|532|29.

Das triclinium – die Große Halle – war ein vergleichsweise neuer Anbau des Patriarchums, doch er besaß bereits eine reiche historische Vergangenheit. Die Farbe der Gemälde an den Wänden des Großen Saales war gerade erst getrocknet gewesen, als Lothars Großvater, Karl der Große, und Papst Leo III. hier mit ihren Gefolgsleuten zusammengetroffen waren, um die folgenschwere Übereinkunft zu schließen, auf deren Grundlage Karl der Große vom König des fränkischen Reiches zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches erhoben worden war – eine Entscheidung, die das Antlitz der Welt für alle Zeiten verändert hatte.

Die fünfzig Jahre, die seither vergangen waren, hatten dem prunkvollen Glanz der Großen Halle indes nichts anhaben können. Wände und Böden ihrer drei riesigen Altarnischen waren mit makellosen, rein weißen Marmorplatten verkleidet und mit kunstvoll behauenen Säulen aus Porphyr verziert, in die Reliefs von wundervoller, filigraner Feinheit und Kunstfertigkeit gemeißelt waren. Über den marmornen Verkleidungen waren die Wände mit farbenprächtigen Gemälden bedeckt, die Szenen aus dem Leben des Apostels Petrus zeigten und von denen jedes einzelne mit unglaublicher Meisterschaft ausgeführt war.

Doch selbst diese Wunder wurden von dem großen Mosaik in den Schatten gestellt, das sich über dem Bogen der mittleren Apsis befand. Auf diesem Mosaik war der heilige Petrus bei seiner prunkvollen Inthronisierung zu sehen; sein Kopf war von einem runden Heiligenschein umgeben. Zu seiner Rechten kniete Papst Leo, zu seiner Linken Kaiser Karl der Große; die Köpfe der beiden Männer waren von rechteckigen Heiligenscheinen umrahmt, dem Zeichen der Lebenden – denn sie hatten noch gelebt, als das triclinium errichtet worden war.

|533|Im vorderen Teil der Großen Halle ließen Johanna und Lothar sich in zwei prunkvollen, über und über mit Juwelen besetzten Stühlen nieder; sie setzten sich sedentes pariter: Beide nahmen mit dem gleichen Zeremoniell Platz, wobei sorgsam darauf geachtet wurde, daß Papst und König Seite an Seite saßen, damit nicht der Anschein erweckt wurde, daß der eine im Rang höher stand als der andere. Die Erzbischöfe, Kardinäle und Äbte von Rom saßen dem Papst und dem Kaiser in hochlehnigen Stühlen im byzantinischen Stil gegenüber, die mit weichem grünem Samt bezogen waren. Die anderen sacerdotes, die optimates sowie die übrigen führenden Männer des fränkischen und römischen Volkes standen in den hinteren Reihen und füllten das triclinium bis auf den letzten Platz.

Als alle versammelt waren, wurde Gerold von Lothars Männern in die Große Halle geführt. Noch immer waren ihm die Hände vor dem Leib gefesselt. Johanna preßte die Lippen zusammen, als sie die Schürfwunden und die blauen Flecke in seinem Gesicht und am Hals sah; offensichtlich hatte man ihn geschlagen.

»Tretet vor, magister militum«, wandte Lothar sich an Daniel, »und bringt Eure Anklagen vor, auf daß alle Anwesenden sie hören können.«

Mit lauter Stimme sagte Daniel: »Ich habe zufällig mit angehört, wie der superista zu Papst Johannes sagte, daß Rom sich mit den Griechen verbünden solle, um die Stadt von dem übermächtigen fränkischen Einfluß zu befreien.«

»Lügner!« rief Gerold und wurde auf der Stelle von einem der Wächter mit einem wuchtigen Faustschlag belohnt.

»Laß von ihm ab!« fuhr Johanna den Wächter mit scharfer Stimme an. Dann fragte sie Gerold: »Ihr weist die Anklage zurück, superista?«

»Ja. Denn sie gründet sich auf schändliche Lügen und Entstellungen.«

Johanna holte tief Atem, denn nun mußte sie den Sprung ins kalte Wasser wagen – jetzt oder nie. Mit lauter Stimme, so daß alle sie hören konnten, erklärte sie: »Hiermit bestätige ich die Aussage des superista.«

Erschrecktes Gemurmel erhob sich unter den versammelten Prälaten, denn durch dieses Bekenntnis hatte der Papst sich selbst vom Kläger zum Beklagten gemacht, so daß er jetzt praktisch zusammen mit Gerold vor Gericht stand.

|534|Paschal, der primicerius, warf mit nüchterner Stimme ein: »Es ist nicht an Euch, Heiligkeit, die Anschuldigungen zu erhärten oder zurückzuweisen. Denkt an die Worte des großen Kaiser Karolus: Iudicare non audemus. Ihr seid hier nicht angeklagt, und ohnedies könnte kein Gericht auf Erden ein Urteil gegen Euch verhängen.«

»Ich weiß, Paschal. Aber ich bin bereit, aus freiem Willen auf die Anklagen zu antworten, um den Geist eines jeden Menschen von ungerechtfertigten Verdächtigungen zu befreien.« Sie nickte Florentinus zu, dem vestiarius, der auf ein vorher abgesprochenes Zeichen herbeieilte und Johanna die vier Bücher des heiligen Evangeliums reichte. Sie nahm die Folianten entgegen und drückte sie ehrfürchtig an sich. Dann rief sie mit schallender Stimme: »Auf diese heiligen Bücher, in denen das Wort des Allmächtigen sich offenbart, schwöre ich vor Gott und dem heiligen Petrus, daß ein solches Gespräch zwischen mir und dem superista niemals stattgefunden hat. Sollte ich nicht die Wahrheit sagen, so möge Gott mich auf der Stelle zerschmettern.«

Gespanntes Schweigen folgte diesen Worten. Niemand rührte sich; niemand gab einen Laut von sich.

