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ROM

im Jahre des Herrn 844

Anastasius legte die Schreibfeder nieder und spreizte die Finger, um die Verkrampfung zu lösen. Stolz schaute er auf die Seite, die er soeben geschrieben hatte. Es war der vorerst letzte Eintrag in seinem Meisterstück, dem Liber Pontificalis – dem Buch der Päpste, einer ausführlichen Schilderung des Lebens und Wirkens aller Männer, die das höchste Kirchenamt innegehabt hatten.

Liebevoll strich Anastasius mit der Hand über das reine weiße Vellum, das vor ihm lag. Auf diesen noch unbeschriebenen Seiten würden eines Tages die Erfolge, Triumphe und der Ruhm seines eigenen Pontifikats verzeichnet sein.

Wie stolz sein Vater Arsenius dann auf ihn sein würde! Wenngleich Anastasius’ Familie im Laufe der Jahre viele Titel und Ehren angehäuft hatte, war ihr die höchste aller Würden – das Papstamt – versagt geblieben. Einmal hatte es fast so ausgesehen, als könne Arsenius den Papstthron erobern; dann aber hatten die Zeit und die Umstände sich gegen ihn verschworen, und die Chance war ungenutzt verstrichen.

Jetzt lag es an Anastasius. Er mußte und er würde das Vertrauen seines Vaters rechtfertigen, indem er der neue Papst und Bischof der Stadt Rom wurde.

Nicht sofort, versteht sich. Mochte Anastasius’ Ehrgeiz noch so groß sein – natürlich wußte er, daß seine Zeit noch nicht gekommen war. Mit seinen dreißig Jahren hatte er gerade erst das Mindestalter für die Priesterwürde erreicht. Und sein Amt als päpstlicher nomenclator brachte ihm zwar eine außerordentliche Machtfülle, doch es war ein zu weltlicher Posten, als daß Anastasius von dort aus sofort den Sprung auf den Papstthron hätte tun können.

Doch seine Lage würde sich bald schon ändern. Papst Gregor lag auf dem Sterbebett. Sobald die übliche Trauerzeit vorüber war, würde man den neuen Papst wählen – eine Wahl, |332|deren Ausgang Arsenius durch eine geschickte Verbindung von Diplomatie, Bestechung und Drohung bereits vorherbestimmt hatte. Sergius, Kardinal und Priester an der Kirche Sankt Martin, würde zum neuen Papst gewählt werden – der schwache und korrupte Abkömmling einer adeligen römischen Familie. Im Unterschied zu Gregor wußte Sergius seinen Dank gegenüber jenen Menschen auszudrücken, die ihm zu seinem Amt verholfen hatten: Schon bald nach der Papstwahl würde Anastasius zum Bischof von Castellum ernannt werden – eine ideale Ausgangsposition für den Aufstieg auf den Papstthron, wenn Sergius’ Amtszeit erst geendet hatte.

Es war ein rundum schönes und harmonisches Bild, das nur einen Fehler hatte: Gregor lebte noch. Wie ein alternder Weinstock, der seine Wurzeln immer tiefer ins Erdreich gräbt, um an die letzten Tropfen Feuchtigkeit im ausgetrockneten Boden heranzukommen, klammerte der alte Mann sich hartnäckig an das Leben. Klug und umsichtig, beschaulich und vorsichtig im Privatleben wie auch im Amt des Papstes, beschritt Gregor nun auch das letzte Stück seines irdischen Weges mit einer Bedächtigkeit, die Anastasius und seinen Vater zur Weißglut brachte.

Gregor hatte siebzehn Jahre regiert, länger als jeder Papst seit Leo dem Dritten, seligen Angedenkens. Er war ein frommer, bescheidener, sanftmütiger und braver Mann, der von den Römern geliebt wurde; stets war er ein besorgter Schutzherr der Einwohner der heiligen Stadt gewesen; er hatte den Massen verarmter Pilger zahllose Unterkünfte zur Verfügung gestellt, und er hatte Flüchtlingen Schutz gewährt und darauf geachtet, daß die Almosen an allen Festtagen und bei den Prozessionen großzügig unters Volk gebracht wurden.

Anastasius betrachtete Gregor mit einer Mischung aus verschiedenen Gefühlen: Respekt, Neid und – zu gleichen Teilen – Staunen und Verachtung. Staunen über die Aufrichtigkeit des Glaubens und die Frömmigkeit dieses Mannes; Verachtung für seinen schlichten, langsam arbeitenden Verstand und seine Naivität, die ihn zu einem leicht zu beeinflussenden Menschen gemacht hatten, der Täuschungen und Verstellungen rasch zum Opfer fiel. Auch Anastasius hatte sich die Leichtgläubigkeit des Papstes oft zunutze gemacht; am erfolgreichsten damals, auf dem Feld der Lügen, als er die Friedensverhandlungen zwischen Gregor und dem fränkischen Kaiser |333|Ludwig verraten hatte. Diese kleine Kriegslist hatte sich bezahlt gemacht: Der Nutznießer des Verrats, Ludwigs Sohn Lothar, hatte seinen Dank in klingender Münze entrichtet. Seither war Anastasius ein sehr reicher Mann. Und was noch wichtiger war: Er hatte sich das Vertrauen und die Unterstützung Lothars erworben – ein Bündnis, das sich nun, da Lothar seine Brüder aus dem Feld geschlagen und den Kaiserthron erobert hatte, als höchst gewinnbringend erweisen würde.

