechs Monaten vierzehn Jahre alt wurde – ein mehr als heiratsfähiges Alter. In drei Jahren würde sie bereits als alte Jungfer gelten. Doch in Johannas Augen war es unverständlich, ja, unglaublich, daß Mädchen in ihrem Alter so versessen aufs Heiraten waren; denn mit der Ehe ging eine Frau eine unauflösliche Bindung ein, die sie von einem Tag auf den anderen praktisch zur Leibeigenen machte. Ein Ehemann hatte die vollkommene Herrschaftsgewalt über seine Frau und ihre Kinder, ihren Besitz, ja, ihr Leben. Nachdem sie die Tyrannei ihres Vaters erduldet hatte, wollte Johanna nie wieder einem Mann eine solche Macht über sich in die Hand geben.
Gisla dagegen – dieses liebe, einfältige Geschöpf, das sie nun einmal war – ging mit leidenschaftlicher Begeisterung in die Ehe. Immer wieder errötete sie, lächelte sie, kicherte sie. Graf Hugo, prächtig anzuschauen in seiner Tunika und dem hermelinverbrämten Umhang, wartete am heiligen Portal des Domes auf Gisla. Sie nahm seine dargebotene Hand und stand dann stolz neben ihrem Zukünftigen, während Wido, der Haushofmeister von Villaris, öffentlich verkündete, wieviel Landbesitz und wie viele Diener, Tiere und sonstigen Güter Gisla als Mitgift in die Ehe einbrachte. Dann zog die Hochzeitsgesellschaft in den Dom, wo Fulgentius vor dem Altar wartete, um die feierliche Hochzeitsmesse zu lesen.
Was Gott verbunden hat, soll der Mensch nicht lösen: »Quod Deus conjunxit homo non separet.« Die lateinischen Worte kamen reichlich holperig über Fulgentius’ Lippen, denn bevor er – schon recht spät im Leben – Amt und Würden eines Bischofs geerbt hatte, war er Soldat gewesen. Mit dem Studium der Heiligen Schrift und des Latein hatte er reichlich spät und ziemlich nachlässig begonnen, so daß ihm der richtige Gebrauch der lateinischen Sprache wohl für immer verschlossen bleiben würde.
»In nomine Patria et Filia …« Johanna zuckte zusammen, als Fulgentius diesen Segen sprach; denn er hatte die Deklinationen |179|durcheinandergewürfelt. Statt »im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes« hatte Fulgentius »im Namen des Vaterlandes und der Tochter …« gesagt.
Als Fulgentius mit diesem Teil der Messe fertig war, wandte er sich mit offensichtlicher Erleichterung vom Latein ab und dem Theodisk zu.
»Möge diese Frau«, sagte er, »so lieblich sein wie Rachel, so gläubig wie Sarah und so fruchtbar wie Leah.« Sanft legte er Gisla die Hand auf den Kopf. »Möge sie viele Söhne hervorbringen und dem Hause ihres Gatten Ehre machen.«
Johanna sah, wie Gislas Schultern zuckten, und sie wußte, daß die Freundin ein Kichern unterdrückte.
»Möge sie das Verhalten eines Hundes annehmen, der sein Herz und sein Auge stets bei seinem Herrn hat; und selbst wenn sein Herr ihn schlägt oder mit Steinen nach ihm wirft, folgt der Hund ihm nach und wackelt freudig mit dem Schwanze.« Das kam Johanna ein bißchen stark vor, doch Fulgentius betrachtete Gisla mit einem gütigen, ja, liebevollen Ausdruck; er hatte offenbar nicht die Absicht gehabt, Gisla zu beleidigen. »Und wenn schon der Hund«, fuhr Fulgentius fort, »so sollte erst recht ein Weib, und dies aus besseren und triftigeren Gründen, dem Ehemann seine tiefste, makelloseste und unverbrüchlichste Liebe und Treue entgegenbringen.«
Er wandte sich Graf Hugo zu. »Möge dieser Mann so tapfer sein wie David, so klug wie Salomo, und so stark wie Samson. Mögen seine Ländereien in gleichem Maße wachsen wie sein Vermögen und die Schar seiner Söhne. Möge er seiner Frau ein gerechter Herr sein und ihr nie eine härtere Strafe zukommen lassen, als ihr zusteht. Möge er noch erleben dürfen, wie seine Söhne seinem Namen Ehre machen.«
Nach diesen bewegenden Worten des Bischofs tauschte das Brautpaar die Eheversprechen. Zuerst sprach Graf Hugo die Worte; dann streifte er Gisla einen Ring aus byzantinischem Türkis über den Ringfinger, durch den bekanntlich jene Ader verläuft, die zum Herzen führt.
