|384|22.

Gerold atmete erleichtert auf, als er und seine Männer den letzten Steilhang des Mont Cenis bewältigt hatten. Lagen die Alpen erst einmal hinter ihnen, war der schwierigste Teil der Strecke geschafft. Die Via Francigena erstreckte sich vor ihnen, herrlich eben und in gutem Zustand; denn die Straße besaß noch immer ihre antike Decke aus Pflastersteinen, die vor Jahrhunderten von den Römern gelegt worden war.

Gerold trieb sein Pferd in einen leichten Galopp. Vielleicht konnten sie jetzt die in den Bergen verlorene Zeit wettmachen. Ungewöhnlich später Schneefall hatte die schmalen und steilen Alpenpässe äußerst gefährlich gemacht; zwei von Gerolds Männern waren in den Tod gestürzt, als ihre Pferde auf Eis und Schnee ins Rutschen geraten waren. Schließlich mußte Gerold sogar einen Halt befehlen, bis die Verhältnisse sich gebessert hatten; diese Verzögerung ließ seine Truppe noch weiter hinter die Hauptstreitmacht der kaiserlichen Armee zurückfallen, die sich mittlerweile bereits Rom nähern mußte.

Egal. Lothar würde ihn, Gerold, wohl kaum vermissen. Seine Einheit, die zur Nachhut der kaiserlichen Armee zählte, war nur zweihundert Mann stark und setzte sich aus niederen Landadeligen und kleinen Grundbesitzern zusammen. Für einen Mann von Gerolds Rang war es ein beschämendes Kommando.

In den nunmehr drei Jahren, die seit der Schlacht von Fontenoy vergangen waren, hatte Gerolds Verhältnis zu Kaiser Lothar sich zunehmend verschlechtert. Lothar hatte mit seinen rebellischen Brüdern schließlich eine Einigung erzielt: 843 war der Vertrag von Verdun geschlossen worden, ein bemerkenswertes Beispiel für politische Taschenspielertricks, die es Lothar erlaubt hatten, trotz seiner vernichtenden Niederlage bei |385|Fontenoy sowohl seine Herrschaftsgebiete als auch seine Krone zu behalten.

Dieserart von der lästigen Notwendigkeit befreit, Verbündete und Helfer zu gewinnen und zu umwerben, war Lothar tyrannischer als je zuvor geworden; er hatte sich mit Speichelleckern und Jasagern umgeben, die jeden seiner politischen Schritte begeistert bejubelten, mochten sie noch so verrückt sein. Fideles wie Gerold, die nach wie vor ehrlich ihre eigene Meinung vertraten, waren vom Kaiser nicht mehr gelitten. So hatte Lothar den Ratschlag Gerolds und anderer Gefolgsleute in den Wind geschlagen, den militärisch unsinnigen Feldzug gegen Rom zu unterlassen.

»Unsere Truppen werden dringend an der friesischen Küste gebraucht«, hatte Gerold erklärt, »zum Schutz gegen die Normannen. Ihre Raubzüge werden immer häufiger und zerstörerischer.«

Das stimmte. Im Jahr zuvor hatten die Normannen St. Wandrille und Utrecht angegriffen; im zurückliegenden Frühjahr waren sie sogar die Seine entlanggesegelt und hatten Paris niedergebrannt. Dieser Raubzug hatte eine Schockwelle der Furcht über das Land hinweggejagt: Wenn eine so große Stadt wie Paris, die noch dazu im Herzen Europas lag, vor diesen Barbaren nicht sicher war, dann waren es kein Ort und kein Landstrich.

Doch Lothars Interesse blieb stur auf Rom gerichtet; denn diese Stadt hatte die Dreistigkeit besessen, Papst Sergius zu weihen, ohne vorher die Zustimmung des Kaisers einzuholen – eine Unterlassung, die Lothar als persönliche Beleidigung betrachtete.

»Schickt eine Abordnung zu Sergius und laßt ihn wissen, daß Euch sein Schritt mißfällt«, riet Gerold dem Kaiser. »Bestraft die Römer, indem Ihr ihnen das Lehensgeld vorenthaltet. Aber laßt die waffenfähigen Männer hier, wo sie wirklich gebraucht werden.«

Angesichts dieser Herausforderung seiner kaiserlichen Macht hatte Lothar äußerst wütend reagiert und Gerold zur Strafe den Befehl über diese unbedeutende kaiserliche Einheit der Nachhut übertragen.

Auf der gepflasterten Straße kamen die Männer gut voran und legten fast dreißig Kilometer zurück, bevor die Dämmerung hereinbrach. Doch auf der ganzen Strecke kamen sie an |386|keiner einzigen Stadt oder einem Dorf vorbei. Gerold hatte sich schon damit abgefunden, daß er und seine Leute eine weitere ruhelose Nacht am Straßenrand verbringen mußten, als er plötzlich eine Rauchspirale entdeckte, die sich träge über einer Baumreihe drehte.

