|415|24.

Der römische Sommer kam mit aller Macht. Die Sonne brannte erbarmungslos vom Himmel; gegen Mittag waren die Pflastersteine auf den Straßen so heiß, daß sie einem die Füße verbrannten. Der Gestank von verrottendem Müll und verfaulenden Exkrementen, der durch die Hitze verstärkt wurde, stieg in die unbewegte Luft und lag als erstickende Dunstglocke über der Stadt. Seuchen und Fieberepidemien wüteten unter den Armen, die in den klammen, verfallenden Häusern wohnten, die sich am Ufer des Tiber reihten.

Aus Angst vor Ansteckung hatte Lothar mit seinem Heer die Stadt verlassen. Die Römer jubelten über diesen Abzug, denn die Verköstigung einer so gewaltigen Armee hatte die Kräfte wie auch die Vorräte der Stadt nahezu erschöpft.

Sergius wurde als Held gefeiert. Die Bewunderung der Menschen half ihm, mit der Trauer über Benedikts Tod fertig zu werden. Die wiedergewonnene Gesundheit und Energie, die er zum größten Teil der spartanischen Diät verdankte, die Johanna ihm verordnet hatte, gaben ihm neuen Auftrieb, ja, sie machten einen anderen Menschen aus ihm. Wie er es versprochen hatte, ließ er den Wiederaufbau des Orphanotrophiums in Angriff nehmen. Die verfallenden Wände wurden verstärkt und ein neues Dach errichtet. Vom heidnischen Tempel der Minerva wurden die Ziegel, die aus feinstem Travertinmarmor bestanden, abgerissen und als Fußbodenfliesen für die Große Halle des Patriarchums benutzt. Eine neue Kapelle wurde gebaut und dem heiligen Stephan geweiht.

War Sergius früher oft zu müde oder zu krank gewesen, um die heilige Messe zu lesen, so feierte er nun jeden Morgen den Gottesdienst. Überdies sah man ihn oft in seiner Privatkapelle beim Gebet. Wieder von tiefem christlichem Glauben beseelt, stürzte er sich mit der gleichen Begeisterung in seine Arbeit, |416|mit der er einst die Freuden der Tafel genossen hatte. Im Guten wie im Schlechten war Sergius kein Mann, der halbe Sachen machte.

Zwei aufeinanderfolgende Jahre mit milden Wintern und reichen Ernten hatten eine Zeit des allgemeinen Wohlstands zur Folge. Selbst die Heerscharen der Armen, die die Straßen der Stadt bevölkerten, sahen nicht mehr ganz so erbarmungswürdig aus: Das Geld saß lockerer in den Taschen der wohlhabenden Mitmenschen, und die Almosen strömten reichlicher. Vor den Altären ihrer Kirchen sprachen die Römer Dankgebete, daß sich das Schicksal ihrer Stadt und ihres Heiligen Vaters zum Guten gewendet hatte.

Die Menschen ahnten nichts von der Katastrophe, die über sie hereinbrechen würde. Wie sollten sie auch?

 

Bei einem der regelmäßigen Treffen Sergius’ mit den römischen Prinzen war Johanna zugegen, als plötzlich ein Bote unangekündigt in den Versammlungssaal stürmte.

»Was soll das?« erkundigte Sergius sich streng.

»Heiligkeit«, der Bote ließ sich in respektvoller Huldigung auf die Knie fallen. »Ich bringe aus Siena eine Nachricht von größter Wichtigkeit. In Afrika hat eine riesige Flotte sarazenischer Schiffe Segel gesetzt, und sie haben direkten Kurs auf Rom genommen.«

»Auf Rom?« fragte einer der Prinzen ungläubig. »Das kann nicht sein. Die Meldung ist gewiß ein Irrtum.«

»Es ist kein Irrtum«, entgegnete der Bote. »Die Sarazenen werden binnen zweier Wochen hier sein.«

Für einen Moment herrschte Schweigen, als die Versammelten diese erschreckende Nachricht in sich aufnahmen.

Schließlich meldete sich ein anderer Prinz zu Wort. »In diesem Fall wäre es gewiß anzuraten, die heiligen Relikte an einen sicheren Ort zu bringen«, sagte er und bezog sich damit auf die Überreste des Apostels Petrus, die heiligsten Relikte der Christenheit, die im Petersdom lagen, der sich jedoch vor den schützenden Stadtmauern befand.

Romuald, der ranghöchste der anwesenden Prinzen, warf den Kopf in den Nacken und lachte. »Ihr glaubt doch nicht im Ernst, diese Ungläubigen würden den Petersdom angreifen?«

»Was sollte sie davon abhalten?« fragte Johanna.

|417|»Sie mögen Barbaren sein, aber sie sind keine Dummköpfe«, erwiderte Romuald. »Sie wissen, daß die Hand Gottes sie in dem Augenblick zerschmettern würde, da sie versuchen, in das Heilige Grabmal einzudringen!«

»Sie haben ihren eigenen Glauben«, erklärte Johanna, »und fürchten die Hand des christlichen Gottes nicht.«

Romualds Lächeln erstarb. »Was soll diese heidnische Blasphemie?«

Johanna ließ sich nicht beirren. »Die Peterskirche bietet sich als Ziel für Plünderungen an, und sei es nur der Schätze wegen, die sich darin befinden. Aus Gründen der Sicherheit sollten wir diese Gegenstände sowie den Sarkophag des heiligen Petrus ins Innere der Stadtmauern bringen.«

Sergius blickte sie zweifelnd an. »Wir haben schon des öfteren solche Warnungen erhalten, und keine hat sich als begründet erwiesen.«

»In der Tat«, sagte Romuald spöttisch. »Würden wir die Reliquien beim Anblick eines jeden sarazenischen Schiffes in die Stadt bringen lassen, um sie wieder zum Petersdom zurückzuschaffen, sobald das Schiff fort ist, hätten wir nichts anderes mehr zu tun, als die heiligen Gebeine hin und her zu transportieren.«

Beifälliges Lachen erhob sich, wurde jedoch abrupt unterbrochen, als der Papst mit strenger Miene in die Runde blickte.

»Gott schützt die Seinen«, sagte Sergius. »Der heilige Apostel bleibt, wo er ist.«

»Dann laßt uns wenigstens Boten in die umliegenden Städte und Dörfer schicken, um Männer zur Verteidigung Roms zusammenzurufen«, drängte Johanna.

»Die Leute sind zur Zeit damit beschäftigt, die Reben zu beschneiden«, sagte Sergius. »Jeder gesunde Mann wird in den Weinbergen gebraucht. Da keine unmittelbare Gefahr besteht, sehe ich keinen Grund, die Ernte zu gefährden, von der unser aller Wohlstand abhängt.«

»Aber, Heiligkeit …«

Sergius schnitt ihr das Wort ab. »Vertraue auf Gott, Johannes Anglicus. Es gibt keine stärkere Rüstung als das Gebet und den christlichen Glauben.«

In respektvoller Unterwerfung senkte Johanna den Kopf. Doch in ihrem Innern dachte sie aufsässig: Wenn die Sarazenen erst vor den Toren Roms stehen, werden alle Gebete der Welt |418|nicht halb soviel helfen wie eine einzige Division waffenfähiger Männer.

 

Gerold und seine Leute hatten unmittelbar vor der Stadt Benevento ihr Lager aufgeschlagen. Er hatte den Männern als Lohn für ihren überwältigenden Sieg vom Vortag erlaubt, am Abend zu feiern und mehrere Fässer Wein zu leeren; nun schliefen sie tief und fest in ihren Zelten.

In den vergangenen zwei Jahren hatte Gerold die Armeen Prinz Siconulfs befehligt und dafür gekämpft, Siconulfs Thron gegen den ehrgeizigen Mitbewerber Racheldis zu sichern. Dieser war ein tüchtiger Feldherr, der seine Männer gründlich in Disziplin und Waffenkampf ausbilden ließ, um ihnen dann in der Schlacht großen eigenen Ermessensspielraum zu lassen. Dennoch hatte Gerold den gegnerischen Truppen Niederlage um Niederlage beigebracht. Der gestrige Sieg war so überwältigend gewesen, daß er den Ansprüchen Racheldis’ auf den Thron von Benevento vermutlich ein für allemal ein Ende gemacht hatte.