Dann war Gisla an der Reihe. Inmitten der anderen Gäste im Dom stand Johanna und hörte zu, wie Gisla ihr Eheversprechen gab. Ihre Stimme war hoch und klar und glücklich; keine Schatten fielen auf ihre reine Seele, und ihre Zukunft war gesichert.
Was hält die Zukunft für mich bereit? fragte sich Johanna.
|180|Sie konnte nicht ewig an der scola studieren – höchstens noch weitere drei Jahre. Johanna gab sich ihrem liebsten Tagtraum hin und stellte sich vor, wie sie als Lehrerin an einer der großen, bedeutenden Domschulen unterrichtete – in Reims, zum Beispiel, oder gar an der scola palatina –, und wie sie ihre Zeit damit verbrachte, das Wissen aller Zeitalter zu erkunden, gemeinsam mit Menschen, die einen ebenso wißbegierigen, von Forscherdrang getriebenen Geist besaßen wie sie selbst. Der Tagtraum war unfaßbar schön – wie jedesmal.
Aber das würde bedeuten, daß du Villaris verlassen mußt – und damit Gerold, ging es ihr durch den Kopf, und wie jedesmal schmerzte dieser Gedanke sie zutiefst.
Daß sie eines Tages von Villaris fort mußte, war Johanna klar. Doch im Laufe der letzten Monate hatte sie diesen Gedanken beiseite geschoben und war es zufrieden gewesen, in der Gegenwart zu leben und die Freude und das Glück zu genießen, jeden Tag mit Gerold zusammenzusein.
Johanna schaute zu ihm hinüber, ließ den Blick auf ihm ruhen. Sein Profil war fest und dennoch fein geschnitten, seine Gestalt hochgewachsen und gerade, und sein rotes Haar fiel ihm dicht und gelockt bis auf die Schultern.
Er ist der schönste Mann, den ich je gesehen habe, dachte Johanna – nicht zum erstenmal.
Als hätte er ihre Gedanken gelesen, drehte Gerold sich zu ihr um. Ihre Blicke trafen sich. Irgend etwas in seiner Miene – ein flüchtiger Ausdruck von Zärtlichkeit und Weichheit – durchrieselte Johanna bis in ihr Innerstes. Dann, binnen eines Augenblicks, war der Ausdruck verschwunden, noch bevor Johanna sich dessen bewußt geworden war; doch immer noch lag die Wärme auf Gerolds Gesicht.
Ich mache mir unnötige Sorgen, sagte sich Johanna. Jetzt braucht ja noch gar nichts entschieden zu werden.
Drei Jahre waren eine lange Zeit.
In drei Jahren konnte sehr viel geschehen.
Als Johanna in der nächsten Woche von der Domschule nach Hause kam, sah sie Gerold im Säulengang stehen und auf sie warten.
»Komm mit.« Sein Tonfall ließ erkennen, daß er eine Überraschung auf Lager hatte. Er winkte ihr und setzte sich in Richtung des äußeren Tores in Bewegung. Durch die Umzäunung der Burganlage gelangten sie in ein Waldstück auf dem Hügelhang |181|und erreichten einige Zeit später eine Lichtung am Fuß des Hügels, in deren Mitte sich eine kleine Hütte befand, die in der Art eines Grubenhauses erbaut war. Das Gebäude war nicht mehr bewohnt und dermaßen verfallen, daß man es nicht mehr herrichten konnte. Doch einst mußte es das behagliche Heim eines Freien gewesen sein; denn die Wände aus lehmverkleidetem Flechtwerk waren dick und fest, und die Tür war aus massiver Eiche. Das Bauwerk erinnerte Johanna an das Haus ihrer Eltern in Ingelheim, wenngleich dieses Grubenhaus hier viel kleiner war, und sein Strohdach war verrottet und wies Löcher auf.