Nichts geschah.

Schließlich trat Anastasius vor und stellte sich neben Daniel. »Ich erbiete mich als sacramentale für diesen Mann«, verkündete er.

Johanna wurde bang ums Herz. Anastasius hatte auf ihren Schwur mit einem perfekten Gegenschlag pariert, indem er sich auf das Recht des coniuratio berufen hatte, nach dem die Schuld oder Unschuld eines Beklagten durch eine Probe bewiesen werden konnte, bei der es darauf ankam, welche der gegnerischen Parteien die größere Anzahl von sacramentales oder »Eideshelfern« auf ihrer Seite hatte, um die jeweilige Aussage zu untermauern.

Sofort erhob Arsenius sich aus seinem Stuhl und trat neben den Sohn. Dann kamen die übrigen langsam nach vorn, einer nach dem anderen, und gesellten sich zu ihnen, darunter Jordanes, der secundicerius, der sich gegen Johanna gestellt hatte, als es um die Errichtung der Schule für Frauen gegangen war. Auch der sacellarius Viktor schlug sich auf Anastasius’ Seite.

Reumütig dachte Johanna an Gerolds wiederholte Ermahnungen, höflicher mit ihren Gegnern zu verfahren. Doch in |535|ihrem Eifer, noch möglichst viele Dinge zu Ende zu führen, bevor sie Rom verließ, hatte sie Gerolds Ratschlag nicht die gebotene Aufmerksamkeit geschenkt. Nun bekam sie die Quittung dafür.

»Ich werde als sacramentale für Gerold dienen«, erhob eine Stimme sich plötzlich klar und deutlich aus dem hinteren Teil des Saales.

Johanna und die anderen beobachteten, wie Raduin, der stellvertretende Kommandeur der päpstlichen Garde, sich mit Schultern und Ellbogen einen Weg durch die Menge bahnte. Dann nahm er standhaft neben Gerold Aufstellung. Raduin wiederum ermunterte andere, seinem Beispiel zu folgen: Binnen kurzer Zeit kam Juvianus, der Kammerdiener, nach vorn, gefolgt von den Kardinälen Josef und Theodor, sechs Diözesanbischöfen sowie mehreren Dutzend Angehörigen des niederen Klerus, die ihrer größeren Nähe zum Volk wegen besser zu schätzen wußten, was Johanna für sie getan hatte. Der Rest der Versammelten hielt sich zurück; sie waren nicht bereit, sich auf die eine oder andere Seite zu schlagen.

Als alle, die sich für eine der gegnerischen Parteien entschieden hatten, nach vorn gekommen waren, wurde die Zählung vorgenommen: dreiundfünfzig Männer standen auf Gerolds Seite, vierundsiebzig auf Daniels.

Lothar räusperte sich und verkündete: »Das Urteil Gottes ist uns hiermit offenbar. Tritt vor, superista, und nimm dein Urteil entgegen.«

Die Wächter wollten Gerold packen, doch er schüttelte sie ab. »Die Anklage beruht auf einer Lüge, mögen noch so viele Männer einen Meineid leisten, um sie zu stützen«, sagte er. »Ein Gottesurteil soll über meine Schuld oder Unschuld entscheiden, wie es mir von Rechts wegen zusteht.«

Johanna zog scharf den Atem ein. Hier, im südlichen Teil des Kaiserreiches, wurde das Gottesurteil durch Feuer vollzogen, nicht durch Wasser. Ein Angeklagter mußte barfuß über eine fünf Meter lange Reihe aus weißglühenden Pflugscharen gehen. Falls er es bis auf die andere Seite schaffte, war seine Unschuld erwiesen. Doch nur wenige Menschen überlebten diese Folterqualen.

Durch den Saal übermittelten Gerolds indigoblaue Augen Johanna eine stumme, drängende Botschaft: Versuche nicht, mich aufzuhalten.

|536|Er wollte sich für sie opfern! Falls er den Weg über die glühenden Eisen schaffte, war seine – und ihre – Unschuld bewiesen. Aber dieser Beweis würde Gerold höchstwahrscheinlich das Leben kosten.

Genau wie Hrotrud, ging es der verzweifelten Johanna durch den Kopf – und im selben Moment durchfuhr sie eine Eingebung.

Aeskulapius.

Ciceros De inventione …

»Bevor wir fortfahren«, sagte sie, »möchte ich dem magister militum einige Fragen stellen.«

»Fragen?« Lothar runzelte die Stirn.

»Das ist vollkommen unnötig!« protestierte Anastasius. »Wenn der superista den Wunsch hat, sich dem Gottesurteil zu unterziehen, ist das sein gutes Recht. Oder zweifelt Ihr, Heiligkeit, an der Gültigkeit des göttlichen Richterspruches?«

Gelassen erwiderte Johanna: »Ganz und gar nicht. Ebensowenig wie ich an der Gültigkeit von Ergebnissen zweifle, die das vernunftbestimmte Denken hervorbringt – ist es doch eine Fähigkeit, die dem Menschen von Gott gegeben wurde. Was kann es da schaden, wenn ich dem Kläger ein paar Fragen stelle?«

»Ich …« In Ermangelung eines stichhaltigen Gegenarguments zuckte Anastasius die Schultern und verstummte. Doch auf seinem Gesicht spiegelte sich lodernder Zorn.

Johanna furchte die Brauen, als sie sich konzentrierte und sich an Ciceros topoi zu erinnern versuchte – jene sechs Fragen, die man stellen mußte, um die Umstände des menschlichen Handelns eindeutig beweisbar zu bestimmen.

Quis.