Wenngleich rings um das Lager bewaffnete Posten aufgestellt waren, schliefen Gerold und seine Männer neben ihren Schwertern und Schilden, so daß sie stets griffbereit waren. Gerold ging kein Risiko ein; denn selbst nach einer Niederlage konnte ein Feind noch gefährlich werden. Zu oft schon hatten blinde Wut und Rachsucht Männer zu überstürzten, verzweifelten Taten getrieben. Gerold kannte viele Fälle, in denen Lager wie dieses durch einen Überraschungsangriff eingenommen worden waren; die Männer wurden niedergemetzelt, noch bevor sie aus dem Schlaf erwachten.

In diesem Augenblick aber waren Gerolds Gedanken ganz woanders. Er lag auf dem Rücken, die verschränkten Hände hinter dem Kopf, die Beine lang ausgestreckt. Die Frau neben ihm, die sich mit seinem Umhang zugedeckt hatte, atmete in weinseligem Schlaf – ein rhythmisches Geräusch, das nur von gelegentlichen Schnarchern unterbrochen wurde.

Im Licht der anbrechenden Morgendämmerung bedauerte Gerold den kurzzeitigen Anflug von Leidenschaft, der ihn veranlaßt hatte, die Frau in sein Bett zu holen. In den zurückliegenden Jahren hatte es ähnliche flüchtige Erlebnisse mit anderen Frauen gegeben, doch sie waren von Mal zu Mal unbefriedigender und belangloser geworden. Denn immer noch |419|trug Gerold die Erinnerung an eine Liebe im Herzen, die nicht flüchtig, sondern unvergänglich war, die weder befriedigt, noch vergessen werden konnte – die Liebe zu einer Frau, bei der Geist und Körper zu perfekter Harmonie vereint waren.

Unwillig schüttelte er den Kopf. Es war sinnlos, in der Vergangenheit zu verweilen. Johanna hatte seine Gefühle nicht erwidert, sonst hätte sie ihn niemals gehen lassen.

Die Frau drehte sich auf die Seite. Gerold berührte sie an der Schulter, und sie erwachte und schlug die hübschen braunen Augen auf, die ihn ohne wahre Gefühle und ohne jedes stumme Wort der Zärtlichkeit betrachteten.

»Der Morgen bricht an«, sagte Gerold. Er holte ein paar Münzen aus seinem Ranzen und reichte sie der Frau.

Sie lächelte zufrieden. »Soll ich heute abend wiederkommen?«

»Nein, das wird nicht nötig sein.«

»Bist du nicht zufrieden mit mir?« fragte sie und schaute ihn enttäuscht an.

»Doch, doch, natürlich. Aber meine Männer und ich brechen heute abend das Lager ab.«

Für kurze Zeit beobachtete Gerold, wie die Frau über die Wiese ging; die Sohlen ihrer Sandalen klatschten gedämpft auf dem trockenen Gras. Der bewölkte Himmel hellte sich auf und wurde zu einem trüben, tristen Grau.

Bald brach ein weiterer Tag an.

 

Siconulf und seine wichtigsten fideles hatten sich bereits in der großen Halle versammelt, als Gerold hereinkam. Siconulf überraschte alle Anwesenden, als er auf die üblichen Höflichkeiten verzichtete und ohne Umschweife erklärte: »Ich habe soeben Nachricht aus Korsika bekommen. Dreiundsiebzig sarazenische Schiffe haben vor kurzem von der afrikanischen Küste abgelegt. Sie haben etwa fünftausend Mann und zweihundert Pferde an Bord.«

Erstauntes Schweigen senkte sich über die Versammlung. Eine so große Flotte konnte man sich ja kaum vorstellen!

Eburis, einer von Siconulfs Gefolgsleuten, stieß einen leisen Pfiff aus. »Was sie auch vorhaben mögen, es ist eine größere Sache als einer ihrer üblichen Raubzüge an unseren Küsten.«

»Sie haben Kurs auf Rom genommen«, sagte Siconulf.

|420|»Rom? Bestimmt nicht«, erwiderte ein anderer Gefolgsmann.

»Das ist absurd!»rief ein dritter. »Das würden sie niemals wagen!«

Gerold hörte den anderen kaum zu. Seine Gedanken rasten.

»Papst Sergius wird unsere Hilfe brauchen«, sagte er schließlich mit angespannter Stimme.

Doch er dachte dabei nicht an Sergius. Die Nachricht von der herannahenden Sarazenen-Flotte hatte allen Schmerz, alle Fehler, alle Mißverständnisse der letzten zwei Jahre auf einen Streich hinweggefegt. Für Gerold zählte jetzt nur noch eins – Johanna rechtzeitig zu erreichen und alles in seiner Macht Stehende zu tun, um sie zu schützen.

»Was schlagt Ihr vor, Gerold?« fragte Siconulf.

»Laßt mich unsere Truppen zu Roms Verteidigung führen, mein Prinz.«

Siconulf runzelte die Stirn. »Ich gehe davon aus, daß die heilige Stadt ihre eigenen Verteidiger hat.«

»Nur die familia Sancta Petri – eine kleine, undisziplinierte Truppe der päpstlichen Miliz. Diese Männer werden vor den Schwertern der Sarazenen fallen wie Sommerweizen vor der Sense des Schnitters.«

»Was ist mit der aurelianischen Mauer? Die Sarazenen können sie bestimmt nicht durchbrechen.«

»Die Mauer selbst dürfte stark genug sein«, räumte Gerold ein. »Aber einige der Tore sind nur schwach befestigt. Einem anhaltenden Angriff könnten sie nicht standhalten. Und das Grab des heiligen Petrus ist vollkommen ungeschützt; denn die Peterskirche liegt außerhalb der Stadtmauern.«

Siconulf dachte darüber nach. Es widerstrebte ihm, seine Truppen für eine andere Sache als die eigene in die Schlacht zu schicken. Doch er war ein frommer, christlicher Prinz, der dem Papst, der heiligen Stadt und ihren geheiligten Orten tiefe Ehrerbietung entgegenbrachte. Der bloße Gedanke, barbarische Ungläubige könnten das Grab des Apostels schänden, war ihm unerträglich. Außerdem wurde ihm klar, daß es ihm persönliche Vorteile einbringen konnte, wenn er Soldaten zu Roms Verteidigung schickte. Sobald alles vorüber war, konnte es gut sein, daß der dankbare Sergius ihn mit einem der reichen päpstlichen Kirchengüter belohnte, die an Siconulfs Hoheitsgebiet grenzten.

|421|»Ich unterstelle Euch drei Divisionen, die Ihr nach Rom führen könnt«, sagte er zu Gerold. »Wie lange braucht Ihr, bis die Männer abmarschbereit sind?«

»Die Truppen sind kampferprobt und erfahren. Wir könnten noch heute losmarschieren. Falls das Wetter hält, sind wir in zehn Tagen in Rom.«

»Laßt uns beten, daß es für Rom früh genug ist. Gott sei mit Euch, Gerold.«

 

In Rom breitete sich eine seltsame Ruhe aus. Seit der ersten Warnung aus Siena zwei Wochen zuvor hatte man kein Wort mehr über die sarazenische Flotte gehört. Allmählich fiel die Spannung von den Römern ab; ihre erhöhte Wachsamkeit ließ nach, und sie redeten sich ein, daß die Berichte über die feindliche Flotte doch nicht gestimmt hatten.

Der Morgen des 23. August war strahlend schön und versprach einen herrlichen Sommertag. Die Messe wurde in der Kathedrale Sancta Maria ad Martyres gelesen, die aus dem Pantheon entstanden war, dem einstigen heidnischen Tempel. Sie war eine der anmutigsten Kirchen Roms, und es war ein besonders feierlicher und schöner Gottesdienst; die Sonnenstrahlen fielen durch die runde Öffnung in der gewaltigen Kuppel der Kirche und zauberten einen goldenen Schimmer auf die Versammlung der Gläubigen. Als die Prozession nach der Messe zurück zum Patriarchum zog, sang der Chor voller Freude Gloria in Excelsis Deo.

