|307|18.

Die Mönche im Kloster zu Fulda blieben von den Folgen des kriegerischen Streits der königlichen Brüder weitgehend verschont. Wie ein schwerer Stein, den man in einen Teich schleudert, warf die Schlacht von Fontenoy hohe Wellen in den Machtzentren des Kaiserreiches. Doch hier, in den östlichen Grenzmarken, erregte sie nur ein leichtes Kräuseln an der Oberfläche. Natürlich hatten einige der großen Grundbesitzer dieser Region sich König Ludwigs Heer angeschlossen; nach dem Gesetz mußte jeder Freie, der mehr als vier Hufen Land besaß, dem Ruf zum Waffendienst folgen. Doch Ludwigs rascher und deutlicher Sieg hatte zur Folge, daß nur zwei Männer aus der Gegend um Fulda auf dem Schlachtfeld von Fontenoy blieben; die anderen kehrten sicher und wohlbehalten nach Hause zurück.

Die Tage zogen ins Land wie zuvor; einer nach dem anderen verging in steter Gleichförmigkeit, verwoben mit dem stillen, unveränderlichen und friedlichen Klosterleben. Mehrere aufeinanderfolgende, ertragreiche Ernten hatten Jahre des unerwarteten Überflusses zur Folge. Die Kornspeicher des Klosters waren bis zum Bersten gefüllt; selbst die mageren, sehnigen austrasischen Schweine wurden fett vom guten und reichlichen Futter.

Dann, urplötzlich, brach die Katastrophe herein. Wochenlang anhaltender Regen vernichtete die Frühjahrssaat. Der Boden war zu naß, als daß man die kleinen Furchen hätte graben können, die für das Anpflanzen erforderlich waren; das Saatgut verrottete in der Erde. Das schlimmste aber war, daß die durchdringende Feuchtigkeit auch das Getreide in den Speichern faulen ließ und die Vorräte verdarb, die man in den fetten Jahren gesammelt hatte.

Die Hungersnot im darauffolgenden Winter war die schrecklichste seit Menschengedenken. Zum Entsetzen der Kirche |308|gab es sogar Fälle von Kannibalismus. Die Straßen und Wege wurden gefährlicher als je zuvor; denn Reisende wurden nicht nur ihrer Besitztümer wegen ermordet, sondern auch wegen des Fleisches, das ihre Körper lieferten. Nach einer öffentlichen Hinrichtung in Lorsch riß der hungernde Pöbel sogar die Galgen nieder und prügelte sich um die noch warmen Leichen der Gehängten.

Vom Hunger geschwächt, wurden die Menschen zur leichten Beute von Krankheiten. Tausende fielen der Lungenpest zum Opfer. Die Symptome waren stets die gleichen; vor allem das wütende Fieber, das diese Krankheit begleitete, raffte die Menschen wie die Fliegen dahin. Für die Erkrankten konnte man nur wenig tun; man konnte ihnen allenfalls Linderung verschaffen, indem man sie entkleidete und in kalte Tücher wickelte, um die Körpertemperatur niedrig zu halten. Falls die Kranken das Fieber überstanden, hatten sie eine Chance, wieder gesund zu werden. Doch nur wenige überlebten das Fieber.

Ebensowenig vermochten die Klostermauern den Mönchen Schutz vor der Pest zu bieten. Der erste Bruder, der erkrankte, war Samuel, der hospitarius, dessen Amt häufige Kontakte zur Außenwelt mit sich brachte. Binnen zweier Tage war er tot. Abt Rabanus führte Samuels Schicksal auf seine weltliche Gesinnung und seine übertriebene Vorliebe für Scherze und Späße zurück; fleischliche Beschwerden, versicherte Rabanus, seien nichts anderes als äußerliche Manifestationen moralischen und geistigen Verfalls. Dann erkrankte Bruder Aldoardus, der von allen als die Verkörperung mönchischer Tugenden und Frömmigkeit betrachtet wurde; die nächsten waren Bruder Hildwin, der Sakristan, und mehrere andere.

Zum Erstaunen der Bruderschaft verkündete Abt Rabanus, er wolle das Kloster verlassen und eine Pilgerreise zum Grab des heiligen Martin unternehmen, um den Beistand des Märtyrers zu erbitten, die Pest von den Menschen abzuwenden.

»Prior Joseph wird mich während meiner Abwesenheit in allen Belangen vertreten«, erklärte Rabanus. »Gehorcht ihm ohne Widerspruch, denn sein Wort gilt gleich viel wie das meine.«

Rabanus’ unerwartet plötzlicher Entschluß und seine beinahe überstürzte Abreise sorgten für einige Spekulationen unter den Mönchen. Einige Brüder priesen den Abt, daß er zu |309|ihrer aller Wohl eine so beschwerliche und gefahrvolle Reise auf sich nahm. Andere tuschelten hinter vorgehaltener Hand, daß Rabanus nur deshalb so hastig abreise, um sich vor der Pest in Sicherheit zu bringen.

Johanna hatte keine Zeit, sich mit solchen Angelegenheiten zu beschäftigen. Sie war vom ersten Morgengrauen bis in den späten Abend damit beschäftigt, die Messen zu lesen, die Beichten abzunehmen und wegen der rasch um sich greifenden Krankheit immer öfter die Sterbesakramente zu erteilen.

Eines morgens fiel ihr auf, daß Bruder Benjamin bei den Vigilien nicht an seinem Platz saß. In Johanna stieg eine düstere Ahnung auf, denn Benjamin, diese fromme Seele, hatte noch nie eine der Messen verpaßt. Kaum war der Gottesdienst zu Ende, eilte Johanna ins Spital. Als sie die lange, rechteckige Krankenstation betrat, stieg ihr der stechende Geruch von Knöterich und Senf in die Nase, beides bewährte Heilmittel bei Erkrankungen der Lunge.

Das Spital war hoffnungslos überfüllt; die Betten und Pritschen, allesamt von Kranken belegt, standen Seite an Seite und ließen den Helfern kaum noch Bewegungsfreiheit. Die Brüder, die ihr opus manuum, die Handarbeit, im Spital verrichten mußten, gingen von einem Lager zum anderen, strichen die Decken glatt, boten den Kranken Wasser an und beteten leise an den Betten derjenigen, für die keine Hoffnung mehr bestand.

In einem der Betten saß Benjamin und erklärte Bruder Deodatus, einem der jüngeren Mönche, wie man ein Senfpflaster anbrachte. Als Johanna dem alten Arzt zuhörte, mußte sie an jenen längst vergangenen Tag denken, da Benjamin sie dieselbe Fertigkeit gelehrt hatte.

Johanna lächelte wehmütig, als sie sich daran erinnerte. Zugleich fiel ihr ein Stein vom Herzen. Solange Bruder Benjamin Anweisungen erteilen konnte, was die Behandlung der Kranken im Spital betraf, konnte es nicht so schlecht um ihn bestellt sein.

Ein plötzlicher Hustenanfall unterbrach den Wortschwall, mit dem Benjamin den jungen Deodatus überschüttete. Johanna eilte an das Bett des alten Mannes. Sie tauchte ein Tuch in eine Schüssel Wasser, die neben dem Krankenlager stand, und wischte damit sanft Benjamins Stirn ab. Seine Haut fühlte sich unglaublich heiß an.

|310|Benedicte! Wie konnte er mit so hohem Fieber noch so lebhaft und klar bei Verstand sein?