Deo gratias! Vor ihnen lag ein Dorf, zumindest irgendeine Art von Ansiedlung. Also konnten Gerold und seine Männer sicher sein, daß eine Nacht mit ruhigem, wohltuendem Schlaf auf sie wartete. Noch hatten sie nicht die Grenze zum päpstlichen Machtbereich überquert; das langobardische Königreich, durch das sie ritten, war kaiserliches Hoheitsgebiet, und die Gesetze der Gastfreundschaft verlangten, daß Fremde höflich aufgenommen wurden.

Und wenn schon eine Übernachtung in Häusern nicht möglich ist, dachte Gerold, so doch bestimmt auf weichen Strohlagern in trockenen, warmen Ställen oder Scheunen.

Als sie um eine Biegung der Straße kamen, sahen die Männer, daß der Rauch nicht von einladenden Herdfeuern stammte, sondern von den schwelenden Überresten niedergebrannter Häuser aufstieg. Einst mußte hier eine blühende Ansiedlung gestanden haben; denn Gerold zählte die geschwärzten Ruinen von etwa fünfzehn Gebäuden. Der Brand war vermutlich durch eine Unachtsamkeit entstanden – durch eine umgestürzte Öllampe vielleicht oder durch Funkenflug aus einem Herd; solche Unglücksfälle waren nicht ungewöhnlich in Ansiedlungen, in denen die Häuser aus Holz und Reet errichtet waren.

Als er an den glimmenden, verkohlten Balken vorbeiritt, wurde Gerold an Villaris erinnert. Es hatte fast genauso ausgesehen an jenem längst vergangenen Tag, als er heimgekehrt war und sein Anwesen von den Normannen niedergebrannt aufgefunden hatte. Er mußte daran denken, wie er die Trümmer durchwühlt hatte – auf der Suche nach Johanna und zugleich von der Angst erfüllt, sie zu finden. Seltsam. Es war siebzehn Jahre her, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte, doch ihr Bild stand ihm noch so deutlich vor Augen, als wäre es erst gestern gewesen: das gelockte weißgoldene Haar; die verführerische, melodische dunkle Stimme; die tiefliegenden graugrünen Augen, die um so vieles klüger blickten, als Johanna an Jahren zählte.

Gerold verscheuchte ihr Bild aus seinen Gedanken. Manche |387|Dinge schmerzten zu sehr, als daß man sich daran erinnern sollte.

Anderthalb Kilometer hinter der zerstörten Ansiedlung, an dem hohen Wegkreuz, das die Stelle bezeichnete, an der sich zwei Straßen trafen, bettelten eine Frau und fünf zerlumpte Kinder um Almosen. Als Gerold und seine Männer näher kamen, zog die kleine Familie sich ängstlich zurück.

»Habt keine Furcht«, sagte Gerold zu der Frau. »Wir tun euch kein Leid.«

»Habt Ihr etwas zu essen, Herr?« fragte sie. »Für die Kinder?«

Vier von den Kleinen rannten zu Gerold und streckten ihm in stummem Flehen die Hände entgegen; ihre kleinen Gesichter waren schmutzig und vom Hunger ausgezehrt. Das fünfte Kind – ein schwarzhaariges, hübsches Mädchen von etwa dreizehn Jahren – blieb zurück und klammerte sich an die Mutter.

Gerold nahm den Lederbeutel aus seiner Satteltasche, in dem sich seine Lebensmittelration für den nächsten Tag befand. Der Beutel enthielt einen halben Laib Brot, eine dicke Scheibe Käse sowie ein getrocknetes und gesalzenes Stück Rehkeule. Gerold wollte das Brot schon in zwei Hälften zerbrechen, als er sah, wie die Kinder ihn beobachteten.

Ach, egal, sagte er sich und gab ihnen den gesamten Inhalt des Beutels. Es sind nur noch wenige Tagesreisen, dann sind wir in Rom. Bis dahin kann ich mich von dem Zwieback ernähren, den wir auf dem Mannschaftswagen mitführen.

Die Kinder jubelten und fielen wie ein Schwarm halbverhungerter Vögel über die Lebensmittel her.