Die Worte blieben den Sängern auf den Lippen kleben, als sie auf den sonnenüberfluteten Innenhof des Laterans gelangten und die Menschenmenge sahen, die sich ängstlich um einen erschöpften, schlammbespritzten berittenen Boten drängte.

»Die Flotte der Ungläubigen hat angelegt«, verkündete der Bote voller hilfloser Wut. »Die Stadt Portio ist gefallen; die Bewohner wurden niedergemetzelt, die Kirchen geschändet.«

»Gott steh uns bei!« rief jemand.

»Was soll aus uns werden?« jammerte ein anderer.

»Sie werden uns alle töten!« schrie ein dritter hysterisch. Für einen Augenblick bestand die Gefahr, daß die Menge in eine gefährliche Panik ausbrach.

»Ruhe!« Sergius’ befehlende Stimme übertönte wie Donnergrollen den Tumult. »Was für ein unwürdiges Schauspiel ihr bietet!«

|422|Die Menge verstummte; bleiche Gesichter wandten sich dem Papst zu.

»Seid ihr Schafe, daß ihr so blökt? Seid ihr wehrlose kleine Kinder, daß ihr so jammert? Nein! Ihr seid Römer! Und dies ist Rom, die heilige Stadt, Schutzgebiet des Sankt Peter, der die Schlüssel zum himmlischen Königreich in den Händen hält! ›Du bist Petrus‹, hat Jesus gesagt, ›und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen.‹ Was fürchtet ihr euch? Glaubt ihr, Gott läßt es zu, daß sein heiliger Altar geschändet wird?«

Mit einemmal kam Bewegung in die Menge. Vereinzelte Stimmen erhoben sich und antworteten: »Hört auf den Heiligen Vater! Sergius hat recht!«

»Haben wir nicht unsere päpstliche Garde und unsere Miliz?« Mit einer umfassenden Armbewegung zeigte Sergius auf die Soldaten der Garde; die Männer reagierten, indem sie Haltung annahmen, ihre Speere hoben und sie drohend schüttelten. »Das Blut unserer Ahnen strömt durch ihre Adern; sie besitzen die Kraft des allmächtigen Gottes! Wer sollte gegen sie bestehen?«

Die Menge stieß wilde Jubelschreie aus. Roms heroische Vergangenheit war noch immer eine Quelle des Stolzes, und die militärischen Triumphe des Cäsar, des Pompejus und des Augustus kannte jeder Bürger der Stadt.

Johanna betrachtete Sergius voller Staunen. War dieser heldenhafte Mann tatsächlich der kranke, schwächliche, entmutigte und übellaunige Greis, dem sie vor Jahren zum erstenmal begegnet war?

»Laßt die Ungläubigen nur kommen!« rief Sergius. »Laßt sie ihre Waffen gegen diese heilige Feste erheben! Ihr Mut wird an den Mauern unserer Stadt zerbrechen, die vom Allmächtigen selbst bewacht werden!«

Johanna spürte, wie sich eine Woge der Begeisterung erhob, um dann mit einem gischtenden Aufruhr von Emotionen über die Menge hinwegzutosen. Sie selbst war keine Römerin und stand mit beiden Beinen ohnehin zu fest auf der Erde, als daß auch sie von dieser Woge mitgerissen werden konnte, doch die Menge reckte die Fäuste empor; die Köpfe hoch erhoben, riefen die Menschen mit funkelnden Augen und donnernden Stimmen im Gleichtakt:»Sergius! Sergius! Sergius!«

 

|423|Auf Befehl des Papstes verbrachten die Bewohner Roms die nächsten beiden Tage mit Fasten und Beten. Die Altäre sämtlicher Kirchen erstrahlten in hellem Glanz, von einem Meer von Opferkerzen erleuchtet. Überall wurde von Wundern berichtet. Die goldene Statue in der Kapelle des heiligen Cosmas hatte angeblich die Augen bewegt und eine Litanei gesungen, und der Heiland am Kreuz über dem Altar der Kirche Sankt Hadrian hatte Tränen aus Blut vergossen. Diese und andere Wunder wurden als Zeichen des göttlichen Segens und der Gunst des Allmächtigen gedeutet. Tag und Nacht erklang das Hosianna aus Kirchen und Klöstern, als der Klerus der Stadt dem Aufruf des Papstes folgte und sich darauf vorbereitete, dem Feind mit der unbezwingbaren Kraft ihres christlichen Glaubens zu begegnen.

Am 26. August, kurz nach Anbruch der Dämmerung, hallte der Ruf von den Mauern. »Sie kommen! Sie kommen!«

Die entsetzten Schreie der Menschen drangen sogar durch die dicken steinernen Wände des Patriarchums.

»Ich muß hinaus auf die Brustwehr«, verkündete Sergius. »Wenn die Leute mich sehen, dann wissen sie, daß sie nichts zu befürchten haben.«

Arighis und die anderen optimates erhoben Widerspruch und erklärten, daß es viel zu gefährlich sei, doch Sergius blieb eisern entschlossen. Widerstrebend führten die anderen ihn zur Stadtmauer und suchten sorgsam eine Stelle aus, an der die Mauer ein Stück höher aufragte und besseren Schutz bot.

Die Menschen jubelten, als Sergius die Stufen hinaufstieg. Dann wandten aller Augen sich nach Westen. Eine gewaltige Staubwolke schimmerte in der Luft, aus der die Sarazenen in wildem Galopp zum Vorschein kamen; ihre weite Kleidung flatterte im Reitwind hinter ihnen wie die Flügel riesiger Raubvögel. Ein schrecklicher Kriegsschrei erhob sich – ein langes, schrilles Heulen, das die Luft erbeben ließ und allen, die es vernahmen, einen Entsetzensschauer über den Rücken jagte.

»Deo, iuva nos«, stieß einer der Priester mit zitternder Stimme hervor.

Sergius hob ein kleines, mit Edelsteinen besetztes Kruzifix in die Höhe und rief: »Christus ist unser Heiland und unser Schild!«

Die Stadttore wurden geöffnet, und die päpstliche Miliz marschierte tapfer hinaus, um dem Feind entgegenzutreten. |424|»Tod den Ungläubigen!« brüllten die Männer und reckten ihre Schwerter und Speere empor.

Die feindlichen Heere trafen mit einem ohrenbetäubenden Geräusch von klirrendem Stahl aufeinander, lauter als der Lärm aus tausend Schmiedewerkstätten. Binnen weniger Minuten wurde deutlich, daß die Kräfte in der Schlacht hoffnungslos ungleich verteilt waren. Die sarazenische Kavallerie ritt rücksichtslos über die vorderen Linien der römischen Fußsoldaten hinweg, und die Angreifer hieben und stachen mit ihren Krummsäbeln auf die Gegner ein.

Die römischen Milizionäre in den hinteren Reihen des Heeres sahen nichts von dem Gemetzel, das sich vorn abspielte. Noch immer siegessicher drängten sie sich gegenseitig voran, voller Kampfeslust und Ungeduld. Reihe um Reihe der römischen Miliz wurde nach vorn getrieben und fiel unter den Schwertern der Sarazenen. Bald türmten sich die Leichen der gefallenen Römer und bildeten eine tückische Stolperfalle für die Nachrückenden.

Es war ein Massaker. Geschlagen und von Entsetzen gepackt, wich die Miliz bald darauf in wirrer Unordnung zurück. »Lauft!« riefen die Soldaten, als ihr zersprengtes Heer über das Feld getrieben wurde wie Spreu im Wind. »Lauft um euer Leben!«

Die Sarazenen machten sich gar nicht erst die Mühe, den Feind zu verfolgen, denn ihr Sieg hatte ihnen einen viel kostbareren Preis eingebracht: die ungeschützte Peterskirche. Wie ein dunkler Schwarm schlossen sie einen Ring um das Gotteshaus. Sie stiegen nicht aus den Sätteln, sondern trieben ihre Pferde geradewegs die Stufen der Treppe hinauf und fuhren wie ein Keil durch die Türen ins Innere des Domes.