Johanna und Gerold machten vor der Eingangstür des kleinen Bauwerks halt. »Warte hier«, sagte Gerold. Johanna beobachtete neugierig, wie er das Gebäude einmal umrundete und dann wieder neben ihr stehenblieb.
»Und nun siehe und staune«, sagte er mit gespieltem Ernst, hob die Arme über den Kopf und klatschte dreimal laut in die Hände.
Nichts geschah. Johanna schaute Gerold fragend an. Der große Mann blickte erwartungsvoll auf die Hütte. Offensichtlich sollte irgend etwas passieren. Aber was?
Mit einem lauten, knarrenden Geräusch schwang die schwere Eichentür auf – zuerst ganz langsam, dann immer schneller. Doch hinter der Tür war nur finstere Leere zu sehen. Johanna strengte die Augen an. Nein, es war niemand darin. Die Tür hatte sich von selbst bewegt!
Fassungslos starrte Johanna auf die Eichentür. Ein Dutzend Fragen schossen ihr durch den Kopf, doch die naheliegendste drängte sich in den Vordergrund.
»Wie …?« fragte sie.
In gespielter Andächtigkeit blickte Gerold zum Himmel. »Ein Wunder.«
Johanna schnaubte.
Gerold kicherte. »Na gut. Dann eben Hexerei.« Er blickte sie herausfordernd an; offensichtlich machte die Sache ihm Spaß.
Johanna nahm die Herausforderung an. Sie marschierte zur Tür und betrachtete sie eingehend. »Kannst du sie wieder zumachen?«
Erneut hob Gerold die Arme und klatschte dreimal in die Hände; nach einer Pause quietschte und ächzte die Tür und |182|begann sich wieder zu bewegen; diesmal schwang sie an den Angeln langsam nach innen. Johanna ging hinter dem Türblatt her, während es sich bewegte, und nahm es genauestens in Augenschein. Die schweren Eichenbretter waren glatt und fest zusammengefügt; an der Tür war nichts Ungewöhnliches zu sehen; ebensowenig an dem schlichten Handgriff aus Holz. Johanna inspizierte die Türangeln. Es waren vollkommen normale Angeln aus Eisen. Es war zum Haareraufen! Ihr wollte beim besten Willen keine Erklärung einfallen, weshalb die Tür sich bewegt hatte.
Nun war die Tür wieder fest verschlossen. Es war ein Rätsel.
»Nun?« Gerolds tiefblaue Augen strahlten vor Erheiterung.
Johanna zögerte. Sie wollte das Spiel Gerolds wegen nicht beenden. Doch was sollte sie anderes tun?
Gerade als sie ihre Niederlage eingestehen wollte, hörte sie einen leisen, beständigen, andauernden Laut, der von irgendwo über ihr kam. Zuerst konnte sie das Geräusch nicht einordnen; es war zwar vertraut, aber seltsam fehl am Platze.
Dann erkannte sie es. Wasser. Es war das Geräusch von tröpfelndem Wasser.
»Die hydraulische Vorrichtung!« stieß Johanna aufgeregt hervor. »Die auf der alten Handschrift vom Jahrmarkt in Saint Denis! Du hast diese Apparatur nachgebaut!«
Gerold lachte. »Ich habe sie umgebaut, genauer gesagt. Denn die Vorrichtung sollte zum Pumpen von Wasser dienen, nicht dazu, Türen zu öffnen und zu schließen.«
»Wie funktioniert sie?«
Gerold zeigte ihr den Mechanismus, der sich gleich unter dem verfallenen Dach des Hauses befand, gut zehn Fuß von der Tür entfernt. Deshalb war die Vorrichtung nicht zu sehen gewesen. Dann demonstrierte er Johanna das komplizierte System aus Hebeln und Rollen, Flaschenzügen und Gegengewichten, das an der Innenseite der Tür an zwei eisernen Stangen befestigt war – auf eine so geschickte Art und Weise, daß es kaum zu sehen war. Gerold hatte die Vorrichtung in Betrieb gesetzt, als er um die Hütte herumgegangen war und dabei an einem Seil gezogen hatte.