»Kommt Ihr aus dem Dorf?« fragte Gerold die Frau und zeigte auf die geschwärzten Ruinen weit hinter ihnen. Die Frau nickte. »Mein Mann ist dort der Müller.«

Gerold ließ sich sein Erstaunen nicht anmerken. Die zerlumpte Gestalt vor ihm sah weiß Gott nicht so aus wie die Frau eines Müllers, der meist zu den wohlhabendsten Bewohnern eines Dorfes zählte. »Was ist geschehen?«

»Vor fünf Tagen, kurz nach der Frühjahrsaussaat, sind Soldaten gekommen. Die Männer des Kaisers. Sie sagten, wir müßten ihnen unsere Treue zu Lothar schwören, oder wir würden auf der Stelle durch das Schwert sterben. Da haben wir natürlich den Schwur geleistet.«

|388|Gerold nickte. Lothars Zweifel an der Treue der Bewohner dieses Teils der Lombardei waren nicht ganz unbegründet, denn das Gebiet gehörte erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit zum Imperium; Karl der Große, Lothars Großvater, hatte das einstige Langobardenreich erobert.

»Aber wenn ihr den Treueid geleistet habt, weshalb wurde das Dorf dann zerstört?« fragte Gerold.

»Weil die Männer uns nicht glaubten. Sie haben uns als Lügner bezeichnet und brennende Fackeln auf die Dächer unserer Häuser geworfen. Als wir versuchten, die Flammen zu löschen, hielten sie uns mit ihren Schwertern zurück. Unsere Getreidespeicher haben die Männer ebenfalls in Brand gesetzt, obwohl wir sie angefleht haben, es um der Kinder willen nicht zu tun. Aber die Soldaten haben nur gelacht und die Kinder als die Brut von Verrätern bezeichnet, die den Tod verdient hätte.«

»Diese Verbrecher!« rief Gerold wütend. Viele Male hatte er versucht, Lothar davon zu überzeugen, daß er seine Untertanen nicht durch Gewalt für sich gewinnen könne, sondern durch gerechte Behandlung und die Einhaltung der Gesetze. Wie üblich, waren seine Worte auf taube Ohren gestoßen.

»Die Soldaten haben alle Männer mitgenommen«, fuhr die Frau fort, »bis auf die sehr jungen und die ganz alten. Die Soldaten haben gesagt, daß der Kaiser gegen Rom marschiert und noch Krieger für seine Fußtruppen braucht.« Die Frau brach in Tränen aus. »Sie haben meinen Mann und zwei meiner Söhne mitgenommen. Der Jüngere ist erst elf!«

Gerold machte ein finsteres Gesicht. Es war weit gekommen, wenn Lothar sich schon dazu herabließ, seine Schlachten von Kindern schlagen zu lassen.

»Was hat das zu bedeuten, Herr?« fragte die Frau verzweifelt. »Will der Kaiser Krieg gegen die heilige Stadt führen?«

»Ich weiß es nicht.« Bis zu diesem Augenblick war Gerold in dem Glauben gewesen, Lothar wolle Papst Sergius und die Römer durch eine Demonstration militärischer Stärke lediglich einschüchtern. Doch die Zerstörung dieses Dorfes war ein unheilvolles Vorzeichen. Wenn Lothar sich in einer so rachsüchtigen Stimmung befand, war er zu allem fähig.

»Kommt, gute Mutter«, sagte Gerold, »wir bringen Euch zur nächsten Stadt. Hier ist kein sicherer Ort für Euch und Eure Kinder.«

|389|Die Frau schüttelte heftig den Kopf. »Ich gehe nicht von hier fort. Wie sollen mein Mann und meine Söhne uns finden, wenn sie heimkehren?«

Falls sie heimkehren, dachte Gerold finster, versuchte aber, sich diesen Gedanken nicht anmerken zu lassen. Er wandte sich an das junge Mädchen, das neben der Frau stand. »Sag deiner Mutter, daß sie mit uns kommen soll – zum Wohle der Kleinen.«

Das Mädchen blickte Gerold stumm an.

»Sie möchte nicht unhöflich sein, Herr«, entschuldigte sich die Mutter an des Mädchens Stelle. »Sie würde Euch antworten, wenn sie könnte; aber sie kann nicht sprechen.«

»Sie kann nicht sprechen?« Gerold war erstaunt. Das Mädchen sah gesund aus, und es waren keinerlei Anzeichen für eine Geistesschwäche zu erkennen.

»Man hat ihr die Zunge herausgeschnitten.«

»Großer Gott!« Das Abschneiden der Zunge war die übliche Strafe für Diebe und andere Schurken, die nicht schnell genug waren, sich dem Zugriff der harten Gesetze zu entziehen. Aber dieses unschuldige junge Mädchen hatte sich bestimmt keines schweren Verbrechens schuldig gemacht. »Wer hat das getan?« fragt er. »Doch nicht etwa …«

Die Frau nickte voller Erbitterung. »Lothars Soldaten haben ihr Gewalt angetan. Dann haben sie ihr die Zunge herausgeschnitten, damit sie die Männer dieses Verbrechens nicht anklagen konnte.«

Gerold schüttelte fassungslos den Kopf. Derartige Greueltaten konnte man von den heidnischen Normannen erwarten oder von den Sarazenen – aber doch nicht von den Soldaten des Kaisers, den Verteidigern christlichen Rechts und Gesetzes!