Atemlos beobachteten die Römer von den Mauern aus das Geschehen. Eine Minute verging. Dann noch eine. Kein Donnerschlag ließ die Erde erbeben, kein Meer aus Flammen ergoß sich vom Himmel. Statt dessen drangen die unverkennbaren Geräusche von splitterndem Holz und dröhnendem Metall aus dem Innern des Domes. Die Sarazenen plünderten den Altar.

»Das kann nicht sein«, flüsterte Sergius. »Das kann nicht sein.«

Eine Gruppe Sarazenen kam aus dem Dom zum Vorschein. Sie reckten das goldene Kreuz des Konstantin in die Höhe. |425|Menschen hatten ihr Leben gelassen, hieß es, nur um dieses Kreuz berühren zu dürfen. Doch nun warfen die Sarazenen es sich übermütig einander zu und lachten, als sie es in einer obszönen, abscheulichen Parodie zwischen ihren Beinen auf und ab bewegten.

Mit dumpfem Stöhnen sank Sergius auf die Knie und ließ das kleine Kruzifix fallen.

»Heiligkeit!« Johanna eilte zu ihm.

Er verzog vor Schmerz das Gesicht und drückte sich eine Hand auf die Brust.

»Bringt ihn von hier fort«, befahl Johanna. Arighis und mehrere Wächter kamen herbei und hoben Sergius auf, hielten ihn in den Armen wie ein Kind und trugen ihn die Mauer hinunter ins nächste Haus, wo sie ihn auf ein Lager aus dickem Stroh betteten.

Sergius atmete schwer und unregelmäßig. Johanna gab ihm ein Mittel, das ihm zu helfen schien, denn in sein blasses Gesicht kehrte ein wenig Farbe zurück, und sein Atem ging leichter.

»Sie sind an den Toren!« schrien draußen Stimmen. »Herrgott, hilf uns! Sie sind an den Toren!«

Sergius versuchte, sich vom Lager zu erheben.

Johanna drückte ihn sanft zurück. »Ihr dürft Euch nicht bewegen.«

Seine Bemühungen hatten Sergius Kraft gekostet; fest preßte er die Lippen zusammen. »Sprich du an meiner Stelle«, bat er. »Wende ihre Herzen und Gedanken dem Herrgott zu … hilf ihnen … bereite sie darauf vor, daß …« Sein Mund bewegte sich qualvoll, doch er brachte keinen Laut mehr hervor.

»Ja, ja«, versprach Johanna, denn es war offensichtlich, daß Sergius nur durch eine Zustimmung zu beruhigen war. »Ich werde tun, was Ihr sagt. Aber jetzt müßt Ihr ruhen.«

Er nickte und legte sich zurück. Seine Lider flatterten und schlossen sich, als Johannas Mittel seine Wirkung entfaltete. Sie konnte jetzt nichts mehr für ihn tun; sie mußte auf die heilsame Wirkung des Schlafs und ihrer Arznei hoffen.

Johanna ließ Sergius bei dem besorgten Arighis zurück und trat hinaus auf die Straße.

Ein berstendes Geräusch, laut wie ein Donnerschlag, ertönte ganz in der Nähe und ließ Johanna vor Angst zusammenzucken.

|426|»Was ist geschehen?« fragte sie einen Trupp Gardesoldaten, der ins Stadtinnere flüchtete.

»Diese heidnischen Hunde beschießen das Tor!« rief einer der Männer ihr über die Schulter zu.

Johanna kehrte zum Platz zurück. Todesfurcht hatte die Menge in Panik versetzt. Männer schlugen sich klagend an die Brust oder rauften sich das Haar; Frauen kreischten hysterisch und rissen sich mit den Fingernägeln die Wangen auf, bis das Blut strömte. Die Mönche des Klosters San Giovanni knieten in einer dichten Gruppe beieinander; die schwarzen Kapuzen waren ihnen von den Köpfen gerutscht, und sie hatten die Arme gen Himmel erhoben. Einige von ihnen rissen sich die Kutten vom Leib und fügten sich mit großen Holzsplittern tiefe Wunden zu; es war der verzweifelte Versuch, den offenkundigen Zorn Gottes zu besänftigen. Von diesem erschreckenden Anblick verängstigt, fingen Kinder zu weinen und zu schreien an; ihre schrillen Stimmen erhoben sich über den gespenstischen Chor aus Klagen, Beten und Stöhnen.

Hilf ihnen, hatte Sergius Johanna gebeten. Bereite sie vor.

Aber wie?

Johanna stieg die Stufen der Mauer hinauf. Sie nahm das kleine Kruzifix, das Sergius hatte fallen lassen, und reckte es hoch empor. Das Sonnenlicht wurde von den Edelsteinen gebrochen, und das Kreuz funkelte in einem goldenen Regenbogen.

»Hosanna in excelsis«, begann Johanna mit lauter Stimme, und die Worte des heiligen Lobgesanges klangen über die Menge hinweg, stark und fest und überzeugt. Diejenigen, die der Mauer am nächsten standen, wandten die tränenüberströmten Gesichter dem vertrauten Klang zu. Priester und Mönche knieten sich auf das Kopfsteinpflaster, zwischen Steinmetzen und Näherinnen und Kaufleute; sie erhoben die Stimmen und fielen ein.»Christus qui venit in nomine Domini …«

Wieder ertönte ein lautes Krachen, gefolgt vom Geräusch splitternden Holzes. Unter den Stößen des Rammbocks wölbten die Torflügel sich immer weiter nach innen. Licht fiel durch die Ritzen, die sich im Holz gebildet hatten.

Großer Gott, dachte Johanna. Wenn sie nun durchbrechen? Bis zu diesem Augenblick war ihr eine solche Möglichkeit undenkbar erschienen.

Erinnerungen durchfluteten Johanna. Sie sah, wie die Normannen |427|durch die Türen der Kathedrale zu Dorstadt stürmten und ihre Äxte schwangen … Sie hörte die schrecklichen Schreie der Sterbenden … Sie sah ihren Bruder Johannes mit eingeschlagenem Schädel tot am Boden liegen … und Gisla … Gisla …

Ihre Stimme schwankte; dann verstummte sie. Die Menschen schauten voller Panik zu ihr hinauf. Mach weiter, ermahnte sie sich. Mach weiter! Doch ihr Verstand war wie gelähmt; sie konnte sich nicht an die Worte erinnern.

»Hosanna in excelsis.« Ein tiefer Bariton erklang hinter Johanna. Es war die Stimme von Kardinal Leo von Santi Quattro Coronati, der neben Johanna zur Mauerkrone hinaufgestiegen war. Beim Klang seiner festen Stimme fiel alle Furcht von ihr ab, und gemeinsam sprachen sie den Lobgesang.

»Für Gott und Sankt Peter!« Ein donnernder Ruf erklang aus dem Osten.

Die Wachen auf den Mauern fielen sich jubelnd in die Arme. »Gelobet sei der Herr! Wir sind gerettet!«

Johanna blickte über die Mauer hinweg. Eine gewaltige Armee näherte sich der Stadt; auf den flatternden Bannern der Berittenen waren die Wappen von Sankt Peter und das Kreuz Christi zu sehen.

Die Sarazenen ließen die Rammböcke fallen und stürmten zu ihren Pferden.

Johanna schaute blinzelnd gegen die Sonne. Als die fremden Truppen näher rückten, stieß sie einen plötzlichen, scharfen Schrei aus.

An der Spitze der Vorhut – groß, gewaltig und in martialischer Pracht, wie einer der alten sächsischen Kriegsgötter –, ritt Gerold, die Lanze zum Angriff gesenkt.

 

Die entbrennende Schlacht war wild und grausam. Doch schließlich gelang es den Beneventanern, die Sarazenen von den Stadtmauern zu vertreiben; die Flüchtenden wurden über die gesamte Campagna hinweg bis ans Meer verfolgt. An der Küste angelangt, warfen die Sarazenen die geraubten Schätze an Bord ihrer Schiffe und setzten eiligst Segel. Ihr Aufbruch war so hastig, daß sie eine Vielzahl kleinerer Einheiten zurückließen. In den darauffolgenden Wochen ritten Gerold und seine Männer die Küste hinauf und hinunter und machten Jagd auf diese verstreuten Banden von Plünderern.