»Erstaunlich!« sagte Johanna, nachdem Gerold es ihr erklärt hatte. »Zeig es mir bitte noch mal.« Nun, da sie verstand, wie die Vorrichtung funktionierte, wollte Johanna sie noch einmal in Betrieb sehen.
|183|»Das geht nicht«, sagte Gerold. »Da müßte ich zuvor neues Wasser herbeischaffen.«
»Dann laß es uns holen«, erwiderte Johanna. »Wo stehen die Eimer?«
Gerold lachte. »Du bist unverbesserlich!« Er zog sie an sich und umarmte sie liebevoll. Seine Brust war fest und breit, seine Arme stark. Johanna hatte das Gefühl, ihr Innerstes würde vor Wonne zerfließen.
Abrupt ließ er sie los. »Also gut, dann komm«, sagte er heiser. »Die Eimer stehen da drüben.«
Sie gingen mit den leeren Eimern zu einem kleinen Fluß, der eine Viertelmeile entfernt war, füllten sie, schleppten sie zurück zur Hütte und leerten sie in einen Behälter; dann gingen sie wieder zum Fluß, um noch mehr Wasser zu holen. Dreimal unternahmen sie diesen Fußmarsch. Beim drittenmal war beiden ein bißchen schwindelig. Die Sonne schien warm; die Luft war voller Frühlingsversprechen, und die beiden waren wie verzaubert – voller gespannter Erwartung, was ihr Vorhaben betraf und voller Glück, in Gesellschaft des anderen zu sein.
»Gerold!« rief Johanna, die bis zu den Knien im kalten Wasser des Flusses stand. »Sieh doch!« Als er sich zu ihr umdrehte, schwang sie übermütig den Eimer, bespritzte Gerold und durchnäßte die Vorderseite seiner Tunika.
»Du kleine Hexe!« rief er grollend.
Er füllte seinen Eimer randvoll und übergoß Johanna, was sie ihm prompt heimzahlte und er wiederum ihr. So standen sie eine Zeitlang im Fluß, umgeben von funkelnder Gischt und benommen von Glück und Übermut. Dann wurde Johanna von einem Schwall Wasser aus Gerolds Eimer getroffen, als sie sich gerade niederbeugte, um den ihren zu füllen. Aus dem Gleichgewicht gebracht, rutschte sie aus und stürzte. Das kalte Wasser des Flusses schlug über ihr zusammen, umströmte sie, und für einen winzigen Augenblick wurde sie von Entsetzen gepackt; denn sie konnte auf dem schlüpfrigen, steinigen Flußbett mit den Füßen keinen Halt finden.
Dann spürte sie Gerolds Arme um ihren Körper, spürte, wie sie hochgehoben und auf die Füße gestellt wurde.
»Ich habe dich, Johanna. Ich habe dich schon.« Seine Stimme, ganz dicht an ihrem Ohr, war sanft und beruhigend. Johanna spürte, wie ihr ganzer Körper im Takt und Tonfall dieser |184|Stimme mitschwang. Sie umarmte Gerold ganz fest. Die nasse Kleidung der beiden klebte aneinander und verschmolz ihre Leiber in scheinbar eindeutiger Intimität.
»Ich liebe dich«, sagte sie schlicht. »Ich liebe dich.«
»Oh, mein wunderbares, liebstes Mädchen«, murmelte Gerold, und dann lagen seine Lippen auf den ihren, und sie erwiderte den Kuß, und ihrer beider Leidenschaft wurde von Gefühlen entfacht und geschürt, die lange zurückgehalten worden waren und sich nun gewaltsam Bahn brachen.
Die Luft schien in Johannas Ohren zu summen. Gerold, dachte sie. Gerold.
Keiner der beiden bemerkte, daß jemand sie aus einem kleinen Wäldchen dicht unterhalb der Hügelkuppe beobachtete.
