|125|8.

Im Klassenzimmer – einem kleinen Raum mit steinernen Wänden, der an die Dombibliothek angrenzte – blieb es selbst an diesem warmen Frühlingsnachmittag kühl und feucht. Johanna liebte diese Kühle und den kräftigen Geruch nach Pergament, der schwer in der Luft lag: Es war eine Verlockung, die riesigen Bestände an Büchern zu erforschen, die sich gleich hinter der nächsten Tür befanden.

Ein großes Gemälde bedeckte die vordere Wand des Klassenzimmers. Es war das Bild einer Frau, die in weite, wallende Gewänder gekleidet war, wie die Griechen sie trugen. In der linken Hand hielt die Frau eine Schere, in der rechten eine Peitsche. Die Frau war das Sinnbild des Wissens; ihre Schere sollte alle Irrlehren und falschen Glaubenssätze abschneiden, und ihre Peitsche diente zur Ermahnung fauler Schüler und sollte sie zu fleißigem Lernen anhalten. Die Augenbrauen der Frau standen dicht beieinander, und ihre Mundwinkel waren nach unten gebogen, was ihrem Gesicht einen strengen Ausdruck verlieh. Die dunklen Augen starrten von der Wand herunter und schienen den Betrachter direkt anzuschauen – mit einem unnachgiebigen, herrischen Blick. Odo hatte das Gemälde in Auftrag gegeben, kurz nachdem er seine Stelle als Lehrer an der Domschule angetreten hatte.

Bos mugit, equus hinnit, asinus rudit, elefans barrit …

Auf der linken Seite des Klassenzimmers trugen die weniger fortgeschrittenen Schüler diesen Vers in monotonem Sprechgesang vor, um die einfachen Verbformen zu üben.

Kühe muhen, Pferde wiehern, Esel schreien, Elefanten brüllen …

Odo bewegte rhythmisch die Hände auf und ab und gab auf diese Weise den Takt des Sprechgesangs an. Derweil schweifte sein geübter Blick durchs Klassenzimmer und überwachte die Arbeit seiner anderen Schüler.

Ludovic und Ebbo kauerten dicht beieinander über einem |126|der Psalmen. Sie sollten ihn auswendig lernen, doch die Neigung ihrer Köpfe ließ erkennen, daß sie sich unterhielten, statt sich mit ihrer Aufgabe zu beschäftigen. Ohne daß seine rechte Hand beim Dirigieren des Sprechgesangs auch nur einen Takt ausließ, hieb Odo den beiden Jungen mit einem langen Schlagstock kräftig auf die Hinterköpfe. Sie schrien auf, beugten sich wieder über ihre Pulte und saßen da wie Sinnbilder der Arbeitsamkeit.

Johannes saß an einem Pult in der Nähe und beschäftigte sich mit einem alphabetischen Verzeichnis. Er hatte sichtlich große Schwierigkeiten. Er las langsam, formte mit peinlicher Genauigkeit jeden Vokal und Konsonanten mit den Lippen und hielt oft inne, um sich verwirrt am Kopf zu kratzen, wenn er auf irgendein unbekanntes Wortmuster gestoßen war.

Auch Johanna, die von den anderen Schülern getrennt saß – die Jungen wollten nichts mit ihr zu tun haben –, befaßte sich eingehend mit der Aufgabe, die Odo ihr gestellt hatte, und versah ein Werk über das Lebens des heiligen Antonius mit Kommentaren. Sie arbeitet rasch und präzise; ihre Schreibfeder wanderte voller Sicherheit und Genauigkeit über das Pergament. Die Konzentration des Mädchens war vollkommen.

Odo sagte kurz angebunden: »Das reicht für heute. Diese Gruppe …«, er zeigte auf die Novizen, »kann gehen. Die anderen bleiben auf ihren Plätzen, bis ich mir ihre Arbeiten angeschaut habe.«

Aufgeregt erhoben sich die Novizen und verließen das Klassenzimmer so schnell, wie die Schicklichkeit es gerade noch erlaubte. Die anderen Schüler legten ihre Griffel und Schreibfedern nieder und schauten Odo erwartungsvoll an. Alle waren darauf bedacht, so rasch wie möglich nach draußen in den warmen Frühlingsnachmittag entlassen zu werden.

Johanna blieb am Schreibpult sitzen, über ihre Arbeit gebeugt.

Odo runzelte die Stirn. Der Eifer des Mädchens hatte ihn zugegebenermaßen in Erstaunen versetzt. Wieder einmal zuckte seine Hand instinktiv zur Rute; doch bislang hatte Johanna ihm keinen Anlaß gegeben, ihr eine Tracht Prügel zu verpassen. Sie schien tatsächlich lernen zu wollen.