Rom war gerettet. Die Bewohner der Stadt waren zwischen |428|Freude und Verzweiflung hin und her gerissen – Freude über ihre Befreiung, Verzweiflung ob der Zerstörung von Sankt Peter; denn der Dom war dermaßen rücksichtslos geplündert worden, daß man ihn nicht mehr wiedererkannte. Das alte goldene Kreuz über dem Grab des Apostels war verschwunden, wie auch der prächtige silberne Tisch mit dem Relief der Stadt Byzanz, ein Geschenk Karls des Großen. Die Ungläubigen hatten die Silberverkleidungen von den Türen und die goldenen Fliesen vom Fußboden gerissen. Sie hatten sogar – möge Gott sie mit Blindheit schlagen! – den gesamten Hochaltar fortgeschafft. Da es ihnen nicht gelungen war, den bronzenen Sarg zu transportieren, in dem der heilige Petrus ruhte, hatten sie ihn aufgebrochen und die Gebeine des Apostels entweiht und über den Boden verstreut.

Die gesamte Christenheit trauerte. Zum erstenmal war diese älteste und bedeutendste christliche Kirche geschändet worden, und unersetzliche Kostbarkeiten waren für immer verloren. Hier, in Sankt Peter, hatten ungezählte Generationen von Pilgern demütig niedergekniet, darunter die mächtigsten Männer der Erde. Hier war die letzte Ruhestätte vieler Päpste. Die abendländische Welt kannte keinen heiligeren Ort. Und nun war dieses Heiligtum des wahren Glaubens, das weder die Goten noch die Vandalen, weder die Griechen noch die Langobarden zu entweihen gewagt hatten, einer Horde Briganten aus Nordafrika zum Opfer gefallen.

Sergius gab sich die Schuld an der Katastrophe. Er zog sich in seine Gemächer zurück und weigerte sich, irgend jemanden zu empfangen; nur Johanna und einige enge Ratgeber ließ er zu sich vor. Und er fing wieder mit dem Trinken an, leerte Becher um Becher toskanischen Weins, bis sein Verstand in gnädiges Vergessen versank.

Die Auswirkungen dieses Rückfalls waren vorherzusehen: Mit aller Macht kehrte die Gicht wieder. Um seine Schmerzen zu lindern, trank Sergius immer mehr. Er schlief schlecht. Nacht für Nacht erwachte er schreiend, von schrecklichen Träumen geplagt, in denen er vom rachsüchtigen Geist des toten Benedikt heimgesucht wurde. Johanna hatte Angst, daß Sergius’ ohnehin geschwächtes Herz diese Belastungen nicht mehr lange durchhalten konnte.

»Denkt an die Buße, die ich Euch auferlegt habe!« sagte Johanna. »Keinen Wein!«

|429|»Das spielt jetzt keine Rolle mehr«, erwiderte Sergius niedergeschlagen. »Ich habe die Hoffnung auf das Himmelreich aufgegeben. Gott hat mich verstoßen.«

»Gott verstößt niemanden. Und Ihr dürft Euch nicht die Schuld daran geben, was geschehen ist. Gewisse Dinge liegen außerhalb aller menschlichen Macht. Man kann nichts dagegen tun.«

Sergius schüttelte den Kopf. »Die Seele meines ermordeten Bruders klagt mich an! Ich habe gesündigt, und das ist nun meine Strafe.«

»Kommt endlich zur Besinnung«, sagte Johanna streng. »Denkt an die Menschen! Sie brauchen jetzt mehr als je zuvor Euren Trost und Eure Führung.«

Sie hatte diese Worte gesagt, um dem Papst Mut zu machen; aber die Wahrheit sah anders aus. Die Menschen hatten sich gegen Sergius gewandt. Es habe genug Warnzeichen gegeben, was den Überfall durch die Sarazenen betraf, sagten die Leute, und der Papst habe Zeit genug gehabt, den heiligen Sarkophag und die anderen Schätze aus Sankt Peter in die Sicherheit der Stadtmauern bringen zu lassen. Sergius’ Glaube an die göttliche Errettung, den man zuvor noch auf dem ganzen Erdkreis gepriesen hatte, wurde nun von allen Menschen als Folge seines sündigen und auf katastrophale Weise fehlgeleiteten Hochmuts verdammt.

»Mea culpa«, sagte Sergius leise und unter Tränen. »Mea maxima culpa.«

Johanna redete auf ihn ein, machte ihm Mut, schimpfte ihn aus, doch ohne Erfolg. Sergius hatte darauf vertraut, daß der Glaube allein genügte; er hatte mit der ganzen Kraft seines Innern daran geglaubt, daß Gott selbst den Petersdom verteidigen würde. Daß es anders gekommen war, faßte Sergius als persönliches Urteil gegen sich selbst auf. Seine Gesundheit verfiel beängstigend schnell. Johanna tat für ihn, was sie konnte, doch es war sinnlos. Sergius wünschte sich den Tod.

Doch sein Sterben dauerte lange. Als Sergius längst schon den klaren Verstand verloren hatte und in einen Dämmerzustand versunken war, weigerte sein Körper sich immer noch, den letzten Funken des Lebens verlöschen zu lassen.

Dann, an einem sonnenlosen, dunklen Morgen, starb er. Sein Tod war so still und friedlich gekommen, daß man es erst Stunden später bemerkte.

|430|Johanna betrauerte Sergius aufrichtig. Er war weder ein so guter Mensch noch ein so guter Papst gewesen, wie er es hätte sein sollen, doch Johanna wußte besser als jeder andere, welcher Dämonen Sergius sich hatte erwehren müssen, und wie schwer sein Kampf gewesen war, sich von diesen bösen Geistern zu befreien. Daß er am Ende unterlegen war, machte seinen Kampf nicht weniger ehrenvoll.

Sergius wurde im verwüsteten Petersdom neben seinen Vorgängern beigesetzt. Die Trauerfeierlichkeiten waren so jämmerlich, daß es an einen Skandal grenzte, und die erforderlichen Trauertage wurden nur widerwillig eingehalten; denn die Römer hatten sich bereits voller Ungeduld der Zukunft zugewandt – und der Wahl eines neuen Papstes.

 

Anastasius trat aus den stürmischen Januarwinden in die wohltuende Wärme des alten und vornehmen Palasts seiner Familie. Es war die prunkvollste Residenz in ganz Rom – vom Lateran natürlich abgesehen –, und Anastasius war zu Recht stolz darauf. Die gewölbte Decke der Empfangshalle ragte zwei Stockwerke in die Höhe, und sie war aus rein weißem Ravenna-Marmor errichtet. Die Wände waren mit farbenprächtigen Fresken verziert; die Gemälde zeigten Szenen aus dem Leben der berühmtesten Vorfahren Anastasius’. Auf einem Bild war ein römischer Konsul zu sehen, der eine Rede vor dem Senat hielt; ein anderes Gemälde zeigte einen Feldherrn, der auf einem schwarzen Streitroß saß und den Blick über seine Truppen schweifen ließ; wieder ein anderes Bild zeigte einen Kardinal, der aus der Hand Papst Hadrians sein Pallium – das Schulterband – entgegennahm. An der vorderen Wand der Eingangshalle war eine Nische für ein weiteres Bild frei gelassen worden – für den von der Familie seit langer Zeit herbeigesehnten Tag, da einer ihrer Söhne die höchste aller Würden erringen würde: die Krönung zum Papst.

Normalerweise herrschte in der Halle reges Leben und Treiben. Heute war sie leer, vom Haushofmeister der Familie abgesehen. Anastasius nickte knapp, um die unterwürfige Begrüßung durch den Mann zu erwidern – an Untergebene verschwendete er niemals Zeit –, und begab sich geradewegs zum Zimmer seines Vaters. Üblicherweise wäre Arsenius um diese Zeit in der großen Halle gewesen und hätte mit den Honoratioren der Stadt über die gleichermaßen komplizierte wie |431|lohnenswerte Machtpolitik verhandelt. Doch letzten Monat war Arsenius an einem hartnäckigen Fieber erkrankt, das seine gewaltigen Energien aufgezehrt und ihn dazu gezwungen hatte, auf seinem Zimmer zu bleiben.