Odo war unterwegs nach Heristal gewesen, um seinen Onkel zu besuchen, einen der frommen Brüder in der dortigen Abtei, als sein Maultier durch Zufall von der Straße abkam, da es einem langgezogenen, natürlichen Beet aus besonders saftigen Kräutern und Klee folgte, die auf einer Seite der Straße wuchsen und in ein kleines Waldstück führten. Odo fluchte auf das Tier, zerrte an den Zügeln und schlug es mit der Weidengerte; doch das Maultier war störrisch und ließ sich nicht umstimmen. Odo hatte keine andere Wahl, als die Straße zu verlassen und sich dem Willen des Tieres zu beugen. Seufzend hob er den Blick, schaute den Hügelhang hinunter und sah es.
Eine gelehrte Frau ist niemals keusch. Worte des heiligen Paulus. Oder des heiligen Geronimus? Es spielte keine Rolle. Jedenfalls hatte Odo stets an die Richtigkeit dieser Behauptung geglaubt, und nun sah er den Beweis mit eigenen Augen …
Odo tätschelte dem Maultier den Hals. Heute abend bekommst du eine Extraportion Futter, versprach er dem Tier in Gedanken, überdachte diesen Entschluß dann aber und änderte ihn rasch wieder. Futter war teuer; außerdem hatte das Tier ohnehin nur als Werkzeug Gottes gedient.
Odo eilte zurück zur Straße, von der sein Maultier abgebogen war. Sein eigentlicher Auftrag mußte nun warten. Zuerst einmal mußte er nach Villaris, das sich nur ein kurzes Stück die Straße hinauf befand.
Bald darauf ragten die Dächer und Türme der Burganlage vor Odo auf. Er kam durch das Tor in der Umzäunung und |185|wurde von einem Wachtposten begrüßt. Hastig erwiderte Odo den Gruß. »Bringt mich zur Gräfin Richild«, sagte er. »Ich muß sie sofort sprechen.«
Gerold löste Johannas Arme, die seinen Hals umschlungen hielten, und trat zurück. »Komm«, sagte er, und seine Stimme schwankte vor Gefühlen. »Wir müssen zurück.«
Schwindelig vor Liebe und Glück, trat Johanna auf ihn zu, um ihn noch einmal zu umarmen.
»Nein.« Diesmal war Gerolds Stimme fest. »Ich muß dich jetzt nach Hause bringen …«, er lächelte wehmütig, »solange ich noch den Willen dazu aufbringen kann.«
Johanna blickte ihn benommen an. »Du … willst mich nicht?« Sie senkte den Kopf, bevor er antworten konnte.
Sanft umfaßte Gerold ihr Kinn und zwang sie, ihm in die Augen zu schauen. »Ich will dich mehr, als ich je eine Frau gewollt habe.«
»Dann verstehe ich nicht, weshalb …«
»Gütiger Himmel, Johanna. Ich bin ein Mann mit allen Begierden eines Mannes. Du solltest mich nicht reizen und es uns beiden nur unnötig schwermachen.« Seine Stimme hörte sich beinahe zornig an. Als er die Tränen in ihren Augen glitzern sah, wurde sein Tonfall sanfter. »Was möchtest du denn, Johanna? Daß ich dich zu meiner Geliebten mache? Ich würde dich hier und jetzt lieben, wenn ich wüßte, daß es dich glücklich macht … und daß es dir Glück bringt. Aber es würde deinen Untergang heraufbeschwören. Siehst du das denn nicht?«
Der Blick aus Gerolds tiefblauen Augen hielt den ihren gefangen. Er war so gutaussehend, daß es Johanna den Atem raubte. Sie wollte nur eins: daß er sie wieder in die Arme nahm.
Gerold streichelte ihr weißgoldenes Haar. Johanna setzte zum Sprechen an, doch ihre Stimme brach. Ihr war beinahe übel vor Scham und Enttäuschung, und sie holte tief Luft und versuchte, ihr aufgewühltes Inneres zu beruhigen.
»Komm.« Gerold nahm zärtlich ihre Hand, und sie erhob keinen Widerspruch, als er sie vom Flußufer fort und den Hügelhang hinauf bis auf die Straße führte. Schweigend, Hand in Hand, gingen sie das trostlose Wegstück bis nach Villaris.