Mit barscher Stimme erteilte Gerold Befehle. Seine Männer gingen zu den Wagen, nahmen einen Sack Zwieback sowie ein Fäßchen Wein herunter und legten beides vor der kleinen Familie auf die Straße.

»Gott segne Euch«, sagte die Frau des Müllers gerührt.

»Und Euch, gute Mutter«, erwiderte Gerold.

 

Die Männer kamen durch weitere niedergebrannte und verlassene Siedlungen entlang des Weges. Lothar hatte eine Fährte aus Blut, Leid und Zerstörung durch das Land gezogen.

|390|Fidelis adiutor. Als fidelis, der dem Kaiser Gefolgstreue geschworen hatte, war Gerold durch seinen Eid daran gebunden, Lothar ehrenvoll zu dienen. Doch worin lag die Ehre, Diener eines solchen Kaisers zu sein? So, wie Lothar das Gesetz und die Menschenwürde mit Füßen trat, war es gewiß kein Treuebruch, sich von seinen Verpflichtungen loszusagen.

Gerold beschloß, seine Nachhuteinheit der kaiserlichen Armee bis nach Rom zu führen, so, wie er es versprochen hatte. Anschließend aber wollte er dem Tyrannen Lothar seinen Dienst für immer aufkündigen.

 

Hinter Napi wurde die Reise zunehmend beschwerlicher. Die gut befestigte Straße verwandelte sich in einen schmalen, verwahrlosten Pfad, der von tückischen Spalten und Rinnen durchzogen war. Der Pflastersteinbelag aus der antiken Römerzeit war verschwunden; die meisten der uralten Steine waren aus dem Boden gerissen und davongekarrt worden, um sie für den Bau von Häusern zu verwenden, denn so gutes und festes Baumaterial war in diesen finsteren Zeiten eine Seltenheit. In der dunklen Erde las Gerold die Spuren, die Lothars Heer hinterlassen hatte; der Boden war von den unzähligen Hufen, Wagenrädern und Stiefeln tief aufgewühlt. Gerold und seine Männer mußten mit den Pferden besonders vorsichtig sein, denn schon ein unglücklicher Schritt genügte, und eins der Reittiere lahmte oder brach sich gar ein Bein. Während der Nacht verwandelten schwere Regenfälle die Straße in einen unpassierbaren, riesigen See aus Schlamm. Gerold beschloß, über das offene Land weiterzuziehen, statt einen nochmaligen Halt zu befehlen, und sich in Richtung Via Palestrina zu wenden, die ihn und seine Männer durch das östliche Tor von Sankt Johannes nach Rom hineinführen würde.

Sie ritten in zügigem Tempo über erblühende, duftige Wiesen voller Enzian und durch Wälder, an denen bereits die goldgrünen Blätter des Frühlings sprießten. Als die Männer aus einem ausgedehnten Stück Heideland hervorkamen, das mit dichtem Gesträuch bewachsen war, stießen sie auf eine Reitergruppe, die einen schweren Wagen eskortierte, der von vier kräftigen Zugpferden gezogen wurde.

»Ich grüße Euch«, sagte Gerold zu dem Mann, der den Zug zu führen schien, ein dunkelhäutiger Bursche mit schmalen, |391|verschwollenen Augen.»Könnt Ihr uns sagen, ob wir auf dem richtigen Weg zur Via Palestrina sind?«

»Das seid Ihr«, erwiderte der Mann kurz angebunden.

»Falls Ihr zur Via Flaminia unterwegs seid«, sagte Gerold, »dann laßt es Euch lieber noch einmal durch den Kopf gehen. Die Straße ist vollkommen aufgeweicht. Euer Wagen wird bis zu den Achsen einsinken, bevor Ihr auch nur zehn Meter weit gekommen seid.«

»Dorthin wollen wir nicht«, erwiderte der Mann knapp.

Seltsam, ging es Gerold durch den Kopf. Von der Straße abgesehen, befand sich in der Richtung, die diese Fremden eingeschlagen hatten, nur wildes, unbewohntes Land. »Wohin wollt Ihr denn?« fragte er.

»Ich habe Euch alles gesagt, was Ihr wissen müßt«, antwortete der Fremde schroff und trieb sein Pferd voran.»Reitet weiter, und laßt einen ehrbaren Händler in Ruhe seinen Geschäften nachgehen.«

Kein gewöhnlicher Händler würde einen adeligen Herrn dermaßen hochmütig behandeln. Gerold wurde mißtrauisch.

»Womit handelt Ihr denn?« Er ritt zum Wagen. »Vielleicht könnte ich etwas gebrauchen, und …«

»Finger weg!« brüllte der Mann.