»Mein Sohn.« Arsenius erhob sich von der Liege, als Anastasius ins Zimmer kam. Die Krankheit hatte ihren Tribut gefordert; Arsenius wirkte grau und zerbrechlich. Anastasius dagegen verspürte eine seltsame erregende Woge der Kraft in sich aufsteigen; seine Jugend und Energie wirkten in dem Maße stärker, als beides bei seinem Vater schwand.

»Vater.« Mit ausgebreiteten Händen ging Anastasius zu ihm, und sie umarmten sich voller Wärme.

»Was gibt es Neues?« fragte Arsenius. »Die Wahl ist für morgen angesetzt.«

»Gott sei gepriesen!« rief Arsenius, doch es war ein bloßer Ausdruck der Freude. Wenngleich er den erhabenen Titel des Bischofs von Orte trug, hatte Arsenius niemals die Priesterweihen empfangen; er war nicht einmal ein religiöser Mensch. Seine Ernennung zum Bischof war die politische Anerkennung der gewaltigen Macht gewesen, die Arsenius in der Stadt ausübte. »Der Tag, an dem einer meiner Söhne auf dem Thron des heiligen Petrus sitzt, kann gar nicht schnell genug kommen.«

»Daß es überhaupt so kommt, ist nicht mehr so sicher, wie wir einmal geglaubt haben, Vater.«

»Was meinst du damit?« fragte Arsenius scharf.

»Vielleicht genügt es nicht, daß Lothar meine Kandidatur unterstützt. Nun wird ihm nämlich angekreidet, daß er es damals versäumt hat, Rom gegen die Sarazenen zu verteidigen. Die Leute fragen sich, weshalb sie einem Kaiser huldigen sollen, der sie nicht beschützt hat. Es mehren sich die Stimmen, daß Rom seine Unabhängigkeit vom fränkischen Thron sichern sollte.«

Arsenius dachte längere Zeit über diese Worte nach. Dann sagte er: »Du mußt Lothar denunzieren.«

Anastasius war entsetzt. Der stets so messerscharfe analytische Verstand seines Vaters ließ offenbar nach.

»Würde ich Lothar anschwärzen«, erwiderte er, »so würde ich die Unterstützung der kaiserlichen Partei verlieren, auf die sich all unsere Hoffnungen gründen!«

»Nein. Denn du wirst zu ihnen gehen und erklären, daß du |432|lediglich aus politischer Notwendigkeit handelst. Versichere ihnen, daß es keine Rolle spielt, was du vielleicht zu sagen gezwungen bist. Erkläre Lothar und seinen Leuten, du wärst dem Kaiser treu ergeben und du würdest diese Treue nach der Wahl durch kostbare Geschenke und Vergünstigungen beweisen.«

»Lothar wird toben vor Wut!«

»Bis dahin spielt das keine Rolle mehr. Nach der Wahl werden wir unverzüglich die Papstweihe vornehmen, ohne auf den kaiserlichen jussio zu warten. Unter diesen Umständen wird niemand protestieren; denn angesichts der andauernden Bedrohung durch die Sarazenen darf Rom nicht einen Tag länger als nötig führerlos bleiben. Wenn Lothar erfährt, was geschehen ist, bist du bereits Bischof von Rom und sitzt auf dem Papstthron – und der Kaiser kann nichts, aber auch gar nichts dagegen unternehmen.«

Anastasius schüttelte bewundernd den Kopf. Sein Vater hatte die komplizierte Lage mit einem einzigen Blick erfaßt! Dieser alte Fuchs mochte vielleicht grau werden – von seiner Schläue und Gerissenheit hatte er kein bißchen eingebüßt.

Arsenius hielt dem Sohn einen langen eisernen Schlüssel hin. »Geh in die Schatzkammer und nimm dir an Gold, soviel du brauchst, um die Leute bei der Wahl auf deine Seite zu bringen. – Verflucht!« rief er. »Hätte ich nicht dieses gottverdammte Fieber, würde ich das alles selbst in die Hand nehmen.«

Der Schlüssel lag kalt und hart in Anastasius’ Hand und vermittelte ihm ein beruhigendes Gefühl der Macht. »Ruhe dich aus, Vater. Ich schaffe das schon allein.«

Arsenius legte ihm die Hand auf die Schulter. »Sei auf der Hut, mein Sohn. Du spielst ein gefährliches Spiel. Oder hast du schon vergessen, was damals deinem Onkel Theodorus passiert ist?«

Vergessen! Die Ermordung seines Onkels im Lateranpalast war der schrecklichste Augenblick in Anastasius’ Kindheit gewesen. Der Ausdruck auf Theodorus’ Gesicht, als die päpstlichen Wachen ihm die Augen ausgestochen hatten, würde ihn bis zum letzten Tag seines Lebens verfolgen.

»Ich werde vorsichtig sein, Vater«, sagte er. »Überlaß alles mir.«

»Genau das«, erwiderte Arsenius, »habe ich vor.«

 

|433|»Domine labia mea aperies …«, betete Johanna, die auf dem kalten Steinfußboden der Kapelle des Patriarchums kniete. Doch wie innig sie auch betete – es gelang ihr nicht, ins reine Licht der göttlichen Gnade emporzusteigen; die starke Anziehungskraft einer menschlichen Bindung war zu tief verwurzelt und hielt sie auf Erden fest.

Sie liebte Gerold. Es hatte keinen Sinn mehr, diese schlichte Wahrheit zu verleugnen oder den Versuch zu machen, sich dieser Einsicht zu verschließen. Als Johanna ihn an der Spitze der Beneventanischen Truppen auf die Stadt hatte zureiten sehen, hatte sie gespürt, wie ihr ganzes Selbst mit der überwältigenden Kraft tiefer Liebe zu ihm hingezogen wurde.

Sie war jetzt dreiunddreißig Jahre alt. Doch sie hatte niemanden, zu dem sie wirklich gehörte, niemanden, mit dem sie durch eine tiefe menschliche Beziehung verbunden war. Die Notwendigkeit, sich fast ihr ganzes bisheriges Erwachsenenleben als Mann auszugeben, hatte ihr enge menschliche Beziehungen unmöglich gemacht. Sie hatte ein Leben der Täuschung geführt und die Wahrheit, wer sie wirklich war, verleugnet.

War das der Grund dafür, daß Gott ihr nun seine Gnade vorenthielt? Wollte er, daß sie ihre Verkleidung ablegte und das Leben einer Frau führte, als die Gott sie erschaffen hatte?

Sergius’ Tod hatte sie von jeder Verpflichtung in Rom entbunden. Anastasius wurde der neue Papst, und bei ihm gab es keinen Platz mehr für sie.

Johanna hatte ihre Gefühle für Gerold lange Zeit unterdrückt. Jetzt kam es ihr so vor, daß es richtig wäre, sich diesen Gefühlen endlich hinzugeben und dem Diktat des Herzens zu folgen, nicht dem des Verstandes.

Aber wie wird es sein, wenn Gerold und ich uns wiedersehen? fragte sie sich. Sie lächelte leicht, als sie sich die Freude dieses Augenblicks vorstellte.

Alles war jetzt möglich. Alles konnte geschehen.

 

Am Tag der Papstwahl hatte sich bereits gegen Mittag eine riesige Menschenmenge auf dem großen freien Platz im Südwesten des Lateranpalastes versammelt. Dem uralten Brauch gemäß – der in der Verfassung von 824 gesetzlich verankert worden war – nahmen alle Römer, Geistliche und Laien, an der Wahl eines neuen Papstes teil.

|434|Johanna stand auf den Zehenspitzen und versuchte, über das Meer aus wogenden Köpfen und Armen hinwegzuspähen. Wo war Gerold? Gerüchte besagten, er wäre von seinem wochenlangen Feldzug gegen die sarazenischen Banden zurückgekehrt. Falls das zutraf, hätte er normalerweise hier sein müssen. Johanna wurde von plötzlicher Furcht gepackt. War Gerold zurück nach Benevento gezogen, ohne daß sie beide sich begegnet waren?

Respektvoll bildete die Menge eine Gasse, als der Erzpriester Eustathius, der Erzdiakon Desiderius und der primicerius Paschal auf den Marktplatz kamen. Diese Männer waren das Triumvirat, das die Stadt traditionsgemäß sede vacante regierte – in der Zeit zwischen dem Tod des alten und der Wahl des neuen Papstes.