»Wer«, fragte sie Daniel, »hat außer Euch das angebliche Gespräch zwischen mir und dem superista sonst noch mitgehört?«

»Niemand«, erwiderte Daniel. »Aber die Anzahl meiner Eideshelfer dürfte meine Aussage ja wohl hinreichend stützen.«

Johanna ging zur nächsten Frage über.

Quomodo.

»Wie kam es überhaupt, daß Ihr Zeuge eines so privaten Gesprächs geworden seid?«

Daniel zögerte nur einen Augenblick, bevor er antwortete: »Zu dem Zeitpunkt kam ich auf dem Weg zum Schlafsaal am |537|triclinium vorbei. Als ich gesehen habe, daß die Tür offenstand, bin ich dorthin gegangen, um sie zu schließen. In diesem Augenblick hörte ich den superista reden.«

Ubi.

»Wo hat der superista zu diesem Zeitpunkt gestanden?«

»Vor dem Thron.«

»Also in etwa dort, wo er jetzt steht?«

»Ja.«

Quando.

»Wann habt Ihr diese Beobachtungen gemacht?«

Nervös zupfte Daniel am Kragen seiner Tunika. Die Fragen kamen so schnell, daß er kaum Zeit zum Nachdenken hatte. »Äh … am Fest der heiligen Agatha.«

Quid.

»Was genau habt Ihr gehört?«

»Das habe ich dem Gericht bereits gesagt.«

»Waren es die genauen Worte des superista, oder habt Ihr das Gespräch nur im ungefähren Wortlaut wiedergegeben?«

Daniel grinste überheblich. Hielt Papst Johannes ihn für so dumm, daß er in eine so offensichtliche Falle tappte? Mit fester Stimme sagte er: »Ich habe genau das wiedergegeben, was der superista gesagt hat.«

Johanna beugte sich im Papstthron ein Stück vor. »Gut. Dann laßt mich einmal sehen, ob ich Euch richtig verstanden habe, Daniel. Nach Eurer Aussage habt Ihr am Tag des Festes der heiligen Agatha vor der offenen Tür des triclinium gestanden und jedes Wort eines Gesprächs mitgehört, in dessen Verlauf der superista mir angeblich gesagt hat, daß Rom ein Bündnis mit den Griechen eingehen sollte.«

»Genauso ist es«, sagte Daniel.

Johanna wandte sich Gerold zu. »Wo wart Ihr am Tag des Festes der heiligen Agatha, superista?« fragte sie.

»Ich war in Tivoli«, antwortete Gerold, »und habe die Arbeiten am Marcianischen Aquädukt abgeschlossen.«

»Könnt Ihr Zeugen dafür erbringen?«

»Mehrere Dutzend von meinen Männern haben von morgens bis abends mit mir zusammengearbeitet. Sie alle können bezeugen, wo ich an diesem Tag gewesen bin.«

»Wie könnt Ihr das erklären, magister militum?« fragte Johanna.»Ein Mensch kann nicht an zwei Orten gleichzeitig sein, meint Ihr nicht auch?«

|538|Daniel war sichtlich blaß geworden. »Äh… ähm…«, stammelte er, als er fieberhaft nach einer Antwort suchte.

»Könnte es sein, daß Ihr Euch im Datum geirrt habt, magister militum?« versuchte Anastasius, ihm auf die Sprünge zu helfen. »Es ist doch gut möglich, daß Ihr nach so vielen Monaten eine so unbedeutende Einzelheit vergessen habt. Nicht wahr?«

Begierig packte Daniel die dargebotene Chance beim Schopf. »Ja, ja. Jetzt, wo ich genau daran zurückdenke … das Gespräch hat eher stattgefunden. Am Fest des heiligen Ambrosius, nicht an Sankt Agatha. – Was für ein dummer Fehler von mir!«

»Wo ein Fehler ist, können noch weitere sein«, erklärte Johanna sanft. »Kommen wir also noch einmal auf Eure Aussage zurück. Ihr habt erklärt, jedes Wort verstanden zu haben, das gesprochen wurde, als Ihr draußen vor der Tür gestanden habt.«

»Ähm … ja«, antwortete Daniel behutsam, denn er war jetzt mißtrauisch und vorsichtig geworden.

»Dann habt Ihr sehr scharfe Ohren, magister militum. Bitte, führt uns Eure außergewöhnliche Hellhörigkeit doch einmal vor, indem Ihr dieses Kunststück wiederholt.«

»Was?« Daniel war jetzt vollkommen aus der Fassung gebracht.

»Geht zur Tür hinaus und bleibt davor stehen – dort, wo Ihr damals gestanden habt. Der superista wird einige Worte sprechen. Dann kommt Ihr wieder herein und wiederholt vor uns allen, was er gesagt hat.«

»Herrgott noch einmal, was soll denn dieser Unsinn?« ereiferte sich der wutentbrannte Anastasius.

Auch Lothar bedachte Johanna mit einem mißbilligenden Blick. »Gewiß stimmt Ihr mir zu«, sagte er, »daß die Benutzung solcher Taschenspielertricks der Ernsthaftigkeit dieser Verhandlung nicht würdig ist, Heiligkeit.«

»Majestät«, erwiderte Johanna, »ich habe keine Taschenspielerei im Sinn, sondern eine Probe. Falls Daniel die Wahrheit sagt, dann muß es ihm möglich sein, den superista jetzt ebenso gut zu hören, wie er es damals vermochte.«

»Ich protestiere, Euer Gnaden!« sagte Anastasius. »Eine solche Vorgehensweise widerspricht allen üblichen Methoden der Rechtsfindung bei einer Verhandlung wie dieser!«

|539|Lothar überdachte die Angelegenheit. Anastasius hatte recht; eine solche »Probe«, wie der Papst sie im Sinn hatte, um eine Anschuldigung zu beweisen oder zu entkräften, war unüblich – eine seltsame und neuartige Idee. Andererseits hatte Lothar keinen Grund zu der Annahme, daß Daniel log. Zweifellos würde er Papst Johannes’ ungewöhnlichen »Test« bestehen, und dies würde Daniels Aussage zusätzliche Glaubwürdigkeit verleihen. Und vom Ausgang dieser Verhandlung hing zu viel ab, als daß man hinterher in Frage stellen durfte, daß es gerecht zugegangen sei.