Odo ging zu Johannas Schreibpult und trat demonstrativ dicht an sie heran. Jetzt erst hielt Johanna in ihrer Arbeit inne |127|und hob den Kopf. Auf ihrem Gesicht spiegelten sich Verblüffung und – war das möglich? – Enttäuschung.

»Habt Ihr mich aufgerufen, Herr? Dann bitte ich um Entschuldigung. Ich war so sehr in meine Arbeit vertieft, daß ich Euch nicht gehört habe«, sagte Johanna höflich.

Sie spielt ihre Rolle gut, ging es Odo durch den Kopf. Aber ich lasse mich nicht täuschen. O ja, sie tat so, als hätte sie Achtung und Respekt vor ihm, wann immer er sie anredete; doch Odo konnte die Wahrheit in ihren Augen lesen: In ihrem Innern verspottete sie ihn und machte sich über ihn lustig. Das durfte er nicht hinnehmen!

Er beugte sich vor und schaute sich Johannas Arbeit an, wobei er schweigend die pergamentenen Seiten durchblätterte.

»Deine Hand«, sagte er, »ist noch nicht sicher genug. Hier … und hier …«, er tippte mit seinem langen weißen Zeigefinger auf das Pergament, »… und hier hast du deine Buchstaben nicht rund genug geschrieben. Welche Erklärung hast du für eine so schlampige Arbeit, Kind?«

Schlampige Arbeit! Johanna war empört. Sie hatte soeben zehn Seiten Text mit Kommentaren versehen – weitaus mehr, als jeder andere Schüler es in der doppelten Zeit vermocht hätte. Zudem waren ihre Anmerkungen sauber geschrieben und vollständig – selbst Odo versuchte gar nicht erst, dies zu bestreiten. Johanna hatte das Aufblitzen in seinen Augen gesehen, als er einen Absatz überflogen und den stilsicheren und eleganten Gebrauch des Konjunktivs bemerkt hatte.

»Was ist?« drängte Odo. Er wollte den Widerstand dieses Mädchens herausfordern, wollte erreichen, daß sie ihm eine schroffe Antwort gab. Diese überhebliche, widernatürliche Kreatur. Odo wußte, daß dieses Mädchen die Absicht hatte, die gottgewollte Ordnung des Universums zu verletzen, indem es die rechtmäßige Autorität des Mannes gegenüber dem Weib zu untergraben versuchte. Nun mach schon, drängte er Johanna in Gedanken. Sag, was du denkst.

Denn falls sie das tat, hatte Odo sie dort, wo er sie haben wollte …

Johanna bemühte sich, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten. Sie wußte, was Odo vorhatte. Doch wie sehr er sie auch reizen mochte, sie würde ihm nicht in die Falle gehen. Sie würde ihm nicht den Gefallen tun und ihm einen Grund liefern, sie von der Domschule zu verweisen. Mit ausdrucksloser |128|Stimme erwiderte Johanna: »Ich habe keine Entschuldigung, Herr.«

»Sehr schön«, sagte Odo. »Zur Strafe für deine Gleichgültigkeit wirst du aus dem ersten Brief an Timotheus den Abschnitt zwei, Verse elf bis vierzehn, fünfundzwanzigmal in schöner Handschrift niederschreiben, bevor du das Klassenzimmer verläßt.«

Heißer Zorn loderte in Johannas Innerem auf. Dieser widerliche, kleingeistige Mann! Wenn sie ihm doch nur ins Gesicht sagen könnte, was sie von ihm dachte.

»Ja, Herr.« Johanna hielt den Blick gesenkt, so daß Odo ihre Gedanken nicht lesen konnte.

Odo war enttäuscht. Na ja, sagte er sich. Auf Dauer wird dieses Mädchen das nicht durchhalten. Ihr Stolz und ihre Gefühle konnten nicht bis ins Unendliche verletzt werden. Früher oder später – und bei diesem Gedanken mußte er lächeln – würde sie ihrem Zorn nachgeben. Und dann war der Augenblick seines Triumphs gekommen.

Er ließ Johanna an ihrem Pult sitzen und wandte sich der Überprüfung seiner anderen Schüler zu.

Johanna seufzte und nahm die Schreibfeder auf. Erster Brief an Timotheus, Abschnitt zwei, Verse elf bis vierzehn. Johanna kannte die Textstelle ziemlich gut; es war nicht das erste Mal, daß Odo diese Strafe verhängte. Es handelte sich um Zitate des heiligen Paulus: »Eine Frau soll sich still und in aller Unterordnung belehren lassen. Daß eine Frau lehrt, erlaube ich nicht, auch nicht, daß sie über ihren Mann herrscht; sie soll sich still verhalten. Denn zuerst wurde Adam erschaffen und danach Eva. Und nicht Adam wurde verführt, sondern die Frau ließ sich verführen und übertrat das Gebot.«

 

Johanna war mit mehr als der Hälfte ihrer Strafarbeit fertig, als sie zum erstenmal spürte, daß irgend etwas nicht stimmte. Sie blickte auf. Odo war verschwunden. Die Jungen standen dicht beisammen an der Tür und unterhielten sich. Das war seltsam. Normalerweise stürmten sie aus dem Klassenzimmer, sobald der Unterricht zu Ende war. Johanna beobachtete die Jungen wachsam. Johannes stand am Rande der kleinen Gruppe und hörte den anderen zu. Ihre Blicke trafen sich, und Johannes lächelte und winkte seiner Schwester.