Doch Gerold schlug bereits die Plane zurück, so daß die Ladung des Wagens zum Vorschein kam: ein Dutzend bronzener Truhen mit schweren Eisenschlössern daran. Und jede Truhe trug unübersehbar das päpstliche Wappen.

Die Männer des Papstes, dachte Gerold bei sich. Man muß sie aus der Stadt geschickt haben, um den päpstlichen Schatz vor Lothar in Sicherheit zu bringen.

Gerold spielte mit dem Gedanken, den Schatz zu übernehmen und ihn Lothar zu bringen. Dann aber sagte er sich: Nein. Sollen die Römer soviel an Schätzen fortschaffen, wie sie nur können. Papst Sergius hatte gewiß eine bessere Verwendung für das Geld als Lothar, der es nur dazu benutzen würde, noch brutalere und blutigere Feldzüge zu führen.

Gerold wollte seinen Männern gerade den Befehl zum Weiterritt erteilen, als einer der Römer vom Pferd sprang und sich flehend zu Boden warf. »Gnade, Herr!« rief er. »Verschont uns! Wenn wir mit der Last eines so schweren Verbrechens auf der Seele sterben, ist uns die ewige Verdammnis gewiß!«

»Verbrechen?« fragte Gerold.

|392|»Halt dein Maul, du Narr!« Der Führer des Wagenzuges wollte sein Pferd anspornen und den Mann von den Hufen des Tieres zertrampeln lassen, doch Gerold hielt ihn mit gezücktem Schwert zurück. Auch seine Männer zogen die Waffen und umringten die kleine Gruppe von Römern, die klugerweise die Hände von den Schwertern ließen, als sie erkannten, wie hoffnungslos unterlegen sie waren.

»Ihm dort müßt Ihr die Schuld geben!« Der Mann, der sich zu Boden geworfen hatte, zeigte zornig auf den Anführer. »Es war Benedikts Idee, das Geld zu stehlen, nicht unsere!«

Das Geld stehlen?

Der Mann, der angeblich Benedikt hieß, wandte sich beschwichtigend an Gerold. »Ich habe keinen Streit mit Euch, Herr, und der nichtige kleine Hader zwischen mir und meinen Leuten interessiert Euch gewiß nicht. Laßt uns in Frieden weiterziehen, und nehmt Euch als Zeichen unserer Dankbarkeit eine der Truhen.« Er lächelte Gerold verschwörerisch zu. »Es ist genug Gold darin, Euch zu einem reichen Mann zu machen.«

Das Angebot – wie auch die Art und Weise, in der es unterbreitet worden war – ließ alle Zweifel schwinden. »Fesselt den Kerl«, befahl Gerold. »Und die anderen. Wir werden die Männer und diese Truhen mit nach Rom nehmen.«

 

Der Große Saal im Patriarchum erstrahlte im Licht von hundert Fackeln. Eine Phalanx von Dienern stand hinter dem riesigen Tisch, an dem Papst Sergius saß, flankiert von den hohen Würdenträgern der Stadt: Die Diakone aus den sieben Stadtteilen Roms saßen zu seiner Rechten; ihre weltlichen Gegenstücke, die sieben defensores, zu seiner Linken. Im rechten Winkel zum Tisch des Papstes stand ein zweiter, ebenso groß und schwer, an dem der Kaiser und sein Gefolge die Ehrenplätze eingenommen hatten. Der Rest der Gesellschaft, insgesamt etwa zweihundert Männer, saß auf harten Holzbänken an langen Tischen in der Mitte des Großen Saales. Das Mahl war bereits aufgetragen, und die Tische bogen sich unter der Last der köstlichen Speisen.

Da es weder ein Samstag noch ein Mittwoch noch sonst ein Fastentag war, bestand die Mahlzeit nicht bloß aus Brot und Fisch, sondern auch aus Fleisch und Wurst und anderen Delikatessen. Selbst für die Tafel eines Papstes war es ein opulentes |393|Mahl: Es gab Platten mit Kapaun, der in weißer Sauce schwamm und mit Granatäpfeln und anderen Süßigkeiten garniert war; Schüsseln mit zartem Wild: Hasen und Rehen, Waldschnepfen und Wachteln, das mit würzig duftender, fetter Creme übergossen war; Lachs und Langusten, in Aspik eingelegt; ganze Schweine, am Spieß geröstet und vor Fett triefend, sowie Platten mit den verschiedensten Fleischsorten: Rind und Lamm, Taube und Gans. Mitten auf Lothars Tisch war ein gekochter Schwan so hergerichtet, daß er den Eindruck erweckte, er würde noch leben; sein Schnabel war vergoldet, und der versilberte Körper ruhte auf einem Bett aus Gemüse, das so kunstvoll arrangiert war, daß es wie die wogende Oberfläche eines Sees aussah.