Gebieterisch winkte Lothar mit der Hand. »Die Probe soll stattfinden.«

Widerwillig ging Daniel durch den langen Saal zur Ausgangstür und nahm auf dem Flur Aufstellung.

Johanna legte einen Finger auf die Lippen und bedeutete Gerold, zu schweigen. Dann sagte sie mit lauter, klarer Stimme: »Ratio est iustitia summa insita in lege«, wobei sie ein Zitat Ciceros verwendete. »Beim Gesetz ist die Vernunft das höchste Recht.« Sie nickte dem Wächter neben der Tür zu. »Hol Daniel zurück.«

»Nun?« fragte sie, als der magister militum wieder vor ihr stand. »Was habt Ihr gehört?«

Daniels Antwort war unsicher und klang eher wie ein Frage: »Der superista … hat erneut … seine Unschuld … bekundet …?«

Diejenigen, die nach vorn gekommen waren, um sich Daniels Antwort anzuhören, schrien empört auf, während Anastasius sich enttäuscht abwandte. Lothars ständig düstere Miene wurde noch düsterer.

»Das waren nicht die Worte, die gesprochen wurden«, erklärte Johanna. »Außerdem habe ich selbst sie gesagt, nicht der superista.«

In die Enge getrieben, brach es wütend aus Daniel hervor: »Was macht es schon aus, ob ich das Gespräch tatsächlich mitgehört habe oder nicht! Euer Tun hat Eure wahre Einstellung deutlich genug bewiesen! Schließlich habt Ihr den Griechen Nicephorus zum Bischof geweiht!«

»Ah!« sagte Johanna. »Das führt uns zur letzten Frage: cur. Warum? Warum habt Ihr dem Kaiser gegenüber die Falschaussage gemacht, Zeuge dieses angeblichen Gesprächs gewesen zu sein? Ich will es Euch sagen, Daniel. Nicht der Wunsch nach Recht und Wahrheit war Euer Antrieb, sondern Neid – |540|weil nicht Eurem Sohn, sondern Nicephorus das Bischofsamt übertragen wurde!«

»Schande!« rief eine Stimme aus der Menge und wurde rasch von anderen aufgenommen. »Verräter!« –»Lügner!« –»Schurke!«

Selbst die sacramentales – eifrig darauf bedacht, sich nun von Daniel zu distanzieren – fielen in die Flut der Beschuldigungen ein.

Johanna hob eine Hand und gebot den Versammelten zu schweigen. Gespannt warteten alle, welches Urteil sie nun über Daniel verhängen würde. Bei einem so schweren Verbrechen mußte es eine sehr harte Strafe sein. Wahrscheinlich wurde dem Mann zuerst die Zunge herausgeschnitten, die so lügnerische und verräterische Worte geformt hatte; anschließend wurde Daniel vermutlich gefoltert und zum Schluß gevierteilt.

Doch Johanna hatte nicht die Absicht, einen so schrecklichen Preis von Daniel einzufordern. Sie hatte erreicht, was sie wollte: Gerolds Unschuld zu beweisen. Es bestand keine Veranlassung, Daniel das Leben zu nehmen; zwar war er ein widerlicher kleiner Mann, boshaft und gierig; aber er war nicht schlimmer oder verderbter als andere Menschen, die Johanna kennengelernt hatte. Es kam hinzu, daß Daniel aus väterlichem Interesse für den eigenen Sohn gehandelt hatte; außerdem war er kaum mehr als ein Spielzeug in Anastasius’ Händen gewesen.

»Magister militum Daniel«, sagte Johanna ernst. »Von diesem Augenblick an seid Ihr aller Eurer Titel ledig, all Eurer Ländereien und aller Privilegien beraubt. Ihr werdet Rom noch heute verlassen und seid für alle Zeiten aus der heiligen Stadt verbannt.«

Angesichts der unerwarteten Milde des Urteils verstummte die Menge vor Erstaunen. Eustathius, der Erzpriester, nutzte die Gelegenheit und verkündete: »Gelobt sei Gott in der Höhe! Gelobt sei Sankt Petrus, Fürst der Apostel, durch den die Wahrheit sich nunmehr offenbart hat! Möge dem heiligen Vater, unserem Papst Johannes, ein langes Leben beschieden sein!«

»Ein langes Leben!« riefen die anderen Würdenträger. Donnernd hallten ihre Stimmen von den Wänden des triclinium wider, so daß die silbernen Feuerschalen an den Wänden bebten.

|541|»Was hast du denn erwartet?« sagte Arsenius zu seinem Sohn, der auf einer der Liegen saß, und schritt erregt im Zimmer auf und ab. »Papst Johannes mag arglos und unschuldsvoll sein, aber ein Dummkopf ist er nicht. Du hast ihn unterschätzt.«

»Das stimmt«, gab Anastasius zu. »Aber es spielt keine Rolle. Ich bin wieder in Rom – und ich habe die volle Unterstützung des Kaisers und seiner Truppen.«

Arsenius unterbrach seine nervöse Wanderung. »Was willst du damit sagen?« fragte er scharf.