Eustathius sprach mit lauter Stimme ein kurzes Gebet. »Himmlischer Vater, leite uns bei unserem heutigen Tun, auf daß wir ehrenvoll und wohlüberlegt handeln; auf daß der Haß nicht die Vernunft besiege und auf daß die Lüge sich nicht mit der Wahrheit vermische. Im Namen der Heiligen und untrennbaren Dreifaltigkeit des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.«

Als nächster ergriff Paschal das Wort. »Seine Heiligkeit Papst Sergius ist zu Gott berufen worden, und nun fällt es uns zu, seinen Nachfolger zu bestimmen. Jeder Römer, der hier anwesend ist, mag seine Stimme erheben und erklären, welchen Namen Gott ihm eingegeben hat, auf daß die Allgemeinheit darüber urteile.«

»Ehrenwerter primicerius.« Tassilo, Führer der kaiserlichen Partei und einer der Spitzel Lothars, meldete sich umgehend zu Wort. »Ein Name empfiehlt sich von selbst und steht über allen anderen. Ich rede von Anastasius, Bischof von Castellum, Sohn des erlauchten Arsenius. Alle Eigenschaften dieses Mannes, ja, sein ganzes Wesen empfehlen ihn für den Thron – seine edle Herkunft, seine außergewöhnliche Gelehrsamkeit, seine unbestreitbare Frömmigkeit. Mit Anastasius werden wir einen Verteidiger nicht nur unseres christlichen Glaubens bekommen, sondern auch unseres materiellen Wohlstands.«

»Deines Wohlstands, willst du wohl sagen!« rief eine spöttische Stimme aus der Menge. Gelächter erhob sich.

»Ganz und gar nicht!« rief Tassilo zurück. »Anastasius’ |435|Großzügigkeit und sein großes Herz werden ihn zu einem wahren Vater für euch alle machen!«

»Er ist der Mann des Kaisers!« meldete der Zwischenrufer sich wieder zu Wort. »Wir wollen kein Werkzeug des fränkischen Kaisers als Papst!«

»Das stimmt!« –»Jawohl!« –»Da hast du recht!« Mehrere andere Zuhörer stimmten dem ersten Rufer stürmisch zu.

Anastasius stieg auf die Plattform. In einer dramatischen Geste hob er die Arme, um die Menge zu beruhigen. »Römer!« rief er. »Ihr schätzt mich falsch ein. Der Stolz und die Ehre meiner edlen römischen Ahnen fließen so kräftig in meinen Adern wie in den euren. Niemals beuge ich das Knie vor einem fränkischen Herrn!«

»Hört, hört!« jubelten seine Anhänger begeistert.

»Wo war Lothar denn, als die Ungläubigen vor unseren Toren standen?« fuhr Anastasius fort. »Statt uns in der Not zu Hilfe zu eilen, hat er das Recht verwirkt, sich ›Beschützer der Länder des heiligen Petrus‹ zu nennen! Weil Lothar von herausragendem Rang ist, schulde ich ihm Achtung; weil er ein christlicher Mitbruder ist, schulde ich ihm Höflichkeit, doch meine Lehnstreue gilt immer und zuerst der Mutter Rom!«

Er hatte gut gesprochen. Wieder jubelten seine Anhänger, und diesmal fielen andere aus der Menge ein. Die Flutwelle der Meinung hob sich zugunsten Anastasius’.

»Das ist eine Lüge!« rief Johanna. Überall um sie herum wandten die Leute ihr verdutzt die Gesichter zu.

»Wer hat das gesagt?« Paschal ließ den Blick über die Menge schweifen. »Wer diese Klage vorgebracht hat – er möge vortreten!«

Johanna zögerte. Sie hatte die Worte gerufen, ohne groß darüber nachzudenken; Anastasius’ Heuchelei hatte ihren Zorn entflammt. Nun aber gab es kein Zurück mehr. Tapfer stieg Johanna auf die Plattform.

»He, das ist Johannes Anglicus!« rief jemand. Ein Murmeln des Erkennens durchlief die Menge nach diesen Worten; jeder hatte schon von Johannas Gebet auf den Mauern der Stadt gehört, als die Sarazenen Rom angegriffen hatten und die Lage aussichtslos erschienen war.

Anastasius trat ihr in den Weg. »Ihr habt nicht das Recht, Euch an diese Versammlung zu wenden«, sagte er. »Ihr seid kein römischer Bürger.«

|436|»Laßt ihn reden!« rief eine Stimme. Andere nahmen den Ruf auf, bis Anastasius schließlich gezwungen war, zur Seite zu treten.

»Sprecht Eure Anschuldigung offen aus, Johannes Anglicus«, verlangte Paschal.

Johanna straffte die Schultern und sagte: »Bischof Anastasius hat ein Abkommen mit dem Kaiser getroffen. Durch Zufall habe ich mitgehört, wie Anastasius versprochen hat, die Römer zurück zum fränkischen Thron zu führen.«

»Falscher Priester!« –»Lügner!« –»Schurke!« brüllten die Mitglieder der kaiserlichen Partei bei dem Versuch, Johanna niederzuschreien.

Doch sie erhob die Stimme über die Widersacher und schilderte der Menge, wie sie mitgehört hatte, als Lothar um Anastasius’ Hilfe bat, die Römer zum Treueid auf den Kaiser zu bewegen – und wie Anastasius zugestimmt hatte, um sich als Gegenleistung Lothars Hilfe bei der Papstwahl zu versichern.

»Das ist eine schwere Anschuldigung«, sagte Paschal, als Johanna geendet hatte. »Was habt Ihr dazu zu sagen, Anastasius?«

»Ich schwöre vor Gott, daß dieser Priester lügt«, antwortete Anastasius. »Aber meine Landsleute werden dem Wort eines Ausländers gewiß nicht mehr Glauben schenken als dem eines Römers!«

»Aber Ihr wart der erste, der Lothars Wunsch nach dem Treueschwur unterstützt hat!« rief jemand.

»Na und?« brüllte jemand anders. »Das beweist gar nichts!«

Ein lautstarkes Wortgefecht entbrannte. Das Streitgespräch wurde zunehmend hitziger; das Stimmungspendel in der Menge schwang zuerst auf die eine, dann auf die andere Seite, nachdem Sprecher um Sprecher sich zu Wort gemeldet und Anastasius’ Kandidatur entweder befürwortet oder sich dagegen ausgesprochen hatte.

»Edler primicerius!« Arighis, der bislang geschwiegen hatte, trat vor.

»Vicedominus«, redete Paschal den päpstlichen Haushofmeister respektvoll, wenngleich ein wenig erstaunt, mit seinem Titel an. Als ergebener und treuer Diener des päpstlichen Thrones hatte Arighis sich noch nie in Dinge eingemischt, die außerhalb der Mauern des Laterans von Bedeutung waren. »Möchtet auch Ihr etwas zur Debatte beitragen?«

|437|»So ist es.« Arighis wandte sich der Menge zu. »Bürger von Rom, wir sind nicht frei von Gefahr. Es könnte sein, daß die Sarazenen im Frühling einen weiteren Angriff auf die Stadt unternehmen. Dieser Bedrohung müssen wir uns gemeinsam stellen. Es darf nichts Trennendes zwischen uns geben! Wen wir auch zum neuen Papst wählen – es muß jemand sein, bei dem wir uns alle einig sind.«

Zustimmendes Murmeln durchlief die Menge.

»Gibt es einen solchen Mann?« fragte Paschal.

»Es gibt ihn«, erwiderte Arighis. »Einen Mann mit Kraft und Weitsicht. Ein Mann, der Gelehrsamkeit und Frömmigkeit in sich vereint: Kardinal Leo von der Kirche Santi Quattro Coronati!«

Der Vorschlag wurde mit tiefem Schweigen aufgenommen. Alle hatten so hitzig über die Vor- und Nachteile der Kandidatur Anastasius’ diskutiert, daß sie gar keinen anderen Bewerber mehr in Betracht gezogen hatten.