An einem der Tische in der Mitte des Saales saß Johanna und ließ sorgenvolle Blicke über die Köstlichkeiten schweifen, die Sergius leicht dazu verleiten konnten, wieder in gefährliche Völlerei zu verfallen.

»Einen Trinkspruch!« Der Graf von Macon erhob sich von seinem Platz neben Lothar und reckte seinen Weinbecher in die Höhe. »Auf den Frieden und die Freundschaft zwischen unseren beiden christlichen Völkern!«

»Friede und Freundschaft!« riefen alle Versammelten im Chor und leerten ihre Becher. Sofort eilten Diener herbei, um sie nachzufüllen.

Eine Vielzahl weiterer Trinksprüche folgte; dann wurde das Festmahl eröffnet.

Entsetzt beobachtete Johanna, daß Sergius wieder mit hemmungsloser Hingabe aß und trank. Bald traten ihm die Augen aus den Höhlen, die Zunge wurde ihm schwer, und seine Haut nahm eine unheilverkündende dunkle Farbe an. Johanna erkannte, daß sie dem Papst an diesem Abend eine sehr starke Dosis Colchicum würde verabreichen müssen, um einem neuerlichen schweren Gichtanfall vorzubeugen.

Plötzlich wurden die Türen des triclinium geöffnet, und ein Trupp päpstlicher Gardisten kam hereinmarschiert. Die Männer schlängelten sich zwischen den Tischen und der Schar der geschäftig umhereilenden Diener hindurch und näherten sich dem Tisch des Papstes. Tiefe Stille breitete sich aus, als die Gäste ihre Gespräche unterbrachen. Alle reckten die Hälse, um den Grund für diese ungewöhnliche Störung zu erfahren. Plötzlich durchlief lautes Murmeln den Saal, als die Versammelten |394|den Mann erkannten, der mit gefesselten Händen und gesenktem Blick in der Mitte der Wachtposten ging.

Benedikt.

Das fröhliche, gedunsene Gesicht Sergius’ schrumpfte wie eine angestochene Schweinsblase, als er seinen Bruder erblickte. »Du!« rief er.

Tarasius, der Kommandeur der Garde, erklärte: »Ein fränkischer Trupp hat ihn in der Campagna aufgegriffen, Heiligkeit. Er hatte den Schatz dabei.«

Auf dem Rückweg nach Rom war Benedikt reichlich Zeit geblieben, zu überlegen, was er tun sollte. Daß er versucht hatte, den Schatz zu rauben, konnte er nicht leugnen; schließlich war er auf frischer Tat ertappt worden. Und wenngleich er sich das Hirn zermartert hatte – eine plausible Erklärung für seine Tat war ihm nicht eingefallen. Schließlich war er zu der Ansicht gelangt, daß es das Beste sei, sich der Gnade seines Bruders zu unterwerfen. Sergius war ein durch und durch sanftmütiger Mensch – eine Schwäche, die Benedikt verachtete. Nun aber hoffte er, sie zu seinem Vorteil nutzen zu können.

Er ließ sich auf die Knie fallen und streckte dem Bruder in einer flehenden Geste die gefesselten Hände entgegen. »Vergib mir, Sergius. Ich habe gesündigt, und ich bereue aufrichtig und demütig meine Untat.«

Doch Benedikt hatte nicht einkalkuliert, welche Wirkung der Wein auf den Charakter seines Bruders hatte. Sergius’ Gesicht lief dunkelrot an, als er von einem unerwarteten Zornesausbruch gepackt wurde. »Verräter!« rief er. »Gauner! Dieb!« Er untermalte jedes Wort mit einem donnernden Faustschlag auf die Tischplatte, so daß die Teller und Becher tanzten und klirrten.

Benedikt erbleichte. »Bruder, ich flehe dich an …« »Schafft ihn mir aus den Augen!« befahl Sergius.

»Wohin sollen wir ihn bringen, Heiligkeit?« fragte Tarasius.

Sergius drehte sich der Kopf; es fiel ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Er wußte nur, daß man ihn verraten hatte, und er wollte zurückschlagen, um zu verletzen, so, wie man ihn verletzt hatte. »Er ist ein Dieb!« sagte er voller Bitterkeit. »Also soll er auch wie ein Dieb bestraft werden!«

»Nein!« brüllte Benedikt, als die Wächter ihn packten. »Sergius! Bruder!« Das letzte Worte hallte noch immer nach, als er aus dem Saal gezerrt wurde.

Plötzlich verlor Sergius’ Gesicht alle Farbe, und er fiel |395|schwer in den Stuhl. Er verdrehte die Augen; sein Kopf ruckte nach hinten, und seine Arme und Beine begannen unkontrolliert zu zittern.