Schließlich endete der Hustenanfall, und Benjamin lag mit geschlossenen Augen da und atmete rasselnd. Sein ergrauender Haarkranz lag wie ein verblaßter Heiligenschein um seinen Kopf. Seine Hände – diese breiten, kräftigen Hände eines Bauern, die eine so unglaubliche Geschicklichkeit und Sanftheit besaßen – lagen jetzt so schlaff und hilflos wie die eines kleinen Kindes auf der Decke. Der Anblick gab Johanna einen Stich ins Herz.

Bruder Benjamin schlug die Augen auf, sah Johanna und lächelte.

»Du bist gekommen«, sagte er mit heiserer Stimme. »Gut. Wie du siehst, brauche ich deine Dienste.«

»Ja, gewiß«, erwiderte Johanna fröhlicher, als ihr zumute war. »Die richtige Medizin, und Ihr seid bald wieder gesund.«

Benjamin schüttelte den Kopf. »Ich brauche deine Dienste als Priester, nicht als Arzt. Du mußt mir helfen, in die andere Welt hinüberzugehen, kleiner Bruder, denn in dieser Welt ist meine Arbeit getan.«

Johanna nahm seine Hand. »Ohne Kampf werde ich Euch nicht gehen lassen.«

»Du hast alles gelernt, was ich dich lehren konnte. Jetzt mußt du auch lernen, dich ins Unabänderliche zu fügen.«

»Ich werde es nicht hinnehmen, Euch zu verlieren!« erwiderte Johanna heftig. Seit jenem Tag vor zwölf Jahren, als Benjamin sie unter seine Fittiche genommen hatte, war er ihr Freund und Mentor gewesen. Selbst als die priesterlichen Pflichten es Johanna zeitlich nicht mehr erlaubt hatten, das Spital zu besuchen, hatte Benjamin ihr weiterhin geholfen, hatte sie ermutigt und unterstützt. Er war wie ein wahrer Vater für sie gewesen.

In den nächsten zwei Tagen kämpfte Johanna entschlossen um Benjamins Leben. Sie setzte all ihr Können ein, gebrauchte all das Wissen, das der alte Arzt sie gelehrt hatte, benutzte jedes Mittel, das Hoffnung auf Heilung versprach. Doch das Fieber wütete weiter. Benjamins großer und kräftiger Körper wurde immer schwächer und schrumpfte wie die leere Hülle eines Kokons, nachdem die Motte daraus geschlüpft war. Unter der vom Fieber geröteten Haut erschien ein unheilverkündender grauer Schimmer.

|311|»Erteile mir die Absolution«, bat er Johanna. »Ich möchte bei klarem Verstand sein, wenn ich das Sakrament empfange.«

Johanna konnte es ihm nicht länger verweigern.

»Quid me advocasti?« begann sie, der Liturgie gemäß. »Was wünschst du von mir?«

»Ut mihi unctionis tradas«, erwiderte er. »Daß du mir die Letzte Ölung erteilst.«

Johanna tauchte die Spitze des Daumens in das Gemisch aus Asche und Wasser und malte damit das Kreuzzeichen auf Bruder Benjamins Brust; dann legte sie ein Stück Sackleinen – das Symbol der Buße – auf das Kreuz.

Benjamin wurde von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt. Als er vorüber war, sah Johanna, daß der alte Mann Blut gespuckt hatte. Plötzlich verängstigt, beeilte sie sich, die sieben Bußpsalmen zu sprechen und die rituelle Salbung von Augen, Ohren, Nase, Mund, Händen und Füßen zu vollziehen. Es kam ihr schrecklich lange vor. Als sie schließlich fertig war, lag Benjamin mit geschlossenen Augen und vollkommen regungslos da. Sie konnte nicht erkennen, ob er noch bei Bewußtsein war.

Schließlich kam der Augenblick, das Viatikum zu reichen, die Eucharistie bei der Letzten Ölung. Johanna hielt Benjamin die Hostie hin, doch er reagierte nicht mehr. Es ist zu spät, dachte sie verzweifelt. Ich habe versagt.

Johanna führte die Hostie an Bruder Benjamins Lippen. Zu ihrer unendlichen Erleichterung öffnete er bei der Berührung die Augen und nahm die Hostie in den Mund. Johanna schlug das Kreuzzeichen über seinem ausgemergelten Körper. Ihre Stimme schwankte, als sie das sakramentale Gebet sprach: »Corpus et sanguis Domini nostri Jesu Christi in vitam aeternam te perducat …«

 

Er starb im ersten Morgengrauen, als die lieblichen Lobgesänge der Laudes erklangen.

Johanna war zutiefst erschöpft. Von ihrer Trauer um den väterlichen Freund abgesehen, war Benjamins Tod ein großer Verlust für die Klostergemeinschaft. Niemand wußte so viel über die Heilkräfte der verschiedenen Kräuter und Pflanzen, die im Klostergarten wuchsen. Sein Tod war ein so herber Verlust, als wäre eine große Bibliothek niedergebrannt.

Da Johanna im Gebet keinen Trost fand, stürzte sie sich in die Arbeit. Die tägliche Messe, die sie las, hatte mehr Zulauf |312|als je zuvor, denn das Schreckgespenst des Todes trieb so viele Gläubige in die Kirche wie noch nie.

Eines Tages, als Johanna bei der Kommunion einen älteren Mann am Kelch nippen ließ, fielen ihr die tränenden Augen, die triefende Nase, die wunden Stellen um den Mund und die fiebrige Röte seiner Wangen auf. Sie ging zur nächsten Person in der Reihe, einer schlanken jungen Mutter, die ein süßes kleines Mädchen in den Armen hielt. Die Frau hob das Kind in die Höhe, damit es das Sakrament empfangen konnte. Das Mädchen öffnete den Mund, doch bevor seine rosigen Lippen den Kelch genau an jener Stelle berühren konnten, an der zuvor der Mund des alten Mannes gewesen war, zog Johanna den Kelch rasch fort.

Statt dessen nahm sie ein Stück Brot, tunkte es in den Wein und reichte es dem kleinen Mädchen. Verwundert schaute das Kind seine Mutter an, die ihm ermunternd zunickte; es war zwar eine Abweichung vom gewohnten kirchlichen Ritual, doch der Priester aus dem Kloster würde schon wissen, was er tat. Johanna schritt weiter die Reihe entlang und tauchte das Brot in den Wein, statt den Leuten den Becher zu reichen, bis sämtliche Gläubigen die heilige Kommunion empfangen hatten.

Sofort nach Ende der Messe ließ Prior Joseph, der Stellvertreter des Abtes, Johanna zu sich rufen. Sie war froh, daß sie Joseph und nicht Rabanus Rede und Antwort stehen mußte, denn Joseph gehörte nicht zu den Menschen, die um jeden Preis am Althergebrachten festhielten – jedenfalls dann nicht, wenn es einen triftigen Grund dafür gab, von den Traditionen abzuweichen.

»Du hast heute bei der Messe eine Änderung vorgenommen«, sagte Joseph.

»Ja, Vater.«

»Warum?« Die Frage war nicht herausfordernd oder vorwurfsvoll, nur neugierig.

Johanna erklärte es ihm.