Glockengeläut riß Anastasius aus seinen Gedanken. Die Glocken läuteten einmal, zweimal – und ein drittes Mal. Triumphierend schlug Anastasius sich auf die Schenkel. Endlich!

Er hatte bereits den Trauerumhang angelegt, als das erwartete Klopfen an der Tür ertönte. Mit leisen Schritten kam ein päpstlicher Sekretär ins Zimmer. »Gott hat den Heiligen Vater zu sich gerufen«, sagte er. »Nun ist Eure Anwesenheit im päpstlichen Schlafgemach erforderlich, nomenclator.«

Schweigend, Seite an Seite, schritten die Männer durch das Labyrinth der Flure und Hallen des Lateranpalastes, um zu den päpstlichen Gemächern zu gelangen.

Schließlich brach der Sekretär das Schweigen. »Papst Gregor war ein gottesfürchtiger Mann«, sagte er. »Ein Friedensstifter. Ein Heiliger.«

»Ein Heiliger, in der Tat«, erwiderte Anastasius und fügte in Gedanken hinzu: Und wo könnte er da besser aufgehoben sein als im Himmel?

»Wann mögen wir wieder einen solchen Papst bekommen?« Die Stimme des Sekretärs schwankte vor Bewegung.

Anastasius sah, daß der Mann weinte. Der Anblick aufrichtiger Gefühle faszinierte ihn. Er selbst war viel zu überlegt, als daß er sich lacrimae rerum hingegeben hätte. Nur zu gut kannte er die Wirkung, die seine Worte und sein Tun auf andere Menschen hatten. Dennoch gemahnte ihn die Reaktion des Sekretärs, vor den kirchlichen Würdenträgern ein angemessenes Maß an Trauer zu heucheln. Bevor er die Tür zum päpstlichen Schlafgemach erreichte, holte Anastasius tief Luft, hielt den Atem an und verzog das Gesicht, bis er einen Stich hinter den Augen verspürte. Auf diese Weise konnte er Tränen hervorbringen, wann immer er es wollte. Er benutzte diesen Trick nur selten, doch er verfehlte seine Wirkung nie.

Im Schlafgemach hatte sich eine immer noch wachsende |334|Zahl von Trauernden eingefunden. Gregor lag auf dem großen Federbett, die Augen geschlossen, die Arme übereinandergeschlagen, und die Hände um ein goldenes Kreuz gelegt. Die anderen optimates, die hohen Würdenträger des päpstlichen Palasts, hatten sich bereits am Totenbett eingefunden: Anastasius sah den vicedominus Arighis, den Haushofmeister; den primicerius Compulus, den Leiter der päpstlichen Verwaltung, sowie den vestiarius Stephan, den Vorsteher der Kleiderkammer.

»Der nomenclator Anastasius«, verkündete der Sekretär, als Anastasius das Zimmer betrat. Die anderen blickten auf und sahen, daß der junge Mann von tiefer Trauer ergriffen war. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck des Schmerzes, und seine Wangen schimmerten naß vom nicht versiegenden Tränenstrom.

 

Johanna hob den Kopf und ließ sich die warme römische Sonne ins Gesicht strahlen. Sie hatte sich noch immer nicht an ein so angenehmes, mildes Wetter im Wintarmanoth gewöhnt – oder im Januar, wie der Monat in diesem südlichen Teil des Kaiserreiches genannt wurde, in dem römische Sitten und Gebräuche herrschten, keine fränkischen.

Rom war anders, als Johanna es sich vorgestellt hatte. Sie hatte erwartet, eine prunkvolle Stadt vorzufinden, schimmernd von Gold und Marmor, in der Hunderte von Kirchen sich in einen strahlend blauen Himmel erhoben – als erhabenes Zeugnis der Existenz einer wahren civitas dei, einer Gemeinschaft Gottes auf Erden. Doch die Wahrheit sah ganz anders aus: Rom war wildwuchernd, schmutzig und wimmelnd von Menschen, und die schmalen, unebenen Straßen schienen eher in der Hölle als im Himmel entstanden zu sein. Diejenigen antiken Monumente, die man nicht zu christlichen Kirchen umgebaut oder als Steinbrüche benutzt hatte, lagen in Trümmern. Tempel, Amphitheater, Paläste und Bäder waren ihres Goldes und Silbers beraubt worden; dann hatte man sie achtlos den Elementen preisgegeben. Wilder Wein rankte sich um die Stümpfe der umgestürzten Säulen; Jasmin und Akanthus wuchsen auf den Mauertrümmern; Schweine, Ziegen und Ochsen mit riesigen Hörnern grasten in den verfallenden Innenhöfen.