»Daß ich mich jetzt in einer Lage befinde, mir zu nehmen, was ich durch eine Wahl nicht bekommen kann, Vater.«

Arsenius starrte ihn an. »Du willst den Papstthron mit Waffengewalt erobern? Jetzt?«

»Warum nicht?«

»Weil du zu lange fort gewesen bist, mein Sohn. Du weißt nicht, wie die Dinge hier gestanden haben. Es stimmt – Papst Johannes hat sich viele Feinde gemacht; aber er wird auch von vielen Seiten unterstützt.«

»Was schlägst du dann vor, Vater?«

»Hab Geduld. Kehre ins Frankenreich zurück, stelle die Segel richtig und warte.«

»Worauf?«

»Daß die Winde des Schicksals die Richtung ändern.«

»Und wann wird das sein? Ich habe lange genug darauf gewartet, mir zu nehmen, was mir von Rechts wegen zusteht!«

»Es wäre gefährlich, überstürzt zu handeln. Denk daran, was mit Johannes, dem Diakon, geschehen ist.«

Johannes der Diakon war Gegenkandidat bei jener Papstwahl gewesen, aus der Sergius als Sieger hervorgegangen war. Nach der Wahl war der enttäuschte Johannes mit einer großen Heerschar bewaffneter Gefolgsleute zum Patriarchum marschiert und hatte den Papstthron mit Gewalt an sich gerissen. Doch die weltlichen Fürsten der Stadt hatten sich gegen Johannes erhoben; binnen weniger Stunden eroberten ihre vereinten Truppen das Patriarchum zurück und setzten Johannes ab. Am nächsten Tag wurde Sergius feierlich zum Papst geweiht – während Johannes’ abgeschlagener Kopf auf der Spitze einer Pike steckte, die auf dem Hof des Laterans in den Boden gerammt war.

»So etwas wird mir nicht passieren, Vater«, sagte Anastasius |542|zuversichtlich. »Ich habe mir die ganze Sache genau überlegt. Gott weiß, daß ich Zeit genug zum Nachdenken hatte, als ich all die Jahre in der finstersten Provinz dieses Barbarenlandes verbringen mußte.«

Arsenius entging nicht der unausgesprochene Vorwurf, der in den Worten seinen Sohnes mitschwang. »Und was genau schlägst du vor?« fragte er.

»Am Freitag ist Bittag. Die Stationsmesse findet in Sankt Peter statt. Papst Johannes wird die Prozession zur Kathedrale führen. Wir warten, bis er ein gutes Stück zurückgelegt hat; dann stürmen wir das Patriarchum. Es wird alles vorüber sein, bevor Johannes auch nur einen Verdacht geschöpft hat, was vor sich geht.«

»Lothar wird seinen Truppen niemals befehlen, das Patriarchum zu stürmen. Er weiß, daß ein solcher Angriff sämtliche Römer gegen ihn aufbringen würde, selbst diejenigen, die auf seiner Seite stehen.«

»Wir brauchen Lothars Soldaten nicht, um das Patriarchum zu erobern. Das schaffen unsere eigenen Leute auch allein. Und sobald der Papstthron erst einmal fest in meiner Hand ist, wird Lothar mich unterstützen; da bin ich sicher.«

»Schon möglich«, erwiderte Arsenius. »Aber es wird nicht einfach sein, den päpstlichen Palast zu erobern. Der superista ist ein hervorragender Kämpfer, und die Männer der päpstlichen Garde sind ihm treu ergeben.«

»Das Hauptaugenmerk des superista wird auf die persönliche Sicherheit des Papstes gerichtet sein. Da Lothar und sein Heer in der Stadt sind, werden Gerold und der größte Teil seiner Männer die Prozession zu Pferde begleiten und Papst Johannes bewachen.«

»Und nachher? Dir ist doch wohl klar, daß Gerold mit allen Kräften, die ihm zur Verfügung stehen, gegen dich anrücken wird?«

Anastasius lächelte. »Mach dir wegen Gerold keine Sorgen, Vater. Ich habe bereits einen Plan, wie wir ihn ausschalten können.«

Arsenius schüttelte den Kopf. »Es ist zu riskant. Falls du keinen Erfolg hast, bedeutet es das Ende deiner Familie … das Ende all dessen, wofür wir so viele Jahre gekämpft haben.«

Er hat Angst, dachte Anastasius, und diese Erkenntnis erfüllte ihn mit heimlicher Genugtuung. Sein Leben lang hatte |543|er sich auf die Hilfe und den Rat seines Vaters gestützt – und hatte dies zugleich aus tiefster Seele verabscheut. Jetzt, endlich einmal, erwies er sich als der Stärkere.

Vielleicht, ging es Anastasius durch den Kopf, während er den alten Mann mit einer Mischung aus Mitleid und Liebe betrachtete, vielleicht war diese Angst, dieser Mangel an Willenskraft im alles entscheidenden Moment der Grund dafür, daß ihm der Weg zu wahrer Größe versperrt geblieben ist.

Sein Vater bedachte ihn mit einem seltsamen Blick. In den Tiefen dieser vertrauten, geliebten Augen, die mit den Jahren verblaßt waren, konnte Anastasius Kummer und Besorgnis lesen – und noch etwas anderes; etwas, das er nie zuvor in diesen Augen erblickt hatte: Achtung.

Er legte Arsenius die Hand auf die Schulter. »Vertraue mir, Vater. Ich werde dich zu einem stolzen Mann machen, das verspreche ich.«

 

Der Bittag war ein festes, kein bewegliches Fest, das stets am 25. April gefeiert wurde. Wie viele andere unbewegliche Feiertage – darunter das Fest des Stuhles Petri, die Quatemberwochen und Weihnachten – konnte auch der Bittag bis auf heidnische Wurzeln zurückverfolgt werden. Im antiken Rom hatten am 25. April stets die Robigalia stattgefunden, die heidnischen Feste zu Ehren des Robigo, des Gottes von Frost und Eis, der gerade zu dieser Jahreszeit durch sein Erscheinen den erblühenden Früchten des Feldes verheerende Schäden zufügen konnte, sofern man ihn nicht durch Geschenke und Opfer gnädig zu stimmen versuchte.