Sie erwiderte das Lächeln und wandte sich wieder der Arbeit |129|zu. Doch das kaum merkliche Prickeln einer düsteren Vorahnung durchrieselte sie, so daß die Härchen in ihrem Nacken sich aufstellten. Hatten die Jungen irgend etwas vor? Oft quälten sie Johanna oder machten sich über sie lustig – natürlich unternahm Odo nichts dagegen –, und wenngleich Johanna sich an die Ablehnung und die oft bösen Streiche gewöhnt hatte, fürchtete sie sich noch immer davor.

Hastig schrieb sie die letzten Zeilen und stand auf, um das Klassenzimmer zu verlassen. Die Jungen standen immer noch an der Tür. Johanna wußte, daß sie auf ihr Opfer warteten. Entschlossen reckte sie das Kinn vor. Egal, was die Jungen mit ihr vorhaben mochten – sie würde es über sich ergehen lassen und dann schnellstmöglich durch die Tür hinaus flüchten.

Johanna nahm ihren Umhang vom hölzernen Haken in der Nähe der Tür, wobei sie die Jungen geflissentlich nicht beachtete. Dann streifte sie sich den Umhang über, befestigte ihn sorgfältig am Hals, wandte sich zur Tür und zog sich die Kapuze über.

Im selben Augenblick spürte sie irgend etwas Schweres, Nasses auf dem Kopf. Sofort zerrte sie an der Kapuze und wollte sie abstreifen, doch sie saß fest. Die klebrige Nässe lief ihr langsam den Kopf hinunter. Johanna hob die Hände und betastete die zähe Masse, betrachtete ihre Finger und sah, daß sie mit einer dicken, schleimigen Substanz überzogen waren. Gummiarabikum. Ein in Unterrichtszimmern und klösterlichen Scriptorien häufig benutztes Material, das man mit Essig und Holzkohle vermischte, um Tinte daraus herzustellen. Johanna wischte die Hand an ihrem Umhang ab, doch das Gummiarabikum klebte so fest, daß sie die Finger nicht mehr vom Stoff lösen konnte. Verzweifelt zerrte sie wieder mit der freien Hand an der Kapuze und schrie auf, als sie schmerzhaft an den Haarwurzeln riß.

Ihr Schrei rief eine Lachsalve bei den Jungen hervor. Mit schnellen Schritten ging Johanna zur Tür. Die Gruppe teilte sich, als sie näher kam, und die Jungen bildeten zu beiden Seiten eine Reihe.

»Lusus naturae!« verspotteten sie das Mädchen. »Laune der Natur!«

In der Mitte einer der beiden Reihen sah Johanna ihren Bruder. Er lachte mit den anderen und rief ihr ebenfalls Schmähungen und Beleidigungen zu. Ihre Blicke trafen sich; Johannes errötete und schaute weg.

|130|Unbeirrt ging Johanna weiter. Zu spät sah sie den Blitz aus blauem Stoff, der über den Fußboden zuckte. Sie stolperte, stürzte unbeholfen und fiel schwer auf die Seite.

Johannes, durchfuhr es sie. Er hat mir ein Bein gestellt.

Sie rappelte sich auf und stöhnte, als ein glühender Schmerz durch ihre rechte Körperseite jagte. Der eklige Schleim, der unter ihrer Kapuze hervorquoll, strömte ihr übers Gesicht. Sie riß die Hände los und versuchte zu verhindern, daß der Gummi ihr in die Augen lief, doch es war vergeblich. Die Masse kroch langsam über die Augenbrauen auf ihre Lider, verklebte die Wimpern und blendete das Mädchen beinahe.

Lachend drangen die Jungen auf sie ein, schubsten sie hin und her und versuchten, sie noch einmal zu Fall zu bringen. Johanna hörte die Stimme ihres Bruders aus denen der anderen heraus; er schlug auf sie ein, rief ihr Schimpfworte zu. Durch den dicken trüben Film, der Johannas Augen bedeckte, drehte das Klassenzimmer sich schwindelerregend um sie herum, in Mustern aus Licht und Farbe, die sich ständig veränderten. Johanna konnte nicht einmal mehr die Tür ausmachen.