»Ein kranker alter Mann und ein gesundes kleines Kind«, wiederholte Joseph nachdenklich. »Ein abstoßender Mißklang; da muß ich dir zustimmen.«

»Mehr als ein Mißklang«, erwiderte Johanna. »Ich könnte mir vorstellen, daß auf diese Weise die Krankheit übertragen wird.«

|313|Joseph blickte sie erstaunt an. »Wie sollte das vor sich gehen? Wo doch die verderblichen Geister und Dämonen überall sind?«

»Wahrscheinlich sind es nicht die verderblichen Geister, die diese Krankheit verursachen – jedenfalls nicht sie allein. Möglicherweise wird die Krankheit durch den körperlichen Kontakt mit ihren Opfern übertragen, oder auch durch Gegenstände, die von den Kranken berührt worden sind.«

Es war zwar ein neuer, aber kein radikaler Gedanke. Daß bestimmte Krankheiten ansteckend waren, wußte man bereits; das war schließlich der Grund dafür, daß Aussätzige streng aus der menschlichen Gemeinschaft abgesondert wurden. Zudem stand außer Frage, daß Krankheiten oft ganze Familien erfaßten; sämtliche Mitglieder erkrankten binnen weniger Tage, ja, Stunden, und wurden mitunter allesamt hinweggerafft. Doch die Ursache für dieses Phänomen kannte man nicht.

»Die Krankheit wird durch körperlichen Kontakt übertragen? Auf welche Weise?«

»Das weiß ich nicht«, gab Johanna zu. »Aber als ich heute den kranken Mann gesehen habe … die wunden Stellen an seinem Mund, da habe ich gespürt …« Sie hielt inne, zuckte die Achseln. »Ich kann es nicht erklären, Vater. Jedenfalls noch nicht. Doch bis ich mehr weiß, möchte ich darauf verzichten, bei der Messe den Kelch herumzureichen, und statt dessen das Brot in den Wein tunken.«

»Du möchtest eine solche Änderung auf eine bloße Vermutung hin vornehmen?« fragte Joseph.

»Falls ich im Irrtum bin, entsteht dadurch kein Schaden; denn die Gläubigen werden nach wie vor des Leibes und des Blutes Jesu Christi teilhaftig«, erwiderte Johanna. »Doch sollte meine … Ahnung sich als zutreffend erweisen, werden wir viele Menschenleben retten.«

Joseph überlegte einen Moment. Eine Änderung im Ablauf der Messe war eine schwerwiegende Angelegenheit. Andererseits war Johannes Anglicus ein Gelehrter, der für seine Heilkünste wohlbekannt war. Joseph erinnerte sich noch gut an die aussätzige Frau, die Johannes von ihrer Krankheit befreit hatte. Damals wie heute hatte man sich praktisch nur auf Johannes Anglicus’ »Intuition« stützen können, weil das erforderliche Wissen fehlte. Solche Intuitionen, ging es Joseph nun |314|durch den Kopf, darf man nicht als Hirngespinste abtun, denn sie sind gottgegeben.

»Vorerst darfst du es in der Messe so handhaben«, sagte er. »Doch sobald Abt Rabanus zurückkommt, liegt die letzte Entscheidung natürlich bei ihm.«

»Danke, Vater.« Johanna verbeugte sich und verließ schnell das Zimmer, bevor Prior Joseph seine Meinung ändern konnte.

 

Intinctio nannten sie das Eintauchen der Hostie in den Wein. Von einigen älteren Brüdern abgesehen, die nicht mehr von den Traditionen lassen konnten, wurde diese neue Praxis vom Großteil der Brüder unterstützt, denn sie entsprach sowohl der Ästhetik der heiligen Messe als auch den Erfordernissen der Hygiene und Sauberkeit. Ein Mönch aus Corvey, der auf dem Heimweg zu seinem Kloster war, zeigte sich dermaßen beeindruckt, daß er seinem Abt vom intinctio berichtete, der es daraufhin übernahm.

In der Folgezeit erkrankten merklich weniger Gläubige an der Pest, doch völlig schwand die Krankheit nicht. Johanna begann sorgfältig Buch darüber zu führen, wann und wo neue Krankheitsfälle auftraten, und studierte dann ihre Aufzeichnungen, um die Ursache für die Ansteckungen herauszufinden.

Bei der Rückkehr Abt Rabanus’ fanden ihre Bemühungen ein jähes Ende. Schon kurz nach seiner Ankunft ließ er Johanna in seine Unterkünfte rufen, wo er ihr mit strenger Mißbilligung begegnete.

»Der Meßkanon ist heilig. Wie kannst du es wagen, daran herumzupfuschen!«

»Die Änderung betrifft doch nur die äußere Form, Vater Abt, nicht das Wesen. Außerdem glaube ich, daß wir dadurch Menschenleben retten.«

Johanna wollte ihm erklären, was sie festgestellt hatte, doch Rabanus schnitt ihr das Wort ab. »Solche Beobachtungen sind nutzlos, denn sie entspringen nicht dem Glauben, sondern den Sinnen des menschlichen Körpers – und denen darf man nicht trauen. Sie sind Werkzeuge des Bösen, mit denen der Teufel die Menschen von Gott fort und in Trugbilder lockt, die der Verstand uns vorgaukelt.«

»Hätte Gott etwas dagegen, daß wir die stoffliche Welt beobachten«|315|, erwiderte Johanna, »warum hat er uns dann Augen gegeben, zu sehen, und Ohren, zu hören, und eine Nase, zu riechen? Es ist gewiß keine Sünde, uns dieser Geschenke zu bedienen, die Gott selbst uns gemacht hat.«

»Besinne dich der Worte des heiligen Augustinus: ›Zu glauben, was man nicht sieht, ist wahrer Glaube!‹«

»Augustinus hat aber auch gesagt, daß der Mensch an gar nichts glauben könnte, hätte Gott ihm nicht die Fähigkeit zu vernunftmäßigem Denken gegeben«, konterte Johanna.

Abt Rabanus blickte sie düster an. Sein Verstand war zwar scharf, doch abgestumpft durch Dogmen und Doktrinen, phantasielos und unbeweglich. Deshalb haßte er logische Dispute dieser Art. Er zog es vor, sich auf dem sicheren Boden der Autorität zu bewegen.

»Nimm den Rat deines Vaters entgegen, und richte dich danach«, zitierte er aus der Ordensregel. »Wende dich wieder Gott zu, indem du den schwierigen Weg des Gehorsams beschreitest; denn du hast diesen Weg verlassen, indem du deinem eigenen Willen gefolgt bist.«

»Aber, Vater …«

»Still jetzt, sage ich!« fuhr Rabanus sie an. Sein Gesicht war wutverzerrt. »Mit sofortiger Wirkung bist du, Johannes Anglicus, von deinen Pflichten als Priester entbunden. Und statt eitler Wissenschaft wirst du die Demut studieren, indem du ins Spital zurückkehrst. Dort wirst du Bruder Odilo zur Hand gehen und ihm gehorsam und respektvoll dienen.«

Johanna setzte zum Widerspruch an, überlegte es sich dann aber anders. Rabanus war bis zum Äußersten gereizt; jeder weitere Protest konnte die schlimmsten Gefahren heraufbeschwören.

Mit größter Willensanstrengung senkte Johanna demütig den Kopf. »Wie Ihr befehlt, Vater Abt.«

 

Als Johanna später darüber nachdachte, was geschehen war, erkannte sie, daß Rabanus recht hatte. Sie war hochmütig und ungehorsam gewesen. Doch was nützte der Gehorsam, wenn andere dafür leiden mußten? Das Eintauchen des Brotes in den Wein bei der Messe rettete Menschenleben; da war Johanna sicher. Aber wie konnte sie Rabanus davon überzeugen? Auf weitere Diskussionen würde er sich nicht einlassen, und einen neuerlichen Widerspruch würde er nicht dulden. |316|Doch vielleicht ließ er sich vom Gewicht der anerkannten Autoritäten überzeugen. Also verbrachte Johanna die wenige freie Zeit, die ihr das opus dei und ihre Pflichten im Spital ließen, in der Bibliothek, wo sie die Schriften des Hippokrates, Oribasius und Alexander von Tralles auf Textstellen durchsah, die ihre Theorie stützen konnten. Sie arbeitete ununterbrochen, schlief jede Nacht nur zwei oder drei Stunden und trieb sich an den Rand der völligen Erschöpfung.