»Es ist der böse Blick!« rief jemand. »Benedikt hat ihn verhext!« Die anderen Gäste schrien vor Entsetzen auf und bekreuzigten sich zum Schutz gegen die boshaften Umtriebe des Teufels.

Johanna rannte zwischen den vollbesetzten Tischen und den schreckensstarren Dienern hindurch, bis sie an Sergius’ Seite gelangte. Sein Gesicht lief blau an. Johanna packte seinen Kopf und zerrte seine zusammengepreßten Kiefer auseinander. Die schlaffe Zunge war Sergius nach hinten in den Rachen gefallen und verstopfte die Luftröhre. Hastig nahm Johanna ein Messer vom Tisch, steckte Sergius das stumpfe Ende in den Mund, schob es hinter die nach innen gerollte Zunge und zog. Es gab ein saugendes Geräusch; dann löste sich die Zunge und schnellte vor. Keuchend holte Sergius Luft und begann wieder zu atmen. Johanna drückte das Messer behutsam auf die Zunge, damit die Luftröhre freiblieb. Nach kurzer Zeit ließ der Krampf nach. Sergius gab ein dumpfes Stöhnen von sich und wurde schlaff.

»Bringt ihn ins Bett«, befahl Johanna. Mehrere Diener hoben Sergius aus dem Stuhl und trugen ihn zur Tür, während die Sitzenden sich neugierig nach vorn beugten und den Weg versperrten. »Macht Platz! Macht Platz!« rief Johanna, als der besinnungslose Papst aus dem Saal getragen wurde.

 

Als sie das päpstliche Schlafgemach erreichten, war Sergius wieder bei Bewußtsein. Johanna flößte ihm Essig ein, mit schwarzem Senf vermischt, so daß er sich erbrach. Anschließend fühlte er sich erheblich besser. Johanna gab ihm sicherheitshalber eine starke Dosis Colchicum, das sie mit Mohnsaft vermischte, so daß er in einen tiefen Schlaf fiel.

»Er wird bis morgen schlafen«, sagte sie zu Arighis.

Der Haushofmeister nickte. »Ihr seht erschöpft aus.«

»Ich bin ziemlich erschöpft«, gab Johanna zu. Es war ein langer Tag gewesen, und sie hatte sich immer noch nicht von den zwei Wochen Kerkerhaft erholt.

»Ennodius und die anderen Mitglieder der ärztlichen Gesellschaft warten draußen. Sie möchten Euch wegen des erneuten Zusammenbruchs seiner Heiligkeit befragen.«

|396|Johanna seufzte. Sie fühlte sich der Aufgabe, einen Hagel feindseliger Fragen abwehren zu müssen, nicht gewachsen, doch es ließ sich offenbar nicht vermeiden. Mit schweren Schritten ging sie zur Tür.

»Einen Augenblick.« Arighis winkte sie zu sich. Er ging auf die andere Seite des Zimmers und hob einen der Bildteppiche an; dann drückte er auf die hölzerne Wand darunter. Sie glitt zur Seite, und eine Öffnung von etwa einem Meter Breite kam zum Vorschein.

»Was, um alles in der Welt, ist das?« stieß Johanna verwundert hervor.

»Ein Geheimgang«, erklärte Arighis. »Zu Zeiten der heidnischen Kaiser erbaut – für den Fall, daß sie rasch vor ihren Feinden fliehen mußten. Jetzt verbindet dieser Gang das päpstliche Schlafgemach mit der Privatkapelle. So kann Seine Heiligkeit Tag und Nacht dorthin gehen und ungestört beten. Folgt mir.« Arighis nahm eine Kerze und betrat den Geheimgang. »Auf diese Weise könnt Ihr dem Rudel Schakale dort draußen entrinnen … zumindest heute abend.«

Es rührte Johanna, daß Arighis sie in das Geheimnis dieses Ganges einweihte; es war ein Zeichen wachsenden Vertrauens und zunehmender gegenseitiger Achtung. Die beiden stiegen eine kurze Treppe hinunter, die spiralförmig und steil in die Tiefe führte und vor einer Wand endete, an der sich ein Hebel aus Holz befand. Arighis betätigte diesen Hebel, und wieder glitt die Wand zur Seite, und ein weiterer Gang tat sich vor ihnen auf. Johanna schlüpfte hinein, und noch einmal drückte Arighis den Hebel. Die Öffnung verschwand; nichts ließ erkennen, daß hinter dieser Wand der Geheimgang lag.

Johanna befand sich nun im rückwärtigen Teil der Privatkapelle des Papstes, der Sancta Sanctorum. Sie stand hinter einer der marmornen Säulen. In der Nähe des Altars waren Stimmen zu hören. Johanna erschrak. Wer hielt sich zu dieser Stunde in der päpstlichen Privatkapelle auf?

