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Der neue Papst nahm seine Pflichten mit so viel jugendlichem Elan in Angriff, daß alle Welt nur so staunte. Scheinbar über Nacht verwandelte sich das Patriarchum von einem verstaubten, klösterlichen Ort in einen wimmelnden Bienenstock hektischer Betriebsamkeit. Notare und Schreiber eilten über die Flure, beladen mit Pergamentrollen, auf denen Pläne und Karten, Satzungen, Schenkungen und Urkundenregister verzeichnet waren.

Eine der ersten Anweisungen Leos lautete, die Befestigungen der Stadt zu verstärken. Auf Geheiß des neuen Papstes nahm Gerold eine sorgfältige Überprüfung der gesamten Stadtmauer vor, wobei er jede Schwachstelle genau verzeichnete. Nach seinen Vorschlägen wurden anschließend Pläne erarbeitet, und man nahm die Instandsetzung und Verstärkung der Stadtmauer und der Tore in Angriff. Drei Tore und fünfzehn Mauertürme mußten vollständig neu errichtet werden. Zwei weitere neue Türme wurden an den gegenüberliegenden Ufern des Tiber erbaut – dort, wo der Fluß am portischen Tor auf das Stadtgebiet gelangte. Zwischen diesen Türmen wurden schwere Ketten aus gehärtetem Eisen über den Fluß gespannt, die mittels zweier Winden in die Höhe gezogen werden konnten, so daß sie jedem Schiff die Weiterfahrt versperrten. Auf diese Weise zumindest würden die Sarazenen nicht noch einmal in die Stadt eindringen können.

Doch es blieb noch die schwierige Frage offen, wie man Sankt Peter schützen konnte; denn die Kirche lag ja außerhalb der Stadtmauern. Um das Problem zu erörtern, berief Leo ein Treffen ein, an dem die hohen kirchlichen Würdenträger sowie die optimates teilnahmen, darunter Johanna und Gerold.

Verschiedene Vorschläge wurden unterbreitet – darunter die Errichtung einer ständigen Garnison der päpstlichen Garde, welche die offene Säulenhalle des Domes umschließen |442|sollte, sowie die Befestigung der Türen und Fenster des Gotteshauses durch Eisenstangen.

Leo reagierte skeptisch auf diesen Vorschlag. »Derartige Maßnahmen würden nur dazu dienen, ein gewaltsames Eindringen zu verzögern und nicht, es zu verhindern.«

»Mit allem Respekt, Heiligkeit«, sagte Anastasius, »aber die Verzögerung ist unsere beste Verteidigung. Wenn wir die Barbaren so lange zurückdrängen können, bis die kaiserlichen Truppen eintreffen …«

»Falls sie eintreffen …«, unterbrach Gerold ihn trocken.

»Ihr müßt auf Gott vertrauen, superista«, wies Anastasius ihn zurecht.

»Das tue ich. Aber wenn es nach Eurem Vorschlag ginge, müßte ich auf Lothar vertrauen. Und das tue ich nicht.«

»Verzeiht, superista«, sagte Anastasius mit übertriebener Höflichkeit, »daß ich Euch auf das Offensichtliche hinweisen muß, aber derzeit haben wir keine andere Möglichkeit, da Sankt Peter nun einmal außerhalb der Stadtmauer liegt, wie Ihr vielleicht schon bemerkt habt.«

Johanna sagte: »Aber wir könnten die Kirche ins Innere der Mauer bringen.«

Anastasius’ dunkle Brauen hoben sich spöttisch. »Was schlagt Ihr denn vor, Johannes? Das ganze Gebäude Stein um Stein in die Stadt zu schaffen?«

»Nein«, erwiderte Johanna. »Ich schlage vor, die Stadtmauern um Sankt Peter herum zu erweitern.«

»Eine neue Mauer!« sagte Leo, dessen Interesse geweckt war.

»Das ist ganz unmöglich!« erregte sich Anastasius. »Ein so gewaltiges Projekt wurde seit den Tagen des römischen Imperiums nicht mehr in Angriff genommen.«

»Dann wird es höchste Zeit, es wieder zu tun«, entgegnete Leo.

»Uns fehlen die Mittel!« protestierte der arcarius Gratius, der päpstliche Schatzmeister. »Wir könnten die gesamte Staatskasse leeren, und die Arbeit wäre nicht einmal zur Hälfte getan!«

Leo ließ sich diesen Einwurf durch den Kopf gehen. »Wir werden neue Steuern erheben. Schließlich ist es nur recht und billig, daß eine Stadtmauer, die zum Schutze aller dient, auch mit Hilfe aller gebaut wird, die dafür zu bezahlen imstande sind.«

|443|Gerold dachte bereits einen Schritt weiter. »Wir könnten hier mit dem Bau anfangen«, sagte er und zeigte auf einen Stadtplan. »Am Kastell Sankt Angelus. Von dort aus nach dieser Seite und den vatikanischen Hügel hinauf«, mit der Fingerspitze zog er eine imaginäre Linie, »dann um Sankt Peter herum, und von da aus in gerader Richtung zum Tiber.«

Die hufeisenförmige Linie, die Gerold gezeichnet hatte, umschloß nicht nur den Petersdom sowie die umliegenden Klöster und Wohnhäuser, sondern den gesamten Stadtteil Borgo, in dem sich die übervölkerten Siedlungen der Sachsen, Friesen, Franken und Langobarden befanden.

»Das ist ja eine Stadt für sich!« rief Leo.

»Civitas Leonina …«, sagte Johanna. »Leostadt.«

Anastasius und die anderen blickten verärgert drein, während Leo, Gerold und Johanna sich fröhlich und verschwörerisch zulächelten.

 

Der Entwurf für die Mauer wurde nach wochenlangen Beratungen mit den Baumeistern der Stadt fertiggestellt. Es war ein ehrgeiziges Vorhaben. Die Mauer sollte aus mehreren Lagen Kalktuff- und Ziegelsteinen bestehen und gut zwölf Meter hoch und vier Meter dick sein. Nicht weniger als vierundvierzig Türme sollten zur Verteidigung dienen – eine Barriere, die selbst der entschlossensten Belagerung standhalten konnte.

Auf Leos Aufruf hin strömten aus sämtlichen Gegenden des Kirchenstaates Arbeiter in die Stadt. In drangvoller Enge quartierten sie sich in den heißen, von Menschen wimmelnden Mietskasernen von Borgo ein und nahmen alle Möglichkeiten der Stadt, ihre neuen, zusätzlichen Bewohner mit Nahrung, Wasser und Wohnraum zu versorgen, bis an die Grenzen in Anspruch. Und so fleißig und loyal diese Arbeiter auch waren, mangelte es ihnen an Ausbildung und der nötigen Erfahrung auf einer so riesigen Baustelle, so daß es sich als schwierig erwies, ihre Arbeit zu koordinieren. Tag für Tag mußten sie angewiesen werden, was, wie und wo sie zu arbeiten hatten. Im Juli, am Vorabend des Festes Johannes des Täufers, brach plötzlich ein Teilstück der Mauer ein; mehrere Arbeiter wurden von herabfallenden Steinen erschlagen.

Der Klerus, der von den Kardinälen der Stadt angeführt wurde, bat den Papst, das Vorhaben aufzugeben und argumentierte, daß der Zusammenbruch des Mauerstücks ein eindeutiger |444|Beweis für Gottes Mißbilligung des Bauvorhabens sei. Die ganze Idee sei ohnehin verrückt, erklärten sie; ein derart hohes Bauwerk könne nie und nimmer stehenbleiben. Und selbst wenn: Man könne die Mauer niemals rechtzeitig fertigstellen, daß sie als Schutzwall gegen die Sarazenen zu dienen vermochte. Es wäre viel besser, alle Kräfte der Menschen auf frommes Beten und Fasten zu lenken, um den Zorn Gottes von Rom abzuwehren.