Eines Tages, als Johanna über einem Text des Oribasius saß, entdeckte sie, was sie suchte. Sie kopierte die entscheidende Passage und übersetzte sie dabei gleich, als ihr das Schreiben plötzlich unerklärliche Mühe bereitete; ihr schmerzte der Kopf, und die Schrift verschwamm ihr vor den Augen. Johanna tat die Symptome als normale Folgeerscheinungen von zu wenig Schlaf ab und arbeitete weiter. Dann rutschte die Schreibfeder ihr unerklärlicherweise aus den Fingern und rollte über die Seite, wobei sie dunkle Tintenflecke auf dem sauberen Vellum hinterließ und die Worte unkenntlich machte. Verflixt noch einmal! schimpfte Johanna im stillen. Jetzt mußt du die Seite sauber kratzen und wieder ganz von vorn anfangen. Sie versuchte, die Schreibfeder aufzunehmen, doch ihre Finger zitterten so heftig, daß sie die Feder nicht ergreifen konnte.

Sie erhob sich und stützte sich auf die Kante des Schreibpults, als ein plötzlicher Schwindelanfall sie überkam und eine Woge der Übelkeit in ihr aufstieg. Sie taumelte zur Tür und war kaum hindurch, als ein wütender Schmerz ihren Körper durchraste; sie krümmte sich und stürzte schwer zu Boden. Auf Hände und Knie gestützt, übergab sie sich würgend.

Irgendwie schaffte sie es, sich zum Spital zu schleppen. Bruder Odilo legte sie in eins der Betten und tastete ihr mit der Hand die Stirn ab. Seine Finger kamen Johanna so kalt wie Eis vor.

Sie blinzelte erstaunt.»Hast du dir gerade die Hände gewaschen?« fragte sie.

Bruder Odilo schüttelte den Kopf. »Meine Hände sind nicht kalt, Bruder Johannes. Du brennst vor Fieber.« Er blickte sie traurig an.»Ich fürchte, du hast die Pest bekommen.«

Die Pest! dachte Johanna benommen. Nein, das kann nicht sein. Ich bin müde, das ist der Grund. Wenn ich mich erst ein bißchen ausgeruht habe …

|317|Bruder Odilo legte ihr einen Streifen Leinentuch auf die Stirn, den er in kaltes Rosenwasser getaucht hatte. »Lieg jetzt still. Ich muß rasch frisches Leinen besorgen. Es dauert nicht lange.«

Seine Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen. Johanna schloß die Augen. Das Leinentuch fühlte sich kalt und glatt auf ihrer Haut an, und es tat so gut, still zu liegen, den Duft des Rosenwassers in sich aufzunehmen und friedlich in willkommener Dunkelheit zu versinken.

Plötzlich riß sie die Augen auf. Odilo würde ihren Körper in ein feuchtes Leinentuch hüllen, um das Fieber zu drücken. Und zu diesem Zweck mußte er sie entkleiden …

Sie mußte Odilo daran hindern! Dann aber erkannte Johanna, daß es zwecklos war. In ihrer derzeitigen Verfassung war sie viel zu schwach, um körperliche Gegenwehr zu leisten. Außerdem würde man ihre Proteste auf Fieberwahn zurückführen.

Johanna setzte sich auf und schwang die Beine aus dem Bett. Augenblicklich kehrte der rasende Kopfschmerz zurück, hämmernd und bohrend. Mit schwankenden Schritten ging Johanna zur Tür. Der Raum drehte sich in einem Übelkeit erregenden Wirbel um sie herum, doch irgendwie gelang es ihr, weiter zu gehen und den Krankensaal zu verlassen. Rasch wandte sie sich in Richtung Außenhof. Als sie sich dem Tor näherte, holte sie tief Atem und zwang sich mit eiserner Willenskraft, aufrecht und mit festen Schritten an Bruder Grimwald, dem Pförtner, vorüberzugehen. Grimwald betrachtete Johanna mit neugierigen Blicken, machte aber keine Anstalten, sie aufzuhalten. Als Johanna durchs Tor war, schlug sie die Richtung zum Fluß ein.

Benedicte! Da lag das kleine Fischerboot des Klosters, mit einem Seil am überhängenden Ast eines Baumes vertäut. Johanna band das Seil los, stieg in den kleinen Nachen und stemmte die Hand ans grasbewachsene Ufer, um sich abzustoßen. Kaum schwenkte das Boot vom Ufer ab, brach Johanna entkräftet zusammen.

Für einige Augenblicke trieb das Fischerboot bewegungslos im Wasser. Dann wurde es von der Strömung erfaßt und herumgeschwenkt, bevor es den Fluß hinunterschwamm und dabei rasch an Geschwindigkeit gewann.

 

|318|Der Himmel drehte sich langsam im Kreis und verzerrte die hohen weißen Wolken zu seltsamen Mustern. Eine dunkelrote Sonne berührte den Horizont; ihre Strahlen brannten heißer als Flammen und versengten Johannas Gesicht, stachen ihr wie glühende Nadeln in die Augen. Doch sie ignorierte den Schmerz und beobachtete fasziniert, wie der Rand der Sonnenkugel schimmerte, verschwamm und allmählich die Umrisse einer menschlichen Gestalt annahm.

Das Gesicht ihres Vaters schwebte langsam auf sie zu und verwandelte sich dabei in einen gräßlichen, grinsenden Totenschädel. Der lippenlose Mund öffnete sich. »Mulier!« rief er; doch es war nicht die Stimme ihres Vaters, sondern die der Mutter. Die Kiefer öffneten sich weiter, und Johanna sah, daß es gar kein Mund war, sondern ein scheußliches, gähnendes Tor, das in eine undurchdringliche Schwärze führte. Am Ende dieser unermeßlichen dunklen Höhle brannten Feuer; in gewaltigen, blauroten Säulen schossen die Flammen empor. Menschen waren in diesen Feuerzungen; ihre Körper wanden und krümmten sich in der grotesken Pantomime unsäglichen Schmerzes. Einer von ihnen schaute zu Johanna hinüber. Voller Entsetzen sah sie die klaren blauen Augen und das weißgoldene Haar einer hochgewachsenen, schlanken Frau. Gudrun rief nach ihr, streckte ihr die Arme entgegen. Johanna bewegte sich auf die Mutter zu; doch plötzlich verlor sie den Boden unter den Füßen, und sie stürzte und stürzte, genau auf das klaffende Tor zu, den Mund des Totenschädels. »Maaamaaa!« schrie Johanna, als sie in die Flammen fiel …

Sie lag auf einem schneebedeckten Feld. In der Ferne schimmerten die Gebäude von Villaris, auf deren Dächern die Sonne den Schnee schmolz und deren Strahlen die Wassertropfen wie Tausende winziger Edelsteine funkeln ließ. Johanna hörte das Trommeln von Pferdehufen, drehte sich um und sah Gerold, der auf Pistis, seinem Hengst, auf sie zugeritten kam. Sie sprang auf und rannte ihm über das schneebedeckte Feld entgegen, und er zügelte das Pferd neben ihr, beugte sich im Sattel zur Seite, hob sie hoch und setzte sie vor sich auf den Pferderücken. Sie lehnte sich zurück, gab sich ganz dem wundervollen Gefühl hin, in seinen starken Armen zu liegen. Sie war in Sicherheit. Jetzt konnte ihr nichts mehr geschehen; Gerold würde sie beschützen. Gemeinsam ritten sie auf die schimmernden Türme von Villaris zu, und die |319|Schritte des Pferdes wurden raumgreifender, und sie schaukelten sanft im Sattel, schaukelten sanft wie auf Wogen …

Plötzlich endete die Bewegung. Johanna schlug die Augen auf. Über dem Bootsrand sah sie Baumwipfel, die sich schwarz und unbewegt gegen einen dämmrigen Himmel abzeichneten. Das Boot war zum Stehen gekommen.