Sie spürte, wie ihr die Tränen kamen.

O nein! dachte sie entschlossen. Genau darauf legten die Jungen es an – sie wollten Johanna am Boden sehen, weinend und um Gnade winselnd; sie wollten erleben, wie sie Schwäche zeigte, damit sie sich über die weibische Feigheit eines kleines Mädchens lustig machen konnten.

Da können sie lange warten. Den Gefallen werde ich ihnen nicht tun.

Schwankend hielt Johanna sich auf den Beinen und wehrte sich gegen die Tränen. Doch diese Demonstration von Selbstbeherrschung und tapferem Widerstandswillen stachelte die Jungen nur noch mehr an, und ihre Schläge wurden härter. Der größte der Jungen hämmerte Johanna mit aller Kraft die Fäuste in den Nacken. Der Hieb ließ sie taumeln, und verzweifelt kämpfte sie darum, das Gleichgewicht zu halten.

Dann, plötzlich, rief eine Männerstimme irgend etwas aus der Ferne. Kam Odo doch noch, um diesem grausamen Spiel ein Ende zu machen?

»Was geht hier vor?«

Diesmal erkannte Johanna, wer es war. Gerold. In seiner Stimme lag ein Beiklang, wie Johanna ihn nie zuvor gehört |131|hatte. Die Jungen ließen so plötzlich von ihr ab, daß sie beinahe wieder gestürzt wäre.

Dann lag Gerolds Arm auf ihrer Schulter und hielt sie fest. Dankbar lehnte Johanna sich an ihn.

»Bernhar«, wandte Gerold sich an den größten Jungen, der Johanna die Fäuste in den Nacken geschlagen hatte. »Habe ich nicht erst letzte Woche beobachtet, wie du bei den Waffenübungen versucht hast, aus der Reichweite von Erics Schwert zu bleiben? So ängstlich und verzweifelt, daß du keinen einzigen Hieb führen konntest? Aber wie ich sehe, hast du wenigstens keine derartigen Schwierigkeiten, wenn ein wehrloses Mädchen dein Gegner ist.«

Bernhar stammelte eine Erklärung, doch Gerold schnitt ihm das Wort ab.

»Was du sagen möchtest, kannst du Seiner Eminenz, dem Bischof, sagen. Er wird nach dir schicken lassen, sobald er von dieser Sache hier erfährt. Und das wird er – noch heute.«

Die Stille, die sich daraufhin ausbreitete, war vollkommen. Gerold hob Johanna auf. Trotz ihrer Benommenheit spürte sie mit leiser Verwunderung die gewaltige Kraft seiner Arme und seiner Schultern. Er war so hochgewachsen und schlank, daß sie ihm eine solche Kraft gar nicht zugetraut hätte. Sie neigte den Kopf zur Seite, so daß die widerliche, schleimige Masse, die ihr Gesicht bedeckte, Gerolds Umhang nicht besudelte.

Auf halbem Weg zu seinem Pferd wandte Gerold sich noch einmal zu den Jungen um. »Ach ja, noch etwas. Was ich gesehen habe, Freunde, genügt mir, um zu erkennen, daß dieses Mädchen tapferer ist als ihr alle zusammen. Und klüger noch dazu.«

Wieder spürte Johanna, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Bis auf Aeskulapius hatte sich niemand so für sie eingesetzt und so nette Dinge über sie gesagt.

Gerold war … anders.

Die Knospe einer Rose wächst im Dunkeln. Sie weiß nichts von der Sonne, doch sie reckt sich furchtlos in die Finsternis, die sie umgibt, bis die Hülle schließlich birst, bis die Rose erblüht und ihre Blätter im Licht entfaltet.

Ich liebe ihn.

Der Gedanke kam plötzlich und war gleichermaßen verwirrend wie unerwartet. Was mochte das bedeuten? Sie konnte und durfte sich nicht in Gerold verlieben. Er war ein |132|Adeliger, ein reicher und mächtiger Markgraf, und sie war bloß die Tochter eines Dorfpriesters. Er war ein erwachsener Mann von fünfundzwanzig Wintern, und Johanna wußte, daß er sie noch als Kind betrachtete, obwohl sie fast dreizehn war und bald schon eine erwachsene Frau sein würde.

Außerdem hatte Gerold eine Gattin.

Johannas Gedanken und Gefühle waren in wildem Aufruhr.

Gerold hob sie auf sein Pferd und stieg hinter ihr in den Sattel. Die Jungen standen schweigend an der Tür, nun wieder dicht beieinander, und wagten nicht zu sprechen. Johanna kuschelte sich in Gerolds Arme, spürte seine Kraft, nahm sie in sich auf.

»Und nun«, sagte Gerold, gab dem Pferd die Sporen und brachte es in einen langsamen Galopp, »werde ich dich nach Hause bringen.«