»Wir werden beten, als käme es allein auf Gott an – und wir werden arbeiten, als käme es allein auf uns an«, entgegnete Leo den Kardinälen dickköpfig. Jeden Tag ritt er zur Mauer, um sich vom Fortgang der Arbeit zu überzeugen und die Handwerker anzutreiben. Nichts konnte den Papst in seiner Entschlossenheit wankend machen, das Bauwerk fertigzustellen.

Johanna bewunderte Leos störrischen Trotz gegenüber den Skeptikern und Kritikern. Was den Charakter und das Temperament betraf, war Leo ganz anders als Sergius, seligen Angedenkens. Der neue Papst war ein wahrer geistiger Führer, ein Mann voller Schwung und Energie und mit gewaltiger Willenskraft.

Doch Johannas Bewunderung für Leo wurde nicht von jedermann geteilt. Die Meinung in der Stadt war geteilt zwischen denen, die das Bauwerk befürworteten und denen, die es ablehnten. Bald wurde deutlich, daß Leos Macht als Papst, in bildlichem Sinne gesprochen, mit der Mauer stand und fiel.

 

Anastasius war sich dieser Tatsache und der Möglichkeiten, die sich daraus ergaben, sehr wohl bewußt. Leos Besessenheit, was die Stadtmauer betraf, machte ihn verletzbar. Falls das Projekt fehlschlug, konnte die Woge der öffentlichen Abneigung, die sich dabei bilden würde, Anastasius genau jene Chance verschaffen, die er brauchte. Dann konnten seine Anhänger in der kaiserlichen Partei zum Lateranpalast marschieren, den in Ungnade gefallenen Papst aus seinem Amt entfernen und ihren eigenen Kandidaten auf den Thron Petri erheben.

Und wenn er erst einmal Papst war, würde Anastasius den heiligen Dom von Sankt Peter dadurch schützen, indem er die Bindungen zwischen Rom und dem fränkischen Thron erneuerte und stärkte. Lothars Armeen würden sich als weitaus besserer |445|Schutz gegen die Horden der Ungläubigen erweisen als Leos verrückte Stadtmauer.

Aber du mußt vorsichtig sein! ermahnte sich Anastasius. Erst einmal war es am besten, sich nicht öffentlich gegen Leo zu stellen; jedenfalls solange nicht, wie die Leute noch die Ergebnisse der waghalsigen Unternehmung des Papstes abwarteten.

Die klügste Strategie bestand darin, Leo öffentlich zu unterstützen, dabei aber zugleich alles zu tun, um das Bauvorhaben zu erschweren. Zu diesem Zweck hatte Anastasius bereits für den Einsturz des Mauerstücks gesorgt, bei dem mehrere Arbeiter den Tod gefunden hatten. Es war nicht weiter schwierig gewesen; einige seiner vertrauenswürdigsten Leute hatten sich in der Nacht hinausgeschlichen und durch heimliche Grabungen am Fuße der Mauer das Fundament unterhöhlt. Doch der Einsturz hatte sich nur als geringfügiger Rückschlag erwiesen. Es mußte mehr geschehen, schlimmeres – eine Katastrophe, deren Ausmaß groß genug war, daß diesem lächerlichen Projekt ein für allemal ein Ende bereitet wurde.

Anastasius zermarterte sich das Hirn, als er nach einer Möglichkeit suchte, seinen Sabotageplan in die Tat umzusetzen. Doch immer wieder endeten seine Gedanken in einer Sackgasse, und er mußte eine aufkeimende Hoffnungslosigkeit niederkämpfen. Könnte er doch mit der Hand eines Riesen nach der Mauer packen, sie aus der Erde reißen und mit einem gewaltigen Wurf in die Flammen der Hölle schleudern!

Die Flammen der Hölle …

Anastasius setzte sich ruckartig auf, als eine plötzliche Idee ihn durchfuhr.

 

Johanna erwachte nur langsam. Für einen Moment lag sie verwirrt da und starrte auf die ihr unbekannte Balkenkonstruktion an der Zimmerdecke. Dann fiel es ihr wieder ein: Sie befand sich nicht im Schlafsaal, sondern in ihren eigenen Gemächern – eins der Privilegien ihres hohen Amtes als nomenclator. Auch Gerold hatte man Privatzimmer im Patriarchum zur Verfügung gestellt, doch er hatte seit mehreren Wochen nicht mehr dort geschlafen; statt dessen nächtigte er in der Scola Francorum in Borgo, um schneller an der Stadtmauer sein zu können, an deren Fertigstellung noch immer gearbeitet wurde.

|446|Johanna hatte ihn aus der Ferne beobachtet, wie er an der Baustelle vorbeiritt und die Arbeiter ermunterte oder sich über einen Tisch beugte, um mit den Baumeistern Pläne und Entwürfe zu besprechen. Johanna und Gerold hatten allenfalls Gelegenheit, einen flüchtigen Blick oder einen kurzen Gruß auszutauschen. Doch jedesmal, wenn Johanna ihn sah, schlug ihr Herz schneller. Mein Frauenkörper, dachte sie mit wehmütigem Lächeln, ist wirklich ein Verräter.

Es kostete sie ziemliche Mühe, ihre Aufmerksamkeit auf die Arbeit zu richten, die an diesem Tag anstand und auf die Pflichten, die sie erfüllen mußte.

Das Licht der Morgendämmerung sickerte bereits durchs Fenster. Erschrocken wurde ihr plötzlich klar, daß sie verschlafen hatte. Wenn sie sich nicht beeilte, kam sie zu spät zu den Laudes, dem Morgengebet.

Doch als sie sich aus dem Bett schwang, erkannte sie, daß nicht das Licht der Dämmerung in ihr Zimmer fiel. Das war gar nicht möglich, denn das Fenster lag nach Westen.

Sie rannte durchs Zimmer, blickte hinaus in die Nacht. Hinter der dunklen Silhouette des palatinischen Hügels, an der gegenüberliegenden Seite der Stadt, züngelten lange Bänder aus rotem und orangefarbenem Licht in den mondlosen Himmel.

Flammen. Und sie loderten in Borgo auf.

Ohne stehenzubleiben, um in ihre Schuhe zu schlüpfen, die neben dem Bett standen, eilte Johanna barfuß über die Flure. »Feuer!« rief sie. »Feuer! Feuer!«

In den Zimmern erklangen gedämpfte Stimmen und Geräusche, als die Bewohner sich aus den Betten schwangen. Dann wurden mehrere Türen aufgestoßen, und die Leute strömten aufgeregt auf die Flure. Auch Arighis kam herbeigeeilt und rieb sich den Schlaf aus den Augen.

»Was hat das zu bedeuten?« fragte er streng.

»Borgo steht in Flammen!«

»Deo, iuva nos!« Arighis bekreuzigte sich. »Ich werde Seine Heiligkeit wecken.« Er eilte zum päpstlichen Schlafgemach.

Johanna stürmte die Treppe hinunter und durch die Tür ins Freie. Von hier aus war das Feuer nicht so gut zu sehen; denn die zahlreichen Kirchen und Kapellen, Klöster und die Wohnhäuser von Priestern, die das Patriarchum umgaben, versperrten die Sicht. Dennoch konnte man erkennen, daß die |447|Flammen sich ausgebreitet hatten, denn inzwischen wurde der ganze Nachthimmel von grellem Licht erhellt.