Die Robigalia waren ein fröhliches Fest gewesen, zu dem auch ein Umzug durch die Stadt bis auf die Getreidefelder gehörte, wo feierlich Tieropfer dargebracht wurden; dann fanden auf den weiten Feldern der Campagna Wettläufe und Spiele und andere Arten von Vergnügungen statt. Statt nun diese altehrwürdige Tradition aus der antiken römischen Zeit zu beenden, hatten die frühen Päpste klugerweise beschlossen, das Fest beizubehalten; eine Abschaffung hätte lediglich dazu geführt, daß man jene Menschen vor den Kopf gestoßen hätte, die man erst noch für den wahren Glauben gewinnen wollte. Allerdings wurde dem Fest ein mehr christlicher Charakter verliehen.

Die Prozession am Bittag führte noch immer über die Getreidefelder; |544|doch zuerst wurde an Sankt Peter haltgemacht, wo eine feierliche Messe gelesen wurde, um Gott zu preisen und – vermittels der Fürbitte durch die Heiligen – seinen Segen für die Ernte zu erflehen.

Das Wetter war dem Anlaß entsprechend: Der Himmel über Rom war tiefblau wie ein frisch gefärbtes Kleidungsstück und vollkommen wolkenlos; die Sonne warf ihr goldenes Licht auf Bäume und Häuser, und ihre willkommene Wärme vertrieb den immer noch eisigen Hauch eines Nordwindes.

Johanna ritt in der Mitte der Prozession hinter den Akoluthen und den defensores, die zu Fuß gingen, sowie den sieben Diakonen aus den verschiedenen Regionen Roms, die zu Pferde unterwegs waren. Hinter Johanna ritten die optimates und andere Würdenträger aus dem apostolischen Palast. Als der lange Zug sich mit seinen farbenfrohen Wimpeln und Bannern über den Hof des Laterans bewegte und am Bronzestandbild der mater romanorum vorüberzog, der römischen Wölfin, verlagerte Johanna des öfteren das Körpergewicht auf dem Rücken ihres weißen Zelters; offenbar war der Sattel nicht richtig aufgeschnallt, denn ihr tat jetzt schon der Rücken weh; der dumpfe, pochende Schmerz kam und verschwand in regelmäßigen Abständen.

Zusammen mit anderen Wachtposten ritt Gerold immer wieder zwischen der Spitze der Prozession und dem Schluß hin und her. Dann brachte er seinen Hengst auf gleiche Höhe mit Johannas Pferd und fragte besorgt: »Fühlt Ihr Euch nicht wohl? Ihr seht blaß aus.«

»Es geht mir gut.« Sie lächelte ihn an; seine Nähe gab ihr Kraft.

Die lange Prozession bog in die Via Sacra ein, und augenblicklich wurde Johanna mit donnernden Jubelrufen begrüßt. Da Lothar und sein Heer sich in der Stadt aufhielten und eine ständige Bedrohung darstellten, hatten sich so viele Menschen wie nie zuvor auf den Straßen und Gassen eingefunden, um ihrem Papst, dem mächtigsten Bollwerk gegen den Kaiser, ihre Liebe und Unterstützung zu zeigen. Die Leute drängten sich zehn Meter tief und mehr zu beiden Straßenseiten, bejubelten Johanna und riefen ihr Segenswünsche zu; viele streckten die Hände nach ihr aus, so daß die Soldaten der päpstlichen Garde gezwungen waren, die Gläubigen zurückzudrängen, damit die Prozession nicht ins Stocken geriet. Falls Lothar |545|noch einen Beweis für Johannas Beliebtheit gebraucht hatte: hier war er.

Singend und Weihrauchgefäße schwenkend, schritten die Akoluthen dem langen Zug durch die uralte Straße voran, durch die schon seit Jahrhunderten die Päpste gezogen waren. An diesem Tag bewegte die Prozession sich noch langsamer als gewöhnlich; denn an den Straßenrändern hatten sich wie üblich ganze Heerscharen von Bittstellern postiert, so daß die Prozession häufig stehenbleiben mußte, damit Johanna sich die Anliegen und Bitten der Menschen anhören konnte. Als der Zug wieder einmal hielt, warf sich eine alte Frau mit narbigem Gesicht und grauem Haar vor Johanna zu Boden.

»Vergebt mir, Heiliger Vater«, rief die Frau flehend, »vergebt mir das Unrecht, das ich Euch angetan habe!«

»Steh auf, gute Frau, und beruhige dich«, sagte Johanna. »Ich wüßte nicht, was du mir angetan hättest.«

»Habe ich mich so sehr verändert, daß Ihr mich nicht wiedererkennt?« fragte die Frau.

Irgend etwas in dem verwüsteten Gesicht, das flehentlich Johanna zugewandt war, ließ plötzlich die Erinnerung wiederkehren.

»Marioza?« rief Johanna. Die einst so schöne Kurtisane war um mindestens dreißig Jahre gealtert, seit Johanna sie das letzte Mal gesehen hatte. »Großer Gott, was ist mit Euch geschehen?«

Reuevoll hob Marioza eine Hand zu ihrem von Narben entstellten Gesicht. »Das waren Messerwunden. Die Abschiedsgeschenke eines eifersüchtigen Liebhabers.«

»Benedicte!«

Marioza sagte voller Bitterkeit: »›Macht Euer Glück nicht von der Gefälligkeit der Männer abhängig, denn sie werden sich als so flüchtig erweisen wie Eure Schönheit‹, habt Ihr vor langer Zeit zu mir gesagt. Ihr hattet recht. Die Liebe der Männer ist mir zum Verhängnis geworden. Dies ist meine Strafe – die Strafe Gottes für das schändliche Spiel, das ich einst mit Euch getrieben habe. Vergebt mir, Heiliger Vater, auf daß ich nicht in Ewigkeit verdammt bin!«

Johanna machte das Kreuzzeichen über der gezeichneten Frau. »Ich vergebe dir gern, Marioza, mit all meiner Liebe und von ganzem Herzen.«

Marioza umklammerte Johannas Hand und küßte sie, |546|während die Menschen, die diese Szene beobachteten, in begeisterten Jubel ausbrachen.