Irgendwo über ihr erklang Stimmengemurmel, doch Johanna konnte die Worte nicht verstehen. Hände wurden ins Boot gestreckt und packten sie, hoben sie in die Höhe und ans Ufer. Verschwommen erinnerte Johanna sich: Sie durfte nicht zulassen, daß die Leute sich ihrer annahmen – nicht, solange sie krank war. Und die Fremden durften sie auf keinen Fall zurück nach Fulda bringen! Wild schlug Johanna um sich, strampelte, wand sich. Sie spürte, wie ihre Faust jemanden traf. Wie aus weiter Ferne hörte sie einen Fluch. Dann fühlte sie einen kurzen, scharfen Schmerz am Kiefer – und dann nichts mehr.

 

Langsam stieg Johanna aus einem Meer aus Schwärze empor. In ihrem Kopf war ein hämmernder Schmerz, und ihre Kehle war so trocken, als wäre das Fleisch roh und wund. Sie fuhr sich mit der Zunge über die spröden Lippen und leckte die Blutstropfen auf, die aus der aufgeplatzten Haut drangen. In ihrem Unterkiefer wühlte ein dumpfer Schmerz. Sie stöhnte leise auf, als ihre Finger eine schmerzhafte Schwellung am Kinn ertasteten. Woher habe ich das? fragte sie sich benommen.

Dann, drängender: Wo bin ich?

Sie lag auf einer weichen Federmatratze in einem Zimmer, das sie nie zuvor gesehen hatte. Der Zahl und Beschaffenheit der Möbel nach zu urteilen, mußte der Besitzer des Hauses wohlhabend sein. Da war nicht nur das große, weiche Bett, in dem Johanna lag – sie erblickte auch gepolsterte Sitzbänke; einen Stuhl mit hoher Lehne, auf dem Kissen lagen; einen langen Eßtisch; ein Schreibpult sowie mehrere Schränke, Truhen und Vitrinen, die mit kunstvollen Schnitzereien verziert waren. In der Nähe brannte ein Herdfeuer. Zwei frische Scheite waren erst vor kurzem auf die Glut gelegt worden; ihr würziger Duft breitete sich im Zimmer aus.

Ein paar Meter entfernt stand eine rundliche junge Frau. Sie hatte Johanna den Rücken zugewandt und knetete Teig. Als sie fertig war, wischte sie sich an ihrer Tunika das Mehl von den Händen; dann fiel ihr Blick auf Johanna. Rasch ging sie |320|zur Tür und rief: »Mein Gemahl! Mein Gemahl! Komm schnell. Unser Gast ist erwacht!«

Ein großer, schlaksiger junger Mann mit gesunder roter Gesichtsfarbe kam ins Zimmer gestürmt. »Wie geht es ihr? Was macht sie?« fragte er.

Sie? Johanna zuckte zusammen, als sie dieses Wort hörte. Sie schaute an sich hinunter und stellte fest, daß ihre Mönchskleidung verschwunden war; statt dessen trug sie eine Frauentunika aus weichem blauem Leinen.

Sie wissen Bescheid.

Johanna mühte sich, aus dem Bett zu steigen, doch ihre Glieder waren zu schwach; sie kamen ihr schwer wie Blei vor.

»Ihr dürft Euch nicht anstrengen.« Sanft legte der junge Mann ihr die Hand auf die Schulter und drückte sie behutsam auf das Bett zurück. Er hatte ein freundliches, ehrliches Gesicht, und die Iris seiner großen runden Augen waren blau wie Kornblumen.

Wer ist der Mann? fragte sich Johanna. Ob er Abt Rabanus und den anderen erzählt, daß ich eine Frau bin? Oder hat er es schon getan? Bin ich wirklich sein Gast, oder bin ich eine Gefangene?

»Ich … habe Durst«, sagte sie mit krächzender Stimme.

Der junge Mann tauchte einen Becher in einen Holzeimer, der neben dem Bett stand, füllte ihn randvoll mit Wasser, hielt ihn Johanna an die Lippen und achtete darauf, daß sie langsam und in kleinen Schlucken trank, doch Johanna packte den Becher und kippte ihn so, daß sie tiefe Züge nehmen konnte. Die kühle Flüssigkeit schmeckte köstlicher als alles, was sie jemals getrunken hatte.

»Ihr dürft nicht so schnell trinken«, ermahnte der junge Mann sie. »Es ist gut eine Woche her, seit es uns gelungen ist, Euch ein paar Löffel Suppe einzuflößen.«

Über eine Woche! War sie schon so lange hier? Sie konnte sich an nichts mehr erinnern … nur noch daran, wie sie in das kleine Fischerboot geklettert war.

»Wo … wo bin ich?« fragte sie stockend.

»Auf dem Anwesen des Grafen Riculf, fünfzig Meilen stromab von Fulda. Wir haben Euch in einem Fischerboot gefunden, das sich in einem Strauch am Ufer verfangen hatte. Ihr wart vom Fieber halb bewußtlos und habt wie eine Wilde um Euch geschlagen, als wir Euch aus dem Boot herausheben wollten.«

|321|Johanna betastete die Schwellung an ihrem Kinn.

Der junge Mann grinste. »Tut mir leid. Als wir Euch fanden, wart Ihr keinen vernünftigen Argumenten zugänglich. Aber Ihr könnt Euch mit dem Gedanken trösten, daß Ihr beinahe soviel ausgeteilt habt, wie Ihr einstecken mußtet.« Er zog den Ärmel hoch und zeigte Johanna einen großen, häßlichen blauen Fleck an seinem rechten Oberarm.

»Ihr habt mir das Leben gerettet«, sagte Johanna leise. »Dafür möchte ich Euch danken.«

»Das war doch selbstverständlich. Ich bin froh, daß ich an Euch ein wenig von dem gutmachen konnte, das Ihr für mich und die Meinen getan habt.«

»Müßte … müßte ich Euch kennen?« fragte Johanna verwundert.

Der junge Mann lächelte. »Ich nehme an, ich habe mich ziemlich verändert, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Damals war ich zwölf Jahre alt, ging auf die dreizehn zu. Moment mal …« Er zählte an den Fingern ab – die klassische Rechenmethode des großen Beda Venerabilis. »Das war vor ungefähr sechs Jahren. Sechs Jahre mal dreihundertfünfundsechzig Tage … hm, das macht … zweitausendeinhundertundneunzig Tage!«

Johannas Augen weiteten sich, als sie den jungen Mann wiedererkannte. »Arn!« rief sie und fand sich Augenblicke später in seiner liebevollen, überschwenglichen Umarmung wieder.

 

An diesem Tag unterhielten sie sich nicht länger, denn Johanna war immer noch sehr schwach, und Arn ließ nicht zu, daß sie sich weiter verausgabte. Nachdem Johanna ein paar Löffel Fleischbrühe zu sich genommen hatte, schlief sie sofort ein.

Als sie tags darauf erwachte, fühlte sie sich schon kräftiger. Das beste Zeichen aber war, daß sie einen Bärenhunger hatte. Als sie gemeinsam mit Arn einen Teller Brot und Käse zum Frühstück aß, hörte sie ihm gespannt zu, als er ihr erzählte, was alles geschehen war, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten.