»Es ist lange her, Anastasius«, sagte eine schroffe Stimme mit schwerem Akzent, die Johanna als die Lothars erkannte. Anastasius, hatte der Kaiser die andere Person angesprochen; es mußte sich um den Bischof von Castellum handeln. Bischof und Kaiser hatten sich offensichtlich vom Festmahl zurückgezogen, um hier, in der Privatkapelle, ungestört reden zu können. |397|Es würde ihnen ganz und gar nicht gefallen, wenn sie den Eindringling entdeckten.

Was soll ich tun? fragte sich Johanna. Falls sie versuchte, leise durch die Tür der Kapelle zu schlüpfen, bestand die Gefahr, von den Männern gesehen zu werden. Doch der Weg zurück in die Schlafkammer des Papstes war ihr ebenfalls versperrt; denn der Hebel, mit dem die Geheimtür betätigt wurde, befand sich auf der anderen Seite der Wand. Es blieb nur die Möglichkeit, sich versteckt zu halten, bis das Treffen endete und die Männer die Kapelle verließen. Anschließend konnte Johanna unbemerkt ins Freie schlüpfen.

»Dieser Anfall, den Seine Heiligkeit heute abend erlitten hat, war höchst besorgniserregend«, sagte Lothar soeben.

»Der Heilige Vater ist sehr krank«, erwiderte Anastasius. »Kann sein, daß er dieses Jahr nicht überlebt.«

»Das wäre eine schlimme Tragödie für die Kirche.«

»Sehr schlimm«, entgegnete Anastasius kühl.

Dieser Austausch waren leere Höflichkeiten, die nur dazu dienen sollten, den Weg zu den wirklich bedeutsamen Angelegenheiten zu ebnen, die diese beiden Männer besprechen wollten.

»Sergius’ Nachfolger muß ein Mann mit Stärke und Weitsicht sein«, sagte Lothar, »ein Mann, der das historisch gewachsene … Verständnis zwischen unseren beiden Völkern besser zu schätzen weiß.«

»So ist es. Ihr müßt all Euren Einfluß geltend machen, Euer Gnaden, daß der nächste Papst ein solcher Mann ist.«

»Ein Mann wie Ihr?«

Anastasius lächelte. »Hättet Ihr Grund, an mir zu zweifeln? Ich finde, die Dienste, die ich Euch in Colmar geleistet habe, dürften meine Loyalität hinreichend bewiesen haben.«

»Mag sein«, erwiderte Lothar unverbindlich. »Aber die Zeiten ändern sich, und die Menschen auch. Zuerst einmal, mein lieber Bischof, muß Eure Loyalität noch einmal auf die Probe gestellt werden. – Werdet Ihr den Treueid unterstützen oder nicht?«

»In Anbetracht der Verwüstungen, die Eure Armeen auf dem Weg nach Rom angerichtet haben, Euer Gnaden, werden die Leute sich sträuben, Euch den Treueid zu schwören.«

»Eure Familie hat die Macht, dies zu ändern«, entgegnete Lothar. »Wenn Ihr und Euer Vater Arsenius den Treueid ablegen, werden andere Euch folgen.«

|398|»Ihr verlangt sehr viel von mir. In diesem Fall müßte ich eine entsprechende Gegenleistung verlangen.«

»Ich weiß.«

»Ein Eid … das sind bloß Worte. Die Menschen brauchen einen Papst, der sie davon überzeugen kann, daß die alten Zeiten die besseren Zeiten waren. Er müßte sie dorthin zurückführen … zurück ins fränkische Kaiserreich und zurück zu Euch, Euer Gnaden.«

»Ich wüßte niemanden, der das besser könnte als Ihr, Anastasius. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, daß Ihr der nächste Papst werdet.«

Eine Pause trat ein. Dann sagte Anastasius: »Die Leute werden Euch den Treueid leisten, Euer Gnaden. Ich werde dafür sorgen.«

Johanna spürte, wie eine Woge der Furcht in ihr aufstieg. Lothar und Anastasius hatten soeben einen regelrechten Kuhhandel über das Papstamt abgeschlossen, so, wie zwei Händler auf dem Viehmarkt. Als Gegenleistung für die Privilegien der Macht hatte Anastasius sich einverstanden erklärt, die Römer der Kontrolle durch den fränkischen Kaiser auszuliefern.

Jemand klopfte an die Tür, und der Diener Lothars kam in die Kapelle.

»Der Markgraf ist soeben eingetroffen, Euer Gnaden.«

»Führe ihn her. Der Bischof und ich haben unsere … Probleme bereinigt.«

Ein Mann trat ein, in die brunia eines Soldaten gekleidet. Er war hochgewachsen und sah blendend aus; sein langes Haar war rot, und seine Augen strahlten indigoblau.

Gerold.