Die Prozession zog weiter. Als sie an der Kirche Sankt Clemens vorüberkamen, hörte Johanna einen plötzlichen Lärm zu ihrer Linken. Eine Gruppe von Rüpeln und Störenfrieden in den hinteren Reihen der Zuschauer johlte und warf mit Steinen nach den Teilnehmern der Prozession. Einer traf Johannas Pferd am Hals; das Tier bockte wild, so daß Johanna im Sattel einen wuchtigen Stoß erhielt. Augenblicklich durchzuckte ein scharfer, schneidender Schmerz ihren Körper, der ihr den Atem raubte. Benommen klammerte sie sich am vergoldeten Zaumzeug des Pferdes fest, während die Diakone besorgt zu ihr eilten.

 

Gerold entdeckte die Gruppe der Störenfriede als erster. Er riß sein Pferd herum und trieb es auf die Kerle zu, kaum daß sie den ersten Hagel von Steinen nach den Teilnehmern der Prozession geschleudert hatten.

Als sie Gerold herankommen sahen, ergriffen die Schläger – etwa zwanzig Mann – die Flucht. Entschlossen trieb Gerold sein Pferd hinter ihnen her. Doch vor den Stufen der Treppe von Sankt Clemens wirbelten die Männer plötzlich herum, zogen verborgene Waffen aus den Falten ihrer Kleidung und stürmten dem Reiter entgegen.

Gerold zog sein Schwert und gab den anderen Gardisten in der Nähe ein drängendes Zeichen, ihm zu Hilfe zu kommen. Doch kein bestätigender Ruf ertönte, kein Hufschlag klang hinter ihm auf. Gerold war ganz allein, als die Männer ihn umringten und mit ihren Waffen nach ihm stachen, hackten und schlugen. Doch Gerold führte sein Schwert mit schrecklicher Kraft und Präzision; binnen weniger Augenblicke waren vier seiner Angreifer schwer verwundet, während Gerold nur einen einzigen Messerstich im Oberschenkel abbekommen hatte. Dann aber zerrten die Schläger ihn vom Pferd. Gerolds Körper erschlaffte, als er seinen Gegnern Bewußtlosigkeit vortäuschte. Doch seine Hand lag fest um den Griff seines Schwertes.

Kaum war er auf den Boden geprallt, sprang er auf, das Schwert in der Faust. Mit einem überraschten Schrei stürmte der Angreifer vor, der Gerold am nächsten stand, und stach mit dem Schwert nach ihm. Gerold wich zur Seite aus, so daß |547|der Mann aus dem Tritt und ins Stolpern geriet. Wuchtig hieb Gerold nach dem Angreifer; der Mann stürzte zu Boden, und aus seinem abgetrennten Arm spritzte das Blut. Weitere Angreifer drangen auf Gerold ein, doch nun hörte er die Rufe der Wachtposten, die hinter ihm herbeigeeilt kamen. Er mußte der Übermacht nur noch wenige Augenblicke standhalten, dann war die Hilfe da. Das Schwert ausgestreckt vor sich, wich Gerold zurück, wobei er die Angreifer wachsam im Auge behielt, die ihm wie ein Rudel Wölfe folgten.

Der Dolch traf Gerold von hinten und glitt ihm mit lautloser Tücke zwischen die Rippen, so, wie ein Dieb in ein Heiligtum eindringt. Noch bevor ihm bewußt wurde, was geschehen war, wurden ihm die Knie weich, und er sank langsam zu Boden. Selbst jetzt noch staunte er, daß er keinen Schmerz spürte; er fühlte nur das warme Blut, das ihm über den Rücken strömte.

Über ihm hörte er wilde Rufe und das Klirren von Stahl. Die anderen Wachtposten waren endlich herangekommen und trieben die Angreifer wütend zurück. Ich muß an ihrer Seite kämpfen, dachte Gerold benommen und versuchte, nach dem Schwert zu greifen, das neben ihm am Boden lag, doch er konnte keine Hand mehr rühren.

 

Johanna hielt den Atem an, als sie beobachtete, wie Gerold sein Pferd zur Seite trieb und auf die Steinewerfer lospreschte. Sie sah, wie andere Soldaten der päpstlichen Garde ihrem Befehlshaber folgen wollten – nur um von einer Gruppe Männer aufgehalten zu werden, die sich in der Zuschauermenge befunden hatten; die Fremden schlossen sich zu einer Mauer aus Leibern zusammen und versperrten den Gardisten den Weg, als hätten sie ein unsichtbares Zeichen erhalten.

Eine Falle! durchfuhr es Johanna. Verzweifelt rief sie Gerold eine Warnung zu, doch ihre Worte wurden vom Lärm der verwirrten und erstaunten Menschenmenge übertönt. Johanna gab ihrem Pferd die Sporen, um zu Gerold zu gelangen, doch das Tier rührte sich nicht von der Stelle, denn die Diakone hielten eisern das Zaumzeug gepackt.

»Laßt los!« rief Johanna. »Laßt los!« Doch die Männer gehorchten ihr nicht; sie hatten Angst, das Pferd könnte durchgehen. Hilflos mußte Johanna zuschauen, wie die Schläger Gerold umringten; sie sah, wie die Kerle die Hände nach ihm |548|ausstreckten, um ihn zu Boden zu reißen, wie sie nach seinem Gürtel packten, nach seiner Tunika, nach seinen Armen; dann beobachtete Johanna, wie sie ihn schließlich vom Pferd zerrten. Für einen winzigen Augenblick erblickte sie noch einmal Gerolds schimmerndes rotes Haar; dann verschwand er unter der wimmelnden Masse der Angreifer.