»Leo ist von ebenso edler Herkunft wie Anastasius«, fuhr Arighis fort. »Sein Vater ist ein angesehenes Mitglied des Senats, und Leo hat seine Pflichten als Geistlicher und als Kardinal stets vorbildlich erfüllt.« Die höchste Trumpfkarte bewahrte Arighis sich bis zum Schluß auf: »Wird einer von uns je vergessen, wie Leo während des Angriffs der Sarazenen unerschütterlich auf der Stadtmauer gestanden und unser aller Mut entfacht hat? Wie er uns allen durch sein Beispiel Kraft gab? Er ist ein Löwe Gottes! Ein neuer heiliger Sylvester! Ein Mann, der uns vor den Ungläubigen beschützen kann und wird!«

Die Dringlichkeit dieses entscheidenden Moments hatte Arighis zu einer für ihn untypischen Beredsamkeit getrieben. Dann brachen mit einem Male viele Zuhörer in spontanen Jubel aus.

Die päpstliche Partei spürte die Gunst des Augenblicks und fiel in den Ruf ein. »Leo! Leo!« skandierten sie. »Leo soll unser neuer Papst werden!«

Mit dem Mute der Verzweiflung versuchten Anastasius’ Anhänger noch einmal, die Vorzüge ihres Kandidaten anzupreisen, doch die überwältigende Mehrheit hatte sich längst anders entschieden. Als die Kaiserlichen die Aussichtslosigkeit ihrer Bemühungen erkannten, schlossen sie sich der päpstlichen Partei an und unterstützten Leos Kandidatur. Einstimmig |438|wurde der Kardinal von Santi Quattro Coronati zum neuen Papst gewählt.

Wie auf einer gewaltigen Woge wurde Leo auf den Schultern seiner Landsleute nach vorn getragen und stieg auf die Plattform. Er war ein kleiner, aber gutgebauter Mann, noch immer in der Blüte seiner Jahre, mit einem kräftigen Römergesicht, lockigem braunem Haar und einem Ausdruck, der Intelligenz und Humor verriet. Paschal spürte die Erhabenheit des Augenblicks, kniete vor Leo nieder und küßte ihm die Füße. Eustathius und Desiderius folgten seinem Beispiel.

Aller Blicke richteten sich auf Anastasius. Für einige Sekunden zögerte er. Dann zwang er sich mit aller Kraft, ebenfalls niederzuknien, sich lang auf dem Boden auszustrecken und dem neuen Papst die Füße zu küssen.

»Erhebt Euch, edler Anastasius.« Leo bot ihm die Hand dar und half ihm auf. »Vom heutigen Tag an seid Ihr Kardinal von Sankt Marcellus.« Es war eine großzügige Geste; Sankt Marcellus zählte zu den ältesten und ehrwürdigsten Kirchen der Stadt: Leo hatte Anastasius soeben eine der angesehensten Pfründe Roms verliehen.

Die Menge jubelte begeistert.

Anastasius verzog die Lippen zu einem Lächeln, obwohl sich der bittere Geschmack der Niederlage wie trockene Asche in seinem Mund ausbreitete.

 

»Magnificat anima mea Dominum«, sang der Chor bei der feierlichen Papstweihe. Da die Peterskirche in Trümmern lag, wurde die Zeremonie in der Lateranbasilika abgehalten.

»Benedictus.« Die Klänge des Responsoriums drangen gedämpft durch das Fenster des kleinen Zimmers, in dem Johanna ihre Arzneien aufbewahrte. Normalerweise hätte sie mit den anderen Geistlichen in der Kirche sein müssen, um der prunkvollen Krönung des neuen Papstes beizuwohnen. Doch sie hatte hier zu tun, in diesem kleinen Zimmer: Frisch gepflückte Kräuterblätter mußten zum Trocknen aufgehängt werden; Heiltränke und Lösungen mußten neu gemischt und in die entsprechenden Flaschen und Gefäße nachgefüllt werden. Als Johanna fertig war, ließ sie den Blick über die Regale schweifen, in denen sie, ordentlich aufgereiht, die Kräuter, Tränke und Pulver lagerte – sichtbares Zeugnis ihres gewaltigen Wissens um die Heilkunst. Mit einem Stich des Bedauerns |439|wurde ihr klar, daß sie ihr kleines Labor sehr vermissen würde.

»Ich habe mir schon gedacht, daß ich dich hier finde«, erklang Gerolds Stimme hinter ihr. Johanna drehte sich um, und ihre Blicke trafen sich.

»Johanna …«, sagte er leise.

»Gerold.«

Sie schauten sich mit der Wärme ihrer wiedergewonnenen Liebe an.

»Seltsam«, sagte Gerold schließlich. »Ich hatte es beinahe schon vergessen.«

»Was vergessen?«

»Jedesmal, wenn ich dich sehe … entdecke ich dich vollkommen neu.«

Johanna ging zu ihm, und sie hielten sich in den Armen, sanft und zärtlich.

»Was ich dir damals gesagt habe, in dem vestalischen Tempel …«, murmelte sie, »es war dumm von mir. Ich wollte nicht …«

Gerold legte ihr einen Finger auf die Lippen. »Laß mich zuerst reden. Was geschehen ist, war meine Schuld. Es war verkehrt, dich zu bitten, mit mir aus Rom fortzugehen; das habe ich jetzt erkannt. Ich wußte damals nicht, was du dir hier aufgebaut hast, was aus dir geworden ist. Du hattest recht, Johanna – ich kann dir nichts bieten, das sich auch nur annähernd damit vergleichen ließe.«

Außer deiner Liebe, dachte Johanna, sprach es aber nicht aus. Statt dessen sagte sie schlicht: »Ich möchte dich nicht wieder verlieren.«

»Das wird nicht geschehen«, antwortete Gerold. »Ich kehre nicht nach Benevento zurück. Leo hat mich gebeten, in Rom zu bleiben – als superista.«

Superista – der Befehlshaber der päpstlichen Garde! Es war eine außergewöhnliche Ehre, das höchste militärische Amt in Rom.

»Es gibt hier Arbeit zu tun – wichtige Arbeit. Der Schatz, den die Sarazenen in der Peterskirche erbeutet haben, wird sie dazu ermuntern, es noch einmal zu versuchen.«

»Glaubst du denn, sie greifen Rom wieder an?«

»Gewiß.« Jeder anderen Frau hätte Gerold die Unwahrheit gesagt, um sie zu beruhigen. Aber Johanna war nicht irgendeine |440|Frau. »Leo wird unsere Hilfe brauchen, Johanna – deine und meine.«

»Meine? Ich wüßte nicht, was ich tun kann.«

Gerold fragte verwundert: »Soll das heißen, dir hat noch keiner Bescheid gesagt?«

»Was meinst du damit?«

»Daß du zum nomenclator ernannt worden bist.«

»Was?« Johanna traute ihren Ohren nicht. Der nomenclator war einer der optimates, der höchsten Beamten Roms: der für die Wohlfahrt zuständige Minister und der besondere Beschützer der Mündel, Witwen und Waisen.

»Aber … ich bin Ausländerin!«

»Das spielt für Leo keine Rolle.«

Johanna wußte, daß sie die Chance ihres Lebens bekam. Doch wenn sie das Amt übernahm, bedeutete dies das Ende aller Hoffnungen, mit Gerold zusammensein zu können. Ihr schwirrte der Kopf. Alles kam ganz anders, als sie es erwartet hatte.

Gerold deutete ihr Schweigen falsch. »Ich werde dir nicht wieder den Vorschlag machen, mich zu heiraten«, sagte er. »Ich weiß, daß wir niemals wie Mann und Frau zusammensein können. Aber wir würden uns oft sehen, und wir könnten zusammen arbeiten, wie wir es schon einmal getan haben. Wir waren immer ein gutes Gespann, nicht wahr?«

Johannas Stimme war nurmehr ein Flüstern. »Ja. Das waren wir.«

»Sanctus, sanctus, sanctus.« Die Worte des letzten Lobgesanges wehten durch das offene Fenster in die kleine Kammer. Die Weihezeremonie näherte sich ihrem Ende.

»Komm.« Gerold hielt Johanna die Hand hin. »Gehen wir unseren neuen Papst begrüßen.«