Andere folgten Johanna hinaus auf den Säulengang. Sie ließen sich auf die Knie fallen, weinten und riefen mit lauten Stimmen Gott und den heiligen Petrus an. Dann erschien Leo, barhäuptig und in einer schlichten Tunika; er hatte sich nicht die Zeit genommen, seine Amtsroben anzulegen.

»Hol die Wache«, befahl er dem am nächsten stehenden Kammerdiener. »Und wecke die Stallburschen. Sie sollen jedes verfügbare Pferd satteln und jeden Wagen bereitmachen.« Der Junge rannte davon, um den Befehlen nachzukommen.

Dann wurden die Pferde herbeigeführt; sie waren störrisch und gereizt, daß man sie mitten in der Nacht aus der Behaglichkeit ihrer Ställe geholt hatte. Leo stieg auf das vorderste Pferd, einen Fuchshengst.

»Ihr wollt doch nicht etwa dorthin reiten, Heiligkeit?« stieß Arighis entsetzt hervor.

»O doch«, erwiderte Leo und nahm die Zügel auf.

»Aber … das geht doch nicht, Heiligkeit! Das ist zu gefährlich! Es wäre gewiß viel angebrachter, Ihr würdet hier bleiben und eine Messe lesen, auf daß Borgo errettet wird.«

»Außerhalb der Wände einer Kirche kann ich genausogut beten wie innerhalb«, sagte Leo. »Geht zur Seite, Arighis.«

Widerwillig gehorchte der Haushofmeister. Leo trat dem Hengst die Hacken in die Weichen und galoppierte die Straße hinunter. Johanna und mehrere Dutzend päpstlicher Wachen schwangen sich in die Sättel und folgten dichtauf.

Mit düsterer Miene blickte Arighis ihnen nach. Er war kein guter Reiter. Aber sein Platz war an der Seite des Papstes; falls Leo an seinem närrischen Plan festhielt, war es Arighis’ Pflicht, ihn zu begleiten. Unbeholfen stieg er auf ein Pferd und folgte den anderen.

Sie ritten im Galopp; gespenstisch warfen ihre Fackeln flackerndes Licht an die Wände der Häuser, und die Schatten der Reiter schienen einander die dunklen Straßen hinunter zu jagen wie eine Horde wilder Geister. Als sie sich Borgo näherten, stieg ihnen der stechende Geruch von Rauch in die Nasen, und sie hörten ein gewaltiges Brüllen, als würden tausend wilde Bestien gleichzeitig heulen, jaulen und kläffen. Schließlich bogen sie um eine Ecke und sahen das Feuer unmittelbar vor sich.

|448|Es war ein Bild wie aus der Hölle. Das gesamte Viertel stand in Flammen; alles war in einen dichten Mantel aus Feuer gehüllt. Durch den wabernden roten Nebel sahen sie, wie die Holzgebäude sich im glühenden Griff der Flammen wanden und drehten, bis sie verzehrt wurden. Als scharfe schwarze Schattenrisse hoben sich die Gestalten von Menschen vor der Feuerwand ab; sie huschten umher wie winzige schwarze Teufel, welche die Seelen der Verdammten peinigten.

Die Pferde wieherten, scheuten zurück und warfen die Köpfe in den Nacken. Mit wankenden Schritten kam ein Priester durch den wabernden Rauch zu den Reitern hinübergerannt; sein schweißnasses Gesicht war rußverschmiert.

»Heiligkeit! Ihr seid gekommen! Gelobet sei Gott der Herr!« Dem Akzent und der Kleidung nach zu urteilen hielt Johanna den Mann für einen Franken.

»Ist es so schlimm, wie es aussieht?« fragte Leo knapp.

»Genau so schlimm – und schlimmer«, erwiderte der Priester. »Das Hadrianium ist zerstört, und auch das Hospiz Sankt Peregrinus. Die ausländischen Gemeinden gibt es ebenfalls nicht mehr – die Scola Saxorum und ihre Kirche sind völlig niedergebrannt. Auch die Gebäude der Scola Francorum stehen in Flammen. Ich konnte nur mit knapper Not mein Leben retten.«

»Habt Ihr Markgraf Gerold gesehen?« fragte Johanna drängend.

»Den superista?« Der Priester schüttelte den Kopf. »Er hat in einem der oberen Stockwerke bei den Steinmetzen geschlafen; ich bezweifle, daß einer von ihnen noch ins Freie gekommen ist. Das Feuer und der Rauch haben sich zu schnell ausgebreitet.«

»Was ist mit den Überlebenden?« wollte Leo wissen. »Wo sind sie?«

»Die meisten haben in Sankt Peter Zuflucht gesucht. Aber das Feuer ist überall. Wenn wir es nicht löschen können, besteht die Gefahr, daß auch die Peterskirche ein Raub der Flammen wird!«

Leo streckte die Hand aus. »Kommt mit uns. Wir reiten sofort dorthin.« Der Priester schwang sich hinter Leo aufs Pferd, und die Gefährten galoppierten in Richtung Peterskirche.

Johanna folgte den anderen nicht. Sie hatte nur ein Ziel: zu Gerold zu gelangen.

Vor ihr breitete sich der äußere Rand der Feuersbrunst aus; |449|dort gab es kein Durchkommen. Johanna umritt die Flammen, bis sie an eine Reihe geschwärzter, zerstörter Straßen gelangte, über die das Feuer bereits hinweggefegt war. Sie bog in eine dieser Straßen ab, von der sie wußte, daß sie zur Scola Francorum führte, der fränkischen Gemeinde.

Noch immer brannten vereinzelte Feuer auf beiden Seiten der Straße, und der Rauch wurde dichter. Die Angst schnürte Johanna die Kehle zu, doch sie zwang sich weiterzureiten. Der Rotschimmel jedoch scheute und wehrte sich; er wollte nicht weiter, doch Johanna rief ihm aufmunternd zu und trat ihm in die Seiten, bis er unruhig vorantänzelte. Johanna kam durch eine Landschaft des Grauens – von der Hitze geschrumpfte Baumstümpfe; verkrümmte Skelette von Gebäuden; verkohlte und geschwärzte Körper jener Menschen, die auf der Flucht in eine Falle geraten waren. Johanna gab es einen Stich ins Herz: Diesem Inferno war mit Sicherheit kein lebendes Wesen entronnen.

Plötzlich und unerwartet ragten die Mauern eines Gebäudes vor ihr auf. Die fränkische Gemeinde! Die Kirche und die umliegenden Häuser waren zu Asche verbrannt, doch wie ein Wunder stand das Hauptgebäude der scola noch immer.

In Johanna regte sich neue Hoffnung; das Herz schlug ihr bis zum Hals. Vielleicht war Gerold der Flammenhölle doch entkommen! Oder er war noch im Innern des Gebäudes. Vielleicht war er verletzt und brauchte Hilfe …

Der Rotschimmel blieb wie angewurzelt stehen und weigerte sich, auch nur einen weiteren Schritt zu tun. Wieder trat Johanna ihm die Hacken in die Seiten; diesmal aber bäumte das Tier sich trotzig auf und warf die Reiterin ab. Dann preschte es in wildem Galopp davon.

Benommen lag Johanna am Boden. Der Aufprall hatte ihr den Atem geraubt. Neben ihr lag die Leiche eines Menschen, schwarz und glänzend wie geschmolzener Obsidian; der Rücken war im Todeskampf durchgebogen. Würgend und keuchend erhob sich Johanna und rannte zur scola hinüber. Sie mußte Gerold finden; alles andere zählte nicht.

Überall waren brennende Aschestücke: auf dem Boden, auf ihrer Kleidung, in ihrem Haar, und in einer heißen, erstickenden Wolke um sie herum in der Luft. Heiße Glut versengte ihr die Füße. Jetzt bedauerte sie, die Schuhe nicht angezogen zu haben, aber nun war es zu spät.

|450|Die Eingangstür der scola schälte sich vor ihr aus dem Rauch. Noch ein paar Meter, und sie war dort. »Gerold!« rief sie. »Wo bist du?«

Plötzlich – so heftig und unberechenbar wie der Wind, der sie voranpeitschte – drehten die Flammen in eine andere Richtung und wirbelten einen Schauer brennender Splitter auf das schindelgedeckte Dach des Hauptgebäudes, das von der Hitze bereits so trocken wie Zunder war. Die Holzschindeln leuchteten dunkelrot auf; dann fingen sie Feuer. Augenblicke später stand das ganze Gebäude in Flammen.

Johanna spürte, wie die Hitze ihr das Haar versengte; schmerzhaft brannte ihr die Kopfhaut. Wie mit glühenden Zungen leckte das Feuer nach ihr.

»Gerold!« rief sie noch einmal gegen das Tosen der Glut; dann wurde sie von den näher rückenden Flammen zurückgetrieben.

 

Gerold war bis spät in die Nacht aufgeblieben und hatte über seinen Plänen für die Stadtmauer gesessen. Als er schließlich die Kerze ausblies, war er dermaßen erschöpft, daß er sofort in einen tiefen, traumlosen Schlaf fiel.

Der Geruch von Rauch weckte ihn. Da muß sich eine Lampe entzündet haben, dachte er und schwang sich aus dem Bett, um die Flamme zu löschen. Schon der erste Atemzug schien ihm die Lungen zu verbrennen; vor Schmerz sank er auf die Knie und rang nach Atem. Feuer! Aber woher kommt es? Der dichte Rauch machte es unmöglich, mehr als nur ein paar Meter weit zu blicken.

Irgendwo in der Nähe erklangen die entsetzten Schreie von Kindern. Hustend und keuchend tastete Gerold sich in die ungefähre Richtung. Dann erschienen zwei verängstigte Gesichter in der Dunkelheit. Es waren ein Junge und ein Mädchen, dem Aussehen nach nicht älter als vier oder fünf. Sie rannten zu Gerold, klammerten sich an ihn, weinten und jammerten kläglich.

»Es wird alles wieder gut.« Er gab eine Zuversicht vor, die er gar nicht besaß. »Bald sind wir hier heraus. Habt ihr schon mal Pferd und Reiter gespielt?«

Die Kinder schauten ihn mit großen Augen an und nickten.

»Gut.« Gerold hob sich das Mädchen auf den Rücken, dann den Jungen. »Haltet euch fest. Wir reiten jetzt hinaus.«

|451|Mit dem zusätzlichen Gewicht der Kinder auf dem Rücken bewegte er sich schwerfällig. Der Rauch war noch dichter geworden; die Kinder keuchten und husteten in der erstickenden Luft. Gerold kämpfte eine aufsteigende Furcht nieder. Viele Opfer eines Feuers hatte man ohne äußere Zeichen der Todesursache gefunden; in der Hitze und dem Rauch hatte einfach ihre Atmung ausgesetzt.

Plötzlich stellte Gerold fest, daß er die Orientierung verloren hatte. Er versuchte, mit den Blicken die Dunkelheit zu durchdringen, doch der Rauch wurde immer dichter, und er konnte die Tür nicht mehr sehen.

»Gerold!« rief eine Stimme durch die erstickende Düsternis. Schwankend erhob er sich und tastete sich blind voran in die ungefähre Richtung des Geräusches.

 

Vor den Mauern von Sankt Peter wurde eine offene Schlacht gegen das herannahende Feuer geschlagen. Um den bedrohten Dom zu schützen, hatte sich eine Menschenmenge eingefunden – Mönche in schwarzen Roben aus dem benachbarten Kloster Sankt Johannes sowie ihre Kapuzen tragenden Gegenstücke aus dem griechischen Kloster Sankt Cyril; Diakone; Priester und Meßdiener; Huren und Bettler; Männer, Frauen und Kinder aus den ausländischen scolae in Borgo – Sachsen, Langobarden, Friesen und Franken. Da es keine zentrale Befehlsstelle gab, waren die Bemühungen dieser verstreuten Gruppen weitgehend nutzlos. Sie unternahmen den verzweifelten, ungeordneten Versuch, Krüge, Eimer und andere Gefäße zu den Brunnen und Zisternen in der Nähe zu tragen, um Löschwasser herbeizuschaffen – mit dem Erfolg, daß der eine Brunnen hoffnungslos umlagert war, während der andere vollkommen verlassen dalag. Die Leute riefen sich etwas in einer verwirrenden Vielzahl von Sprachen zu; sie stießen und schubsten sich, um ihre Eimer zu füllen; im Eifer des Gefechts prallten Krüge gegeneinander und zerbrachen, so daß das kostbare Wasser im Boden versickerte. Während dieser ungeordneten Schlacht gegen das Feuer wurde die Winde an einem der Brunnen zerbrochen; um an das Wasser zu gelangen, mußten mehrere Leute den Brunnenschacht hinunterklettern und den Eimer von einem zum anderen nach oben reichen – eine Vorgehensweise, die so zeitraubend und kräftezehrend war, daß man sie bald aufgab.

|452|»Zum Fluß! Zum Fluß!« riefen die Leute und eilten den Hügel hinunter zum Tiber. In ihrer Angst und Verwirrung rannten einige mit leeren Händen los und erkannten erst, als sie am Flußufer standen, daß sie gar kein Gefäß dabei hatten, um Löschwasser zur Peterskirche hinauf zu tragen. Andere wiederum schleppten riesige Gefäße herbei, die sich als zu schwer für sie erwiesen, nachdem sie gefüllt waren; die halbe Strecke den Hügel hinauf, ließen sie die Gefäße fallen und weinten vor Kummer und hilfloser Verzweiflung.

Inmitten dieses Chaos stand Leo, im Gebet versunken, vor den Türen von Sankt Peter – so fest und unverrückbar wie die Steine der riesigen Kathedrale. Daß der Papst bei ihnen war, gab den Menschen Kraft. Solange Leo ausharrte, bestand noch Hoffnung, war noch nicht alles verloren. Und so kämpften die Menschen weiter gegen die Flammen, die jedoch so unaufhaltsam näher kamen wie das Wasser bei Flut; unerbittlich trieb das Feuer die Reihen der Verteidiger zurück.

Zur Rechten des Petersdomes stand die Bibliothek des Klosters Sankt Martin bereits in Flammen; brennende Pergamentfetzen wirbelten aus den geborstenen Fenstern, wurden vom Wind erfaßt und auf das Dach der Kathedrale getragen.

Arighis zupfte Leo am Ärmel. »Ihr müßt fort von hier, Heiligkeit, solange noch Zeit ist!«

Leo beachtete ihn nicht und betete weiter.

Ich rufe die Wachen, dachte Arighis verzweifelt. Ich werde ihn gewaltsam von hier fortbringen lassen. Als Haushofmeister besaß er die nötigen Machtbefugnisse. Dennoch verharrte er in quälender Unentschlossenheit. Brachte er es fertig, sich dem heiligen Vater zu widersetzen – und sei es, um ihn zu retten?

Arighis entdeckte die plötzliche Gefahr als erster. Ein großes Stück eines seidenen Altartuchs wurde zwischen den brennenden Mauern des Klosters von der wabernden Luft emporgewirbelt. Der heftige Wind packte es, straffte es zu einem lodernden Pfeil und schleuderte es durch die Luft, genau auf Leo zu.

Arighis sprang schützend vor den Papst und stieß ihn zur Seite. Einen Augenblick später traf das brennende Altartuch Arighis im Gesicht, versengte ihm die Augen und wickelte sich wie eine flammende Kutte um seinen Kopf und seinen Körper. Binnen Sekunden standen sein Haar und seine Kleidung in Flammen.

|453|Blind und taub vor Schmerz, rannte er in großen Sprüngen die Treppe vor der Kathedrale hinunter, bis die Beine unter ihm nachgaben, so daß er zu Boden stürzte. In den letzten schrecklichen Augenblicken, als sein toter Körper brannte, während sein Hirn noch lebte und arbeitete, erkannte Arighis mit plötzlicher Klarheit, daß dies seine Bestimmung war; dies war der Augenblick des Opfers, auf den sein ganzes Leben gezielt hatte.

»Jesus Christus!« schrie er, als unsäglicher Schmerz ihm das Herz zerriß.

 

Die Rauchwolke lichtete sich ein wenig, so daß Gerold die offene Tür vor sich sah. Dahinter stand Johannas Gestalt, wabernd in der hitzeflirrenden Luft; ihr weißgoldenes Haar erstrahlte im Licht der Flammen wie ein Heiligenschein. Mit letzter Kraft richtete Gerold sich auf, schleppte sich und die beiden Kinder in Richtung der Tür und taumelte hustend hindurch.

Johanna sah ihn aus Rauch und Dunst auftauchen und rannte zu ihm. Sie nahm ihm die schluchzenden Kinder aus den Armen und drückte sie fest an sich, während ihr Blick auf Gerold haftenblieb, der schwankend dastand, zu Tode erschöpft, und kein Wort hervorbrachte.

»Gott sei Dank«, sagte Johanna schlicht.

Doch die Botschaft in ihren Augen sagte unendlich viel mehr.

 

Sie ließen die Kinder in der Obhut einer Gruppe von Nonnen zurück und eilten zur Kathedrale, wo Gerold mit einem Blick erkannte, daß die kleine Armee, die sich gegen das Feuer wehrte, an den falschen Stellen postiert war. Sie bekämpften die Flammen aus zu geringer Entfernung und mußten angesichts ihres gnadenlosen Vormarsches immer weiter zurückweichen.

Gerold übernahm das Kommando und befahl den Männern, auf sicheren Abstand zurückzuweichen und eine Feuerschneise zu legen, indem sie die Sträucher aus dem Boden und die Äste von den Bäumen rissen und alles Brennbare fortschafften. Zum Schluß gruben sie die Grasnarbe um und wässerten den so entstandenen kahlen Streifen Boden.

Als Johanna den Funkenregen sah, der auf die Peterskirche |454|niederging, riß sie einem vorübereilenden Mönch den Eimer Wasser aus der Hand und kletterte aufs Kirchendach. Andere folgten ihr: erst zwei, dann vier, dann zehn. Die Menschen bildeten eine Kette und reichten gefüllte Wassereimer von einem zum anderen; nachdem die Eimer ausgegossen waren, wanderten sie von Hand zu Hand wieder in Gegenrichtung zurück zu den Brunnen und Zisternen. Weiterreichen, leeren, zurückreichen, füllen, weiterreichen – in stetem Rhythmus arbeiteten die Leute Seite an Seite; bald schmerzten ihnen die Arme vor Anstrengung; die Gesichter und die Kleidung waren rußverschmiert, und offene Münder rangen in der rauchgeschwängerten Luft nach Atem.

Unter ihnen, am Fuße des Hügels, kroch das Feuer zwar langsamer heran, doch die Gefahr war noch nicht gebannt. Gerold und seine Helfer arbeiteten mit verzweifelter Eile daran, die Feuerschneise zu verbreitern.

Auf den Stufen der Kathedrale schlug Leo das Kreuzzeichen; sein Gesicht war flehend zum Himmel gewandt. »Allmächtiger Gott«, betete er, »erhöre unsere Bitten und hilf uns in der Not.«

Dann erreichte der näher rückende Brand die Feuerschneise. Die Flammen schienen anzuschwellen, so, als würden sie Kraft sammeln, um über den kahlen Streifen Boden hinwegzuspringen. Gerold und seine Leute griffen das Feuer mit weiteren Kübeln und Eimern voller Wasser an. Die Flammen schienen zu zögern; dann zogen sie sich zischend und mit wütendem Prasseln zurück und begannen, sich selbst zu verzehren.

Die Kirche war gerettet.

Johanna spürte Tränen der Freude auf ihrem erhitzten Gesicht.

 

In den ersten Tagen nach dem Brand waren die Leute damit beschäftigt, die Toten zu bergen – jene, deren Leichen noch aufzufinden waren. Die gewaltige Hitze des Feuers hatte viele seiner Opfer zu Asche und verstreuten Knochen verbrannt.

Arighis wurde mit feierlicher Zeremonie beigesetzt, wie es seinem hohen Rang entsprach. Nach der Totenmesse im Lateran wurden seine sterblichen Überreste in der Krypta einer kleinen Kapelle bestattet, in der Nähe der Gräber der beiden Päpste Gregor und Sergius.

|455|Johanna betrauerte diesen Verlust tief. Sie und Arighis hatten zwar so manchen Streit ausgefochten, besonders zu Anfang, doch sie hatten einander zu respektieren gelernt. Sie würde Arighis’ ruhige, besonnene Art vermissen, sein beinahe unerschöpfliches Wissen über jedes noch so kleine Rädchen der gewaltigen, komplizierten Maschinerie des Patriarchums, ja, sogar den unnahbaren, hochmütigen Stolz, mit dem er die Pflichten erfüllt hatte, die sein Amt ihm auferlegte. Es war nur recht und billig, daß er nun für alle Ewigkeit in Ehren neben jenen beiden Päpsten ruhte, denen er so treu gedient hatte.

Nachdem die Trauertage vorüber waren, wandte man sich der schrecklichen Aufgabe zu, die genauen Schäden der Brandkatastrophe zu ermitteln. Die Leoninische Mauer, an der das Feuer offenbar begonnen hatte, war nur leicht beschädigt worden, doch etwa drei Viertel Borgos waren völlig von den Flammen zerstört worden. Von den ausländischen Gemeinden und ihren Kirchen waren kaum mehr als geschwärzte Trümmer geblieben.

Daß die Peterskirche das Inferno überstanden hatte, war wirklich ein reines Wunder – und genau so wurde es binnen kurzer Zeit auch allgemein betrachtet. Papst Leo habe das Feuer gebannt, erzählten sich die Leute, indem er im Angesicht der herannahenden Flammenmauer das Kreuzzeichen gemacht hatte. Diese Version der Ereignisse wurde von den Römern begeistert aufgenommen; denn sie brauchten dringend ein Zeichen dafür, daß Gott sich nicht gegen sie gewandt hatte.

Und nun wurden ihre Hoffnungen erfüllt: Sie entdeckten dieses Zeichen des göttlichen Wohlwollens in dem Wunder, das Leo gewirkt hatte – was jeder, der dabeigewesen war, bereitwilligst bestätigte. Ja, die Zahl der Augenzeugen stieg von Tag zu Tag, bis es den Anschein hatte, als wäre ganz Rom an jenem schicksalhaften Morgen vor dem Petersdom versammelt gewesen.

Alle Kritik an Leo war auf einen Schlag vergessen. Papst Leo war ein Held, ein Prophet, ein Heiliger, eine lebendige Verkörperung des Geistes von Sankt Peter. Die Menschen bejubelten ihn; denn ein Papst, der ein solches Wunder zu wirken vermochte, konnte die Stadt auch vor den sarazenischen Ungläubigen schützen.

Doch der Papst wurde nicht überall bejubelt. Als die Nachricht |456|von seinem Wunder zur Kirche Sankt Marcellus gelangte, wurden die Türen sofort geschlossen und verriegelt. Sämtliche Taufen wurden verschoben; alle Termine abrupt abgesagt. Wer nachfragte, erhielt die Auskunft, daß niemand zu Kardinal Anastasius vorgelassen werden könne, weil Seine Eminenz plötzlich leicht erkrankt sei.

 

Johanna arbeitete Tag und Nacht. Sie verteilte Kleidung, Nahrungsmittel, Arzneimittel und anderes an die Hospize und Wohltätigkeitseinrichtungen der Stadt. Die Hospitäler waren überfüllt mit den Opfern der Feuersbrunst, und es gab zu wenige Ärzte, als daß sie sich um alle Verletzten hätten kümmern können; deshalb half Johanna aus, wann immer sie Zeit erübrigen konnte. Einige Menschen hatten so schwere Brandwunden davongetragen, daß ihnen nicht mehr zu helfen war; man konnte kaum mehr für sie tun, als ihnen ein Schmerzmittel aus Mohn, Alraune und Bilsenkraut zu verabreichen, um ihre Todesqualen zu lindern. Andere hatten entstellende Verbrennungen erlitten, die sich zu entzünden drohten; diesen Patienten legte Johanna Umschläge mit Honig und Aloe auf, ein altbewährtes Mittel gegen Brandwunden. Wieder andere, deren Körper weitgehend von den Flammen verschont geblieben waren, hatten zuviel Rauch in die Lungen bekommen und kämpften mit jedem qualvollen, flachen Atemzug verzweifelt ums Überleben.

Erschöpft und erschüttert angesichts von soviel Leid, Schrecken und Tod, wurde Johanna erneut von einer Glaubenskrise befallen. Wie konnte ein guter und wohlmeinender Gott so etwas geschehen lassen? Wie konnte er zulassen, daß seinen Geschöpfen so schreckliche Wunden zugefügt wurden, selbst unschuldigen Kindern und Säuglingen, die noch keine Sünde auf sich geladen haben konnten?

Das Herz wurde Johanna schwer, als die Schatten ihrer alten Zweifel wieder über sie fielen.

 

Eines Morgens traf sie sich mit Leo, um über die päpstlichen Vorrats- und Lagerhäuser zu reden, die den Opfern der Brandkatastrophe geöffnet werden sollten, als Waldipert, der neue vicedominus, unerwartet ins Zimmer kam. Er war ein großer, knochiger Mann, dessen blasse Haut und das blonde Haar seine lombardische Abstammung erkennen ließen. Johanna |457|kam es seltsam vor, diesen Fremden in Arighis’ Amtskleidung zu sehen.

»Heiligkeit«, sagte Waldipert mit respektvoller Ehrerbietung, »draußen sind zwei Bürger, die dringend um eine sofortige Audienz ersuchen.«

»Sie müssen sich noch gedulden«, erwiderte Leo. »Sie können mir ihr Anliegen später vorbringen.«

»Verzeiht, Heiligkeit.« Waldipert blieb hartnäckig. »Aber ich glaube, Ihr solltet Euch sofort anhören, was sie zu sagen haben.«

Leo hob eine Augenbraue. Hätte Arighis diese Bemerkung gemacht, wäre Leo seiner Aufforderung ungefragt nachgekommen; denn auf Arighis’ scharfes Urteilsvermögen hatte man sich stets verlassen können. Doch Waldipert war neu im Amt und unerfahren; er wußte noch nicht, wo die Grenzen seiner Befugnisse lagen, so daß es durchaus sein konnte, daß er seine Bedeutung viel zu hoch einschätzte.

Leo zögerte; dann beschloß er, zugunsten des unerfahrenen Waldipert zu urteilen. »Also gut. Führt sie herein.«

Waldipert verbeugte sich und ging. Augenblicke später kam er in Begleitung eines Priesters und eines Jungen ins Zimmer zurück. Der Geistliche war untersetzt und hatte eine dunkle Haut. Johanna schätzte ihn sofort als unerschütterlichen, aufrechten Anhänger des Glaubens ein; als einen jener vielen Priester, die in ärmlicher Verborgenheit und unter schwierigsten Verhältnissen in den weniger bedeutenden Kirchen Roms ihrem geistlichen Amt nachgingen. Der Junge war seiner Kleidung nach Altardiener oder Meßgehilfe. Er war ein hübscher junger Bursche, vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahre, kräftig und gut gebaut, mit großen, schönen Augen, die den Eindruck erweckten, als würden sie für gewöhnlich voller Zuversicht und Frohsinn in die Welt blicken. Jetzt aber waren sie von Trauer und Verzweiflung umwölkt.

Demütig legten die Ankömmlinge sich vor dem Papst zu Boden.

»Erhebt euch«, forderte Leo sie auf. »Sagt uns, in welcher Angelegenheit ihr gekommen seid.«

Der Priester meldete sich als erster zu Wort. »Ich bin Paul, Heiligkeit, von Gottes und Euer Gnaden Priester an der Kirche Sankt Lorenzo in Damaso. Dieser Junge hier, Dominik, kam gestern zu mir in die Kapelle und hat mich gebeten, ihm die |458|Ohrenbeichte abzunehmen, was ich ihm natürlich gewährt habe. Was er mir erzählt hat, war so entsetzlich, daß ich ihn hierhergebracht habe, auf daß er es Euch selbst sagt.«

Leo runzelte die Stirn. »Du weißt, mein Sohn, daß das Beichtgeheimnis nicht verletzt werden darf.«

»Der Junge ist aus freien Stücken gekommen, Heiligkeit. Er leidet unter schrecklichen seelischen und spirituellen Qualen.«

Leo wandte sich an Dominik. »Stimmt das? Sag die Wahrheit; es ist keine Schande, wenn du für dich behalten willst, was du gebeichtet hast.«

»Ich möchte es Euch aber sagen, Heiliger Vater«, erwiderte der Junge mit zittriger Stimme. »Ich muß es Euch sagen, um meiner Seele willen!«

»Dann sprich, mein Sohn.«

Dominiks Augen schwammen in Tränen. »Ich habe es nicht gewußt, Heiliger Vater!« stieß er hervor. »Ich schwöre bei den Reliquien aller Heiligen, daß ich nicht wußte, was geschehen würde. Sonst hätte ich es nie und nimmer getan!«

»Was getan, mein Sohn?« fragte Leo sanft.

»Das Feuer gelegt«, erwiderte der Junge, und sein ganzer Körper wurde von wilden Schluchzern geschüttelt.

Für längere Zeit herrschte fassungslose Stille; nur Dominiks Weinen war zu vernehmen.

»Du hast das Feuer gelegt?« fragte Leo dann leise.

»Ja! Möge Gott mir vergeben!«

»Was hat dich zu dieser Tat getrieben?«

Der Junge kämpfte die Tränen nieder und riß sich zusammen. »Er hat mir gesagt, der Bau der Stadtmauer wäre ein großes Übel … wegen des vielen Geldes, der Zeit und der Arbeitskraft, die darauf verwendet werden. Er sagte, wir sollten diese Mittel lieber dazu benutzen, die Kirchen instand zu setzen und die Not der Armen zu lindern.«

»Er?« fragte Leo. »Hat jemand dir die Anweisung erteilt, das Feuer zu legen?«

Der Junge nickte.

»Wer?«

»Kardinal Anastasius, an dessen Kirche ich Altargehilfe bin. Er muß mit der Zunge des Teufels geredet haben, Heiliger Vater, denn er hat so überzeugend gesprochen, daß es mir gut und richtig erschien, was er gesagt hat.«

|459|Nach einer weiteren langen Pause des Schweigens sagte Leo: »Beantworte mir die nächste Frage ehrlich, mein Sohn. Bist du ganz sicher, daß Anastasius dir diesen Befehl erteilt hat? Schwörst du es vor Gott?«

»Ja, Heiliger Vater. Es sollte nur ein kleines Feuer sein«, antwortete Dominik mit erstickter Stimme, »gerade groß genug, um das Baugerüst an der Mauer zu verbrennen. Bei Gott, es war ganz einfach – ich habe ein paar Lappen mit Lampenöl getränkt, sie unter eine Ecke des Baugerüsts geklemmt und angezündet. Eine Zeitlang brannte wirklich nur das Gerüst, genau so, wie mein Herr, der Kardinal, es vorhergesagt hatte. Aber dann kam der Wind auf und hat die Flammen angefacht, und dann … dann …« Er ließ sich schwer auf die Knie fallen. »Oh, Gott!« rief er voller abgrundtiefer Verzweiflung. »Das unschuldige Blut! Ich würde es nie wieder tun, und würden tausend Kardinäle mir den Befehl dazu erteilen!«

Der Junge warf sich Leo zu Füßen. »Helft mir, Heiliger Vater! Helft mir«, rief er und hob ihm sein gequältes Gesicht entgegen. »Ich kann nicht leben mit dem, was ich getan habe! Legt mir eine Buße auf! Bestraft mich! Ich werde jeden Tod erleiden, wie schrecklich er auch sein mag; denn meine Seele wäre wieder rein!«

Starr vor Entsetzen und Mitleid, betrachtete Johanna den Jungen. Der Liste von Anastasius’ Verbrechen mußte nun die Anstiftung zu dieser schrecklichen Tat hinzugefügt werden – wie auch die Verführung dieses Jungen, das Umkehren seines guten Charakters zum Schlechten. Mit seinem aufrichtigen, schlichten Geist hätte Dominik ein so abscheuliches Verbrechen nie und nimmer von selbst begangen, noch hätte sein Gewissen die Last einer solchen Schuld tragen können.

Leo legte dem Jungen die Hand auf den Kopf. »Es hat schon Tod genug gegeben. Welchen Nutzen hätte es für die Welt, wenn der deine auch noch hinzukäme? Nein, Dominik, die Buße, die ich dir auferlege, ist nicht der Tod, sondern das Leben – ein Leben in Sühne und Reue. Von heute an bist du aus Rom verbannt. Du wirst die Pilgerstraße nach Jerusalem gehen, und dort wirst du vor dem Heiligen Grab um die Vergebung Gottes beten.«

Der Junge hob verwundert den Blick. »Und das ist alles?«

»Die Straße der Buße ist niemals leicht zu beschreiten, mein Sohn. Du wirst erkennen, wie beschwerlich deine Reise ist.«

|460|Das stimmt, ging es Johanna durch den Kopf, die an ihre eigene Pilgerreise aus dem Frankenland nach Rom denken mußte. Der Weg war viel härter, als der junge Dominik es sich vorstellen konnte. Er mußte sich von der Familie und den Freunden trennen, von allem, das er gekannt hatte, und den Rest seiner Tage fern der Heimat verbringen, in einem fremden, unbekannten Land. Und auf dem Weg nach Jerusalem würde er vielen Gefahren trotzen müssen – steilen Bergen und tückischen Schluchten; Straßen, die mit Räubern und Dieben verseucht waren; Hunger und Durst und tausend anderen Gefahren.

»Verbringe dein Leben in selbstlosem Dienst für deinen Nächsten«, fuhr Leo fort. »Verhalte dich in allen Dingen so, daß eines Tages das Gewicht deiner vielen guten Taten größer sein wird als die Last dieser einen schweren Sünde.«

Dominik warf sich zu Boden und küßte den Saum von Leos Umhang. Dann erhob er sich, blaß, aber entschlossen. Sein Gesicht war von den seelischen Todesqualen gereinigt, als hätte ein heftiger Regen sie fortgespült. »Ich werde Euch mit Freuden gehorchen, Heiliger Vater. Ich werde alles genau so tun, wie Ihr es befohlen habt. Ich schwöre es beim heiligen Körper und dem Blute Christi, unseres Heilands.«

Leo segnete den Jungen mit dem Kreuzzeichen. »Gehe in Frieden, mein Sohn.«

Dominik und der Priester verließen das Zimmer.

Leo sagte ernst: »Kardinal Anastasius stammt aus einer mächtigen Familie. Alles, was wir tun, muß in strenger Übereinstimmung mit Recht und Gesetz geschehen. Ich werde ein Schreiben abfassen, auf dem ich die Anklagen gegen Anastasius genau ausführe. Komm mit mir, Johannes; vielleicht brauche ich deine Hilfe. Und Ihr, Waldipert …«

»Ja, Heiligkeit?«

Leo nickte ihm beifällig zu. »Gut gemacht.«

 

»Es war klug von Euch, mir diese Neuigkeit zu bringen, vicedominus«, sagte Arsenius. Er befand sich in einem abgeschiedenen Zimmer seines Palasts zusammen mit Waldipert, der soeben seinen Bericht über die Einzelheiten des Gesprächs zwischen Papst Leo und dem Jungen Dominik beendet hatte. »Gestattet mir, meine Dankbarkeit für Eure Hilfe zum Ausdruck zu bringen.«

|461|Arsenius schloß eine kleine Bronzeschatulle auf, die auf seinem Schreibpult stand, nahm zwanzig goldene solidi heraus und reichte sie Waldipert, der die Münzen rasch in seiner Tasche verschwinden ließ.

»Es war mir eine Ehre, Euch zu Diensten zu sein, bischöfliche Gnaden«, sagte Waldipert, verbeugte sich kurz, wandte sich um und ging.

Arsenius war über den ungebührlich knappen Abschied des vicedominus nicht erzürnt; Waldipert mußte wieder im Patriarchum sein, bevor jemandem seine Abwesenheit auffiel.

Arsenius beglückwünschte sich zu seiner Weitsicht: Bereits vor vielen Jahren hatte er in Waldipert – damals war er bloß päpstlicher Kammerdiener gewesen – einen jungen Mann mit Zukunft erkannt. Es war ein teurer Spaß gewesen, sich über all die Jahre hinweg die Loyalität dieses Mannes zu erkaufen. Nun aber, da Waldipert Haushofmeister geworden war, würde Arsenius’ Investition sich bezahlt machen.

Arsenius klingelte nach seinem Diener und befahl ihm: »Geh zur Kirche Sankt Marcellus und richte meinem Sohn aus, er möge sofort zu mir kommen.«

 

Als er die Neuigkeit hörte, ließ Anastasius sich schwer in den Sessel gegenüber dem seines Vaters fallen. Im stillen verfluchte er sich; es demütigte ihn, daß Arsenius erfuhr, wie schrecklich er die Sache verpfuscht hatte.

»Woher hätte ich denn wissen sollen, daß der Junge redet?« sagte Anastasius zu seiner Verteidigung. »Um mich zu verraten, mußte er sich selbst verurteilen.«

»Es war ein Fehler, ihn am Leben zu lassen«, erwiderte Arsenius beiläufig. »Du hättest ihm in dem Augenblick die Kehle durchschneiden sollen, als die Tat vollbracht war. Tja, jetzt läßt es sich nicht mehr ändern. Jetzt müssen wir in die Zukunft blicken.«

»Zukunft?« entgegnete Anastasius mit dumpfer Stimme. »Welche Zukunft?«

»Nur die Schwachen geben sich der Verzweiflung hin, mein Sohn; nicht Menschen wie du und ich.«

»Aber was soll ich denn tun? Die Lage ist aussichtslos.«

»Du mußt Rom verlassen. Jetzt. Noch heute abend.«

»O Gott!« Anastasius barg das Gesicht in den Händen. Die Welt stürzte für ihn zusammen.

|462|»Denk daran, wer du bist und was du bist«, sagte Arsenius streng.

Anastasius setzte sich gerade auf und mühte sich, seine Selbstbeherrschung wiederzuerlangen.

»Du wirst nach Aachen gehen«, sagte Arsenius, »an den Hof des Kaisers.«

Anastasius blickte den Vater entsetzt an. Panische Furcht breitete sich in seinem Innern aus, so daß er zu keinem klaren Gedanken mehr fähig war. »Aber … Lothar weiß, daß ich ihn bei der Papstwahl denunziert habe.«

»Ja, und er weiß ebensogut, weshalb du dazu gezwungen warst. Er ist ein Mann, der politische Notwendigkeiten versteht – wie sonst, glaubst du, hätte er es geschafft, seinem Vater und den Brüdern den Thron zu entreißen? Außerdem braucht er Geld.« Arsenius nahm einen Lederbeutel von seinem Schreibpult und reichte ihn Anastasius. »Falls das kaiserliche Gefieder noch immer vor Zorn gesträubt ist, wird der Inhalt dieses Geldbeutels dazu beitragen, es wieder zu glätten.«

Benommen starrte Anastasius auf den schweren Beutel voller Münzen. Muß ich Rom wirklich verlassen? Der Gedanke, den Rest seiner Tage bei irgendeinem Volksstamm der barbarischen Franken verbringen zu müssen, erfüllte ihn mit Schrecken. Vielleicht wäre es besser, auf der Stelle zu sterben und damit aller Not ein Ende zu machen.

»Du mußt es als eine Gelegenheit betrachten«, sagte sein Vater. »Eine Gelegenheit, sich am kaiserlichen Hof mächtige Freunde zu machen. Du wirst diese Freunde brauchen, wenn du erst Papst bist.«

Wenn du erst Papst bist. Die Worte durchdrangen den dichten Nebel von Anastasius’ Verzweiflung. Er sollte also nicht für den Rest seines Lebens fortgeschickt werden!

»Um deine Angelegenheiten hier in Rom werde ich mich schon kümmern, keine Sorge«, sagte Arsenius. »Die Sympathie der Allgemeinheit wird nicht ewig Leo gelten. Irgendwann wird sie ihren Gipfelpunkt erreichen und dann verebben. Sobald ich der Meinung bin, die Zeit ist reif, werde ich nach dir schicken lassen.«

Die Übelkeit, die Anastasius befallen hatte, ließ allmählich nach. Sein Vater hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben; deshalb konnte auch er selbst noch hoffen.

|463|»Für eine Eskorte nach Aachen habe ich bereits gesorgt«, riß Arsenius’ Stimme ihn aus seinen Gedanken. »Zwölf meiner besten Leute. Komm, ich begleite dich zu den Ställen.«

Die zwölf Wachen hatten bereits aufgesessen und waren aufbruchbereit; mit Schwert und Pike und Streitkolben waren sie bis an die Zähne bewaffnet, so daß Anastasius auf den gefährlichen Straßen geschützt war. Sein Pferd stand in der Nähe und schlenkerte ungeduldig mit dem Kopf. Es war ein kräftiger, lebhafter Brauner – das Lieblingspferd seines Vaters, wie Anastasius erkannte.

»Ihr habt noch zwei, drei Stunden Tageslicht«, sagte Arsenius, »Zeit genug, um einen guten Vorsprung herauszureiten. Heute werden sie die Jagd auf dich nicht mehr eröffnen, denn sie können ja nicht wissen, daß du gewarnt bist. Außerdem wird Leo vorsichtshalber einen offiziellen Befehl für deine Verhaftung ausstellen. Leos Männer werden sich nicht vor morgen früh auf den Weg machen, und ich bin sicher, sie werden zuerst in der Kirche von Sankt Marcellus nach dir suchen. Bis sie auf den Gedanken kommen, es hier zu versuchen, bist du ein gutes Stück fort.«

Von plötzlicher Sorge befallen, fragte Anastasius: »Und was ist mit dir, Vater?«

»Sie haben keinen Grund, mich zu verdächtigen. Falls sie versuchen, mich über deinen Aufenthaltsort auszufragen, werden sie feststellen, daß sie einen Wolf beim Schwanz gepackt haben.«

Vater und Sohn umarmten sich.

Kann das alles wirklich wahr sein? fragte sich Anastasius. Alles geschah so schnell, daß man es gar nicht richtig fassen konnte.

»Gott sei mit dir, mein Sohn«, sagte Arsenius.

»Und mit dir, Vater.« Anastasius schwang sich in den Sattel und riß das Pferd so rasch herum, daß sein Vater nicht sehen konnte, wie ihm die Tränen in die Augen traten. Unmittelbar hinter dem Tor warf Anastasius einen letzten Blick zurück. Die blutrote Sonne näherte sich dem Horizont und warf lange Schatten über die sanften Hügel Roms, bemalte die majestätischen Skelette des Forum Romanum und des Kolosseums mit rotgoldenen Farbtönen.

Rom. All seine Arbeit, all sein Ehrgeiz, alles, was ihm jemals etwas bedeutet hatte, befand sich in den heiligen Mauern dieser Stadt.

|464|Anastasius’ letzter Blick galt dem Gesicht seines Vaters – schmerzerfüllt, aber entschlossen und so fest und unerschütterlich wie der Fels von Sankt Peter.

 

»Excommunicaeo te in ternum per Deum vivum, per Deum verum …«

In der kalten Dunkelheit der Lateranbasilika lauschte Johanna, wie Leo die gleichermaßen feierlichen wie schrecklichen Worte sprach, die Anastasius für immer aus der heiligen Mutter Kirche ausschlossen. Ihr fiel auf, daß Leo sich für das excommunicatio minor entschieden hatte, die weniger strenge Form der Exkommunikation: Dem Bestraften wurde zwar das Recht aberkannt, die Sakramente zu spenden oder zu empfangen (von der Letzten Ölung abgesehen, die keinem Menschen verweigert werden konnte); doch wurde ihm nicht jeglicher Umgang mit anderen Christenmenschen untersagt. Leo hat wirklich ein gütiges Herz, dachte Johanna bei sich.

Der gesamte römische Klerus, einschließlich der höchsten kirchlichen Würdenträger, hatte sich versammelt, um der feierlichen Zeremonie beizuwohnen; sogar Arsenius war gekommen, denn er wollte sein Amt als Bischof von Horta nicht durch sinnlosen öffentlichen Protest gefährden. Natürlich hatte Leo den Verdacht, daß Arsenius bei der Flucht seines Sohnes vor dem Gesetz die Hände im Spiel gehabt hatte; doch es gab keinen Beweis, der eine solche Anklage hätte erhärten können, und irgendeinen anderen Vorwurf konnte man gegen Arsenius nicht erheben. Der Vater eines Mannes wie Anastasius zu sein war ihm schwerlich als Verbrechen anzukreiden.

Als die Kerze, die Anastasius’ unsterbliche Seele symbolisierte, umgedreht und die Flamme im Schmutz ausgedrückt wurde, überkam Johanna ein unerwarteter Anflug des Bedauerns. Was für eine tragische Verschwendung, dachte sie. Ein so intelligenter Mann wie Anastasius hätte sehr viel Gutes bewirken können, wäre sein Herz nicht von blindem Ehrgeiz zerfressen gewesen.