Johanna ließ sich vom Pferd gleiten und rannte los, stieß und schubste sich einen Weg durch die Gruppe der verwirrten und verängstigten Akoluthen. Als sie den Straßenrand erreichte, teilte die Menge sich bereits und bildete eine Gasse für die Männer der päpstlichen Garde, die auf Johanna zukamen, Gerolds schlaffen Körper in den Armen.

Sie legten ihn zu Boden, und Johanna kniete neben ihm nieder. Ein Rinnsal aus Blut lief ihm aus dem Mundwinkel, und rasch löste Johanna das lange, rechteckige Pallium von ihren Schultern, knüllte es zusammen, preßte es fest gegen die Wunde in seinem Rücken und versuchte, den Blutstrom zu stillen. Doch es war sinnlos; binnen weniger Minuten war der dicke Stoff blutdurchtränkt.

Panische Angst stieg in Johanna auf. Eine so schreckliche Furcht hatte sie nie zuvor erlebt.

Stirb nicht, Gerold. Laß mich hier nicht allein.

Gerolds Hand tastete blind umher. Johanna nahm sie sanft in die ihre, und ein schwaches Lächeln spielte um seinen Mund. »Mein Schatz«, flüsterte er.

Johanna spürte, wie er starb, noch bevor er einen letzten, tiefen Atemzug tat und sein Körper in ihren Armen schwer wurde. Sie streichelte sein Gesicht. Es war still und friedlich; die Lippen waren leicht geöffnet, und seine indigoblauen Augen starrten leer und blicklos zum Himmel.

»Er ist zu Gott gegangen«, sagte Desiderius, der Erzdiakon, der neben Johanna stand. »Kommt.« Er nahm ihren Arm. »Laßt ihn uns zur Kirche bringen.«

Benommen, wie aus weiter Ferne, hörte Johanna Desiderius’ Worte. Er hatte recht. Sie mußte dafür sorgen, daß Gerold die angemessenen Ehrungen und Würdigungen zuteil wurden; mehr konnte sie nicht mehr für ihn tun.

Als Johanna sich erhob, durchfuhr sie ein so schrecklicher Schmerz, daß sie sich krümmte, zu Boden fiel und keuchend nach Atem rang. Ihr Körper wand sich in schrecklichen Krämpfen, gegen die sie sich nicht zur Wehr setzen konnte. |549|Sie spürte einen furchtbaren Druck auf sich lasten, so, als wäre ein riesiges Gewicht auf sie hinuntergestürzt. Der Druck wanderte im Innern ihres Körpers immer tiefer und tiefer, bis Johanna das Gefühl hatte, er würde sie förmlich auseinanderreißen.

Das Kind, durchfuhr es sie. Es kommt.

»Der Papst ist vom Teufel besessen!« rief Desiderius voller Erschrecken. »Deus misereatur!«

Die Menschen schrien und weinten; fassungslos starrten sie auf das furchtbare Geschehen.

Aurianos, der oberste Exorzist, kam nach vorn geeilt. Er besprenkelte Johanna mit Weihwasser, während er mit feierlicher Stimme intonierte: »Exorcizo te, creatura mali, in nomine Dei patris omnipotentis et in nomine Jesu Christi filii eius Domini nostri …«

Aller Augen waren auf Johanna gerichtet; jeder erwartete, den bösen Geist aus ihrem Mund oder den Ohren entweichen zu sehen.

Johanna schrie, als mit einer letzten schrecklichen Schmerzwoge der Druck in ihrem Innern wich und ein gewaltiger Blutschwall aus ihrem Leib schoß.

Abrupt verstummte Aurianos’ monotone Stimme, und fassungsloses Schweigen breitete sich aus.

Unter dem Saum der weiten weißen Roben Johannas, die nun mit ihrem Blut getränkt waren, war der winzige bläuliche Körper einer Frühgeburt zu sehen.

Desiderius gewann als erster die Fassung wieder. »Ein Wunder!« rief er und ließ sich auf die Knie fallen.

»Hexenwerk!« brüllte eine andere Stimme, und die Umstehenden bekreuzigten sich.

Mit einemmal drängten die Leute nach vorn, um sich anzuschauen, was geschehen war. Sie schubsten und stießen sich und kletterten vor Neugierde sogar übereinander hinweg, um besser sehen zu können.

»Zurück! Zurück mit euch!« riefen die Diakone und benutzten ihre Kruzifixe, um die unruhige, brodelnde Menge in Schach zu halten. An mehreren Stellen in der langen Reihe der Prozession kam es zu Schlägereien, und die Wachtposten stürmten dorthin und brüllten mit rauhen Stimmen Befehle.

Johanna hörte dies alles wie aus weiter Ferne. Als sie auf der Straße lag, in ihrem eigenen Blut, überkam sie plötzlich |550|ein unfaßbares, erhabenes Gefühl inneren Friedens. Die Straße, die Menschen, die farbenprächtigen Banner der Prozession erstrahlten in wundervoll leuchtenden Farben vor ihrem geistigen Auge, wie die Fäden eines riesigen Wandteppichs, dessen Muster sie allein zu erkennen vermochte.

Noch einmal wuchs ihr gewaltiger Geist heran, bis er die Leere in ihrem Innern füllte. Sie wurde in ein wundervolles, strahlendes Licht gebadet. Glaube und Zweifel, Wille und Verlangen, Herz und Verstand – endlich, am Ende ihres Weges, erkannte Johanna, daß dies alles eins war und daß dieses Eine Gott war.

Das Leuchten wurde heller. Lächelnd ging sie darauf zu, während die Lichter und Laute der irdischen Welt schwächer und schwächer wurden und schließlich erloschen, wie der Mond, wenn die Morgenröte kommt.