Rom war eine Stadt uralter und scheinbar unvereinbarer |335|Widersprüche: das Staunen der Welt und zugleich ein verfallender, schmutziger Hinterhof; eine der bedeutendsten christlichen Pilgerstätten, deren größte Kunstwerke jedoch zu Ehren heidnischer Götter entstanden waren; eine Hochburg des Lehrens und der Wissenschaften, deren Einwohnerschaft indes von Unwissenheit und Aberglaube geprägt wurde.

Trotz dieser Widersprüche – oder vielleicht gerade deswegen – liebte Johanna die Stadt. Das laute, wimmelnde Durcheinander auf den Straßen faszinierte sie; hier trafen Ströme von Waren und Menschen aus den entferntesten Winkeln der Erde zusammen und vermischten sich zu einem schäumenden Strudel: Römer, Langobarden, Germanen, Byzantiner und Moslems drängten sich auf den Straßen und Plätzen in einem bunten und erregenden Gemisch verschiedenster Kleidungen, Sitten und Sprachen. Vergangenheit und Gegenwart, Heidentum und Christentum waren ineinander verwoben und bildeten einen prachtvollen, farbenfrohen Wandteppich. In diesen uralten Mauern hatten sich das Beste und das Schlechteste, das Schönste und Häßlichste aus aller Herren Länder vereint. In Rom fand Johanna jene Welt voller Abenteuer und neuer Möglichkeiten, nach der sie so lange gesucht hatte.

Die meiste Zeit verbrachte sie in Borgo, wo sich die verschiedenen scolae und Wohnviertel der Ausländer befanden. Sofort nach ihrem Eintreffen in Rom hatte Johanna sich zuerst zur Scola Francorum begeben, jedoch keinen Zutritt erhalten; denn es wimmelte in diesem Viertel von Pilgern und fränkischen Einwanderern. Deshalb begab Johanna sich zur Scola Anglorum; ihr angenommener Nachname »Anglicus« sowie die Tatsache, daß sie väterlicherseits von englischen Ahnen abstammte, sorgten dafür, daß ihr ein freundlicher Empfang bereitet wurde.

Die Tiefe und Breite ihrer Ausbildung brachten ihr bald den Ruf eines hervorragenden Gelehrten ein. Aus ganz Rom kamen Theologen zur scola, um wissenschaftliche Gespräche mit ihr zu führen; sie alle wurden von ehrfürchtiger Scheu erfüllt, was den Umfang ihres Wissens, die Schärfe und Klarheit ihres Verstandes und ihre unbestechliche Logik bei gelehrten Disputen betraf. Wie bestürzt diese Männer gewesen wären, hätten sie gewußt, daß sie von einer Frau übertrumpft worden sind! dachte Johanna mit einem stillen Lächeln.

Zu ihren regelmäßigen Pflichten gehörte die Teilnahme als |336|Hilfspriester an der täglichen Messe in der Kirche Sankt Michael, einer kleinen Kapelle, die der scola angeschlossen war. Nach dem Mittagsmahl und einem kurzen Nickerchen (denn es war im Süden üblich, während der heißesten Stunden des Mittags zu ruhen) begab Johanna sich ins Hospital, wo sie den Rest des Tages damit verbrachte, sich um die Kranken zu kümmern. Ihr Wissen um die Heilkunst, das sie von Bruder Benjamin erworben hatte, kam ihr jetzt hervorragend zustatten, zumal die medizinische Wissenschaft nirgendwo sonst auf der Welt so weit fortgeschritten war wie im Frankenreich. Die Römer wußten nur wenig über die Heilkräfte von Kräutern und anderen Pflanzen; und Methoden wie das Betrachten des Urins beispielsweise, um Krankheiten zu bestimmen und zu behandeln, waren ihnen gänzlich unbekannt. Johannas Heilerfolge bewirkten, daß sie zu einem der begehrtesten und meistbeschäftigten Ärzte der Stadt wurde.

Es war ein reges und ausgefülltes Leben, das perfekt auf Johanna zugeschnitten war; denn es bot ihr die Möglichkeit, ein klösterliches Leben zu führen, ohne dessen Nachteile in Kauf nehmen zu müssen: Sie konnte ihre Intelligenz gebrauchen, ohne Mißtrauen zu erregen oder Einschränkungen befürchten zu müssen; sie hatte Zugang zur Bibliothek der scola – einer kleinen, aber feinen Sammlung von mehr als fünfzig Bänden – , ohne daß jemand ihr über die Schulter blickte, um sich davon zu überzeugen, daß sie nicht statt Augustinus die Schriften Ciceros oder Suetons las; sie konnte kommen und gehen, wann sie wollte, ohne jemanden um