»Wie Ihr vorhergesagt hattet, war der Vater Abt so zufrieden mit unserem Käse, daß er uns zu prebendarii ernannte und uns versprach, daß wir ein gutes Auskommen hätten, wenn wir dem Kloster jedes Jahr hundert Pfund Käse lieferten. Aber das wißt Ihr ja selbst.«

|322|Johanna nickte. Der außergewöhnliche, blaugeäderte Käse, der so abstoßend aussah und so wunderbar schmeckte, war zu einem festen Bestandteil der Mahlzeiten im Refektorium des Klosters Fulda geworden. Gäste des Klosters – sowohl Laien als auch Geistliche – waren von der Qualität dieses Käses so angetan, daß bald in der ganzen Gegend eine rege Nachfrage herrschte.

»Wie geht es deiner Mutter?« fragte Johanna.

»Sehr gut. Sie hat wieder geheiratet – einen netten Mann, einen Bauern mit eigener Rinderherde. Aus der Milch stellen sie Mutters Käse her. Die Geschäfte gehen immer besser, und beide sind glücklich und wohlhabend.«

»Was offenbar auch für dich gilt«, sagte Johanna und wies mit einem Schwenk des Armes durch das große und gepflegte Zimmer.

»All mein Glück verdanke ich Euch«, sagte Arn, »denn auf der Abteischule habe ich lesen, schreiben und den Umgang mit Zahlen gelernt – Fertigkeiten, die gerade recht kamen, als Mutters Geschäfte besser gingen, so daß es erforderlich wurde, sorgfältig Buch zu führen. Als Graf Riculf dann von meinen Fertigkeiten erfuhr, hat er mich als Verwalter auf seinem Gut eingestellt. Außerdem bewache ich seine Ländereien vor Wilderern – die Wälder, die Wiesen und den Fluß. Deshalb habe ich Euch am Ufer gefunden.«

Johanna schüttelte staunend den Kopf und rief sich in Erinnerung, wie es Arn und seiner Mutter vor sechs Jahren ergangen war, als sie in der schäbigen, von Ungeziefer wimmelnden Hütte gehaust hatten, so jämmerlich wie coloni. Damals hatte es den Anschein gehabt, als wären sie zu einem Leben in schrecklicher Armut und Hunger verdammt. Nun aber war Madalgis wieder verheiratet und eine wohlhabende Geschäftsfrau, und ihr Sohn hatte es zum Verwalter eines mächtigen Grafen gebracht. Vitam regit fortuna, dachte Johanna. Wahrhaftig, das Glück ist der Herrscher des Lebens. Das galt für sie selbst ebenso wie für jeden anderen Menschen.

»Und hier«, sagte Arn stolz, »sind meine Frau Bona und Arnalda, unser Töchterchen.« Bona, eine dralle, hübsche junge Frau mit fröhlichen Augen und einem strahlenden Lächeln, war sogar noch jünger als ihr Mann, höchstens achtzehn Winter. Sie war bereits Mutter, doch ihr schwellender Leib ließ erkennen, |323|daß sie ihr zweites Kind erwartete. Arnalda sah wie ein Engel aus; sie hatte ein süßes Gesicht mit großen blauen Augen, lockiges blondes Haar und rote Wangen. Sie lächelte Johanna strahlend an und zeigte dabei ein Paar bezaubernder Grübchen.

»Ihr seid eine wundervolle Familie« sagte Johanna.

Arn strahlte und winkte Frau und Tochter zu sich. »Kommt her, und sagt Bruder …« Er zögerte. »Wie soll ich Euch anreden? ›Bruder Johannes‹ kommt mir doch reichlich seltsam vor, nachdem wir jetzt wissen … was wir wissen.«

»Johanna.« Der Name klang vertraut und fremd zugleich in ihren Ohren. »Sag Johanna zu mir; denn das ist mein richtiger Name.«

»Johanna«, wiederholte Arn, der sich sichtlich darüber freute, daß ihm soviel Vertrauen entgegengebracht wurde. »Wenn Ihr möchtet, dann erzählt uns doch, wie es gekommen ist, daß Ihr unter den Benediktinern im Kloster Fulda gelebt habt. Man möchte kaum glauben, daß so etwas möglich ist. Wie, in Gottes Namen, habt Ihr das geschafft? Und was hat Euch dazu gebracht? Wußte jemand von Eurem Geheimnis? Hat niemand Verdacht geschöpft?«

Johanna lachte. »Die Zeit hat deiner Neugier nicht geschadet, wie ich sehe.«

Es gab keinen Grund zur Täuschung. Johanna erzählte Arn alles, angefangen von ihrer unorthodoxen Ausbildung an der Domschule in Dorstadt bis hin zu den Jahren im Kloster zu Fulda und zu ihrer Berufung ins Priesteramt.

»Demnach wissen die Brüder immer noch nicht, daß Ihr eine Frau seid«, sagte Arn nachdenklich, als Johanna geendet hatte. »Wir dachten schon, daß man Eure wahre Identität entdeckt hat und daß Ihr deshalb fliehen mußtet. – Möchtet Ihr denn ins Kloster zurück? Ich würde Euch diese Möglichkeit niemals versperren. Eher würde ich auf der Folterbank sterben, als daß jemand auch nur ein Wort über Euer Geheimnis aus mir herausbekommt!«

Johanna lächelte. Arns männlichem Erscheinungsbild zum Trotz hatte er noch sehr viel von dem kleinen Jungen, als den sie ihn gekannt hatte.

»Zum Glück«, sagte sie, »gibt es keinen Grund für ein solches Opfer. Ich bin rechtzeitig entkommen, und die Bruderschaft hat keinen Grund, mich zu verdächtigen. Aber … ich weiß nicht, ob ich ins Kloster zurückkehren möchte.«

|324|»Was möchtet Ihr dann?«

»Eine gute Frage«, sagte Johanna. »Eine sehr gute Frage. Aber bis jetzt weiß ich noch nicht die Antwort darauf.«

 

Arn und Bona hegten und pflegten Johanna wie zwei überängstliche Mutterhennen und bestanden darauf, daß sie noch ein paar Tage im Bett verbrachte. »Ihr seid noch nicht kräftig genug«, beharrten die beiden. Johanna blieb keine Wahl, als diese liebevolle Fürsorge über sich ergehen zu lassen, und sie vertrieb sich die langen Stunden damit, die kleine Arnalda zu unterrichten. So jung sie noch war, legte sie bereits den wachen Verstand ihres Vaters an den Tag; sie lernte mit Feuereifer und war begeistert, eine so unterhaltsame und kluge Freundin zu haben.

Wenn Arnalda am Ende eines jeden Tages ins Bett gebracht worden war, lag Johanna noch lange Zeit wach und dachte über ihre Zukunft nach. Sollte sie nach Fulda zurückkehren? Sie hatte fast zwölf Jahre im Kloster verbracht; sie war in seinen Mauern praktisch aufgewachsen, und es fiel ihr schwer, sich vorzustellen, anderswo zu leben. Aber sie mußte sich nun einmal den Tatsachen stellen: Sie war jetzt siebenundzwanzig und hatte die besten Jahre bereits hinter sich. Im Kloster zu Fulda wurden die Mönche aufgrund des rauhen Klimas, des asketischen Lebens, des spartanischen Essens und der ungeheizten Räume selten älter als vierzig Jahre; Bruder Deodatus war mit seinen vierundfünfzig Wintern derzeit der Senior der Klostergemeinschaft. Wie lange konnte sie sich gegen die Unbilden des Alters zur Wehr setzen? Wie lange würde es dauern, bis sie wieder erkrankte und erneut das Risiko auf sich nehmen mußte, als Frau enttarnt zu werden, was ihren Tod bedeuten würde?

Außerdem war da noch Abt Rabanus. Er war ihr entschiedener Gegner, und er gehörte nicht zu den Menschen, die rasch ihre Meinung änderten. Er hatte ihr schon Probleme genug bereitet – und Gott allein wußte, welche Schwierigkeiten und Strafen sie noch erwarteten, falls sie ins Fuldaer Kloster zurückkehrte.

Außerdem drängte es Johanna nach Veränderung, nach neuen Ufern. In der Klosterbibliothek zu Fulda gab es kein Buch, das sie nicht schon gelesen hatte. Sie kannte jeden noch so kleinen Riß in der Wand des Schlafsaals. Und es lag Jahre |325|zurück, daß sie morgens mit dem herrlichen Gefühl gespannter Erwartung erwacht war, daß irgend etwas Neues und Interessantes geschah. Sie sehnte sich danach, eine größere, weitere Welt zu erforschen.

Wohin konnte sie gehen? Zurück nach Ingelheim? Nein. Jetzt, da Mutter tot war, zog sie nichts mehr dorthin. Nach Dorstadt? Was hoffte sie dort zu finden? Gerold, der noch immer auf sie wartete, der seine Liebe zu ihr all die Jahre im Herzen getragen hatte? Schon der Gedanke war lächerlich. Bestimmt war Gerold wieder verheiratet, und da wäre ihm ihr plötzliches Wiederauftauchen alles andere als willkommen. Außerdem hatte sie vor langer Zeit ein anderes Leben für sich selbst gewählt – ein Leben, in dem für die Liebe eines Mannes kein Platz war.

Nein, sagte sie sich. Gerold und Fulda gehören der Vergangenheit an. Jetzt mußt du entschlossen in die Zukunft blicken – wie immer sie aussehen mag.

 

»Bona und ich haben beschlossen«, sagte Arn, »daß Ihr bei uns bleiben sollt. Es wäre schön, wenn wir noch eine Frau im Haus hätten, die Bona Gesellschaft leisten und ihr beim Kochen und Nähen helfen könnte – besonders jetzt, wo sie ihr zweites Kind erwartet.«

Arns Angebot war zwar unbeholfen vorgebracht, aber freundlich gemeint; deshalb erwiderte Johanna lächelnd: »Ich fürchte, das wäre ein schlechtes Geschäft für dich. Ich konnte nie gut mit Nadel und Faden umgehen, und was die Küchenarbeit betrifft, wäre ich wohl auch keine große Hilfe.«

»Es wäre Bona eine Freude, Euch das Kochen und Nähen beizubringen, und …«

»Um ehrlich zu sein«, unterbrach Johanna ihn, »ich habe so lange wie ein Mann gelebt, daß ich wohl nie eine tüchtige Hausfrau werde – die ich ohnehin niemals gewesen bin. Nein, Arn«, sie winkte ab, als er widersprechen wollte, »das Leben eines Mannes paßt besser zu mir. Und mir gefallen die vielen Vorteile zu gut, als daß ich darauf verzichten möchte.«

Arn dachte darüber nach. »Dann tragt Eure Verkleidung doch einfach weiter und lebt wie ein Mann«, sagte er. »Uns macht es nichts aus. Ihr könntet im Garten helfen … oder Arnalda unterrichten. Mit Euren Spielen und Unterrichtsstunden habt Ihr sie schon ganz verzaubert – so, wie Ihr damals mich verzaubert hattet.«

|326|Es war ein großzügiges Angebot. In dieser glücklichen und wohlhabenden Familie konnte sie so gefahrlos wie nirgendwo sonst Schutz und Sicherheit finden. Doch diese Welt, so behaglich sie auch sein mochte, war viel zu klein für Johannas wiedererwachte Abenteuerlust. Sie war nicht aus Fulda geflohen, um nun die Klostermauern gegen andere Mauern einzutauschen.

»Gott segne dich, Arn. Du hast ein gutes Herz. Aber ich habe andere Pläne.«

»Und welche?«

»Ich werde auf eine Pilgerreise gehen.«

»Nach Tours? Zum Grab des heiligen Martin?«

»Nein«, sagte Johanna, »nach Rom.«

»Rom!« stieß Arn fassungslos hervor. »Habt Ihr den Verstand verloren? Das ist viel zu gefährlich!«

»Jetzt, wo der Krieg vorbei ist, werden auch andere diese Pilgerreise unternehmen.«

Arn schüttelte den Kopf. »Mein Herr, der Graf Riculf, hat mir gesagt, daß Lothar trotz seiner Niederlage bei Fontenoy seine Krone nicht aufgegeben hat. Er ist zurück zum Kaiserpalast nach Aachen geflüchtet und sucht nun Männer, um die gelichteten Reihen seines Heeres wieder zu füllen. Graf Riculf sagt, Lothar habe sogar den Sachsen Angebote gemacht, um sie auf seine Seite zu ziehen. Er will ihnen erlauben, wieder zu ihren alten heidnischen Göttern zu beten, falls sie für ihn kämpfen.«

Wie sehr hätte Mutter über diese unerwartete Wendung der Dinge gelacht, dachte Johanna. Ein christlicher Kaiser macht das Angebot, die alten heidnischen Götter wiedereinzusetzen. Sie konnte sich vorstellen, was Gudrun dazu gesagt hätte: Der sanfte Märtyrer-Gott der Christen mag zwar für gewöhnliche Dinge taugen; aber wenn es darum geht, in Schlachten zu siegen, muß man schon Thor und Odin und all die anderen schrecklichen Kriegsgötter meines Volkes anrufen.

»So, wie die Dinge stehen, dürft Ihr diese lange Reise nicht unternehmen«, sagte Arn. »Es ist zu gefährlich.«

Natürlich hatte er recht. Der kriegerische Streit zwischen den königlichen Brüdern hatte zu einem vollständigen Zusammenbruch der staatlichen Ordnung geführt. Die offenen und unbewachten Straßen waren zu gefahrlosen Tummelplätzen für umherstreifende Banden von Briganten, Mördern und Gesetzlosen aller Art geworden.

|327|Doch Johanna ließ sich davon nicht abschrecken. »Mir wird schon nichts passieren«, sagte sie. »Jeder Halunke weiß, daß es bei einem schlichten Priester auf Pilgerfahrt nichts zu holen gibt.«

»Aber einige von diesen Teufeln töten Reisende schon der Sachen wegen, die sie am Leibe tragen!« rief Arn. »Ich verbiete Euch, allein zu gehen!« In seiner Stimme lag eine Autorität, die er sich einem Mann gegenüber nie herausgenommen hätte. Aber er wußte ja, daß er eine Frau vor sich hatte.

»Ich bin mein eigener Herr, Arn«, erwiderte Johanna mit Schärfe in der Stimme. »Ich gehe, wohin ich will.«

Arn, der seinen Fehler erkannte, wurde sofort kleinlaut. »Dann wartet wenigstens noch drei Monate«, bat er. »Dann kommen die Gewürzhändler durch diese Gegend. Sie reisen unter schwerer Bewachung, denn wegen ihrer kostbaren Fracht wollen sie kein Risiko eingehen. Sie könnten Euch den ganzen Weg bis Langres Schutz gewähren.«

»Langres? Das ist bestimmt nicht der kürzeste Weg nach Rom, oder?«

»Nicht der kürzeste«, gab Arn zu, »aber der sicherste. In Langres gibt es eine Herberge für Pilger, die nach Süden wollen; Ihr werdet keine Schwierigkeiten haben, dort eine Reisegruppe zu finden, der Ihr Euch anschließen könnt und die Euch Schutz gewährt.«

Johanna ließ sich seinen Vorschlag durch den Kopf gehen. »Wahrscheinlich hast du recht.«

»Mein Herr, der Graf Riculf, hat diese Pilgerfahrt vor einigen Jahren selbst unternommen. Er hat immer noch die Karte, auf der er seine Reiseroute eingezeichnet hat. Ich habe sie hier im Haus.« Er öffnete eine verschlossene Truhe und nahm eine Pergamentrolle heraus.

Die Ränder der Karte waren angedunkelt und mit den Jahren ausgefranst, aber die Tinte war noch nicht verblaßt; deutlich waren die kräftigen dunklen Linien auf dem vergilbenden Pergament zu erkennen – Linien, die den Weg nach Rom markierten.

»Danke, Arn«, sagte Johanna. »Ich werde deinen Vorschlag beherzigen. Drei Monate Aufschub sind keine sehr lange Zeit. Und dann kann ich mich noch länger um Arnalda kümmern. Sie ist ein kluges Mädchen und kommt beim Lernen sehr schnell voran.«

|328|»Dann ist es also abgemacht.« Arn rollte das Pergament zusammen.

»Wenn es möglich ist, würde ich mir die Karte gern noch ein bißchen anschauen, Arn.«

»Nehmt Euch soviel Zeit, wie Ihr wollt. Sollte irgend etwas sein – ich bin draußen bei den Ställen und beaufsichtige die Schafschur.« Arn lächelte sie an und ging davon, sichtlich zufrieden, wenigstens diesen Teilerfolg erzielt zu haben.

Johanna atmete tief durch, füllte ihre Lungen mit dem lieblichen Duft des beginnenden Frühlings. Zu dieser Stunde versammelte sich die Bruderschaft zu Fulda im dunklen Innern des Kapitelsaales; die Mönche saßen dicht an dicht auf den kalten, harten Bänken aus Stein und lauschten dem Bruder Zellerar, der über die Lebensmittelvorräte des Klosters Bericht erstattete. Doch sie war jetzt hier, frei und ungebunden, und vor ihr lag das wahrscheinlich größte Abenteuer ihres Erwachsenenlebens.

Als Johanna die Karte betrachtete, stieg eine Woge der Erregung in ihr auf. Es gab eine große, breite Straße von hier nach Langres. Von Langres aus führte diese Straße nach Süden, durch Besançon und Orbe, dann am Genfer See vorbei und hinauf bis nach Le Valais. Dort, am Fuße der Alpen, gab es eine klösterliche Herberge, in der die Pilger Rast einlegen und sich mit Proviant versorgen konnten. Dann führte der Weg weiter durch die Berge, über den großen Sankt Bernhard, den bequemsten und meistbereisten Paß der Alpen. Hinter dem Paß ging es dann geradewegs die Via Francigena hinunter, die durch Aosta, Pavia und Bologna bis in die Toskana führte. Und von dort aus in die Heilige Stadt.

Nach Rom.

Rom. Die größten Geister der Menschheit waren in dieser uralten Stadt versammelt, in deren Kirchen es Schätze von unermeßlichem Wert gab, in der sich die heiligen Gräber der Apostel befanden, und deren Bibliotheken das gesammelte Wissen von Jahrhunderten bargen. In Rom würde Johanna finden, was sie suchte, und ihre wahre Bestimmung erfahren.

 

Sie befestigte gerade die Satteltasche, die Arn ihr für die Reise mitgegeben hatte, auf dem Rücken des Maultiers, als die kleine Arnalda aus dem Haus gerannt kam. Ihr blondes Haar war noch vom Schlaf zerzaust, und auf ihrem kleinen Gesicht lag ein verängstigter Ausdruck.

|329|»Wo gehst du hin?«

Johanna kniete nieder, so daß sie dem kleinen Mädchen in die Augen blicken konnte. »Nach Rom«, sagte sie, »in die Stadt der Wunder, wo der Papst zu Hause ist.«

»Hast du den Papst lieber als mich?«

»Ich habe ihn noch nie getroffen. Aber es gibt keinen Menschen, den ich so lieb habe wie dich, kleine Wachtel.« Sie streichelte das weiche Haar des Kindes.

»Dann geh doch nicht.« Arnalda warf Johanna die Ärmchen um den Hals. »Ich möchte nicht, daß du weggehst.«

Johanna umarmte sie. Der kleine Kinderkörper drängte sich liebevoll an sie, füllte ihre Arme und ihr Herz. Auch ich hätte ein kleines Mädchen wie dieses haben können, hätte ich einen anderen Weg eingeschlagen. Ein kleines Mädchen, dem ich meine Liebe geben kann – und das ich lehren kann. Sie erinnerte sich an das Gefühl der Verlassenheit, als Aeskulapius damals fortgegangen war. Er hatte ihr ein Buch geschenkt, damit sie weiterlernen konnte. Sie aber war aus einem Kloster geflohen und besaß nichts als die Kleider, die sie am Leibe trug. Sie konnte dem kleinen Mädchen nicht einmal ein Abschiedsgeschenk machen.

Außer …

Johanna griff in ihre Tunika und zog das Medaillon hervor, das sie seit jenem Tage trug, als Matthias es ihr um den Hals gehängt hatte. »Das ist die heilige Katharina. Sie war sehr klug und sehr stark, genau wie du.« Mit wenigen Worten erzählte Johanna dem Mädchen die Geschichte der Heiligen.

Vor Staunen wurden Arnaldas Augen groß und rund. »Obwohl sie ein Mädchen gewesen ist, war sie klüger als die vielen Männer?«

»Ja. Und das kannst du auch sein, wenn du weiterhin fleißig lernst.« Johanna nahm sich das Medaillon ab und legte es Arnalda um den Hals. »Katharina gehört jetzt dir. Jetzt mußt du an meiner Stelle auf sie aufpassen.«

Arnalda drückte sich das Medaillon an die Brust. In ihrem kleinen Gesicht zuckte es, als sie tapfer gegen die Tränen kämpfte.

Johanna sagte Arn und Bona Lebewohl. Bona reichte ihr einen mit Bier gefüllten Ziegenlederschlauch und ein Eßpaket. »Hier habt Ihr Butter, Käse und getrocknetes Fleisch. Es wird für vierzehn Tage reichen. In dieser Zeit müßtet Ihr es bis zum Hospiz geschafft haben.«

|330|»Danke«, sagte Johanna lächelnd. »Ich werde nie vergessen, wie freundlich ihr zu mir wart.«

»Denkt daran, Johanna«, Arns Stimme klang heiser, »daß Ihr stets willkommen bei uns seid. Hier ist Euer Zuhause.«

Johanna umarmte ihn. »Lehre das Mädchen«, sagte sie. »Arnalda ist klug und genauso wißbegierig, wie ihr Vater es früher gewesen ist.«

Sie stieg aufs Maultier. Die kleine Familie stand um sie herum und blickte sie traurig an. Es schien Johannas Schicksal zu sein, immer wieder von jenen Menschen Abschied nehmen zu müssen, die sie liebte. Aber das war nun einmal der Preis für das seltsame Leben, für das sie sich entschieden hatte. Sie hatte diesen Weg mit offenen Augen beschritten und war sich der Folgen bewußt gewesen; es brachte ihr nur unnötigen Schmerz, diesen Schritt jetzt zu bedauern.

Johanna trat dem Maultier die Hacken in die Weichen, und es trottete los. Nach einem letzten Winken über die Schulter wandte sie den Blick nach vorn, zu der Straße, die nach Süden führte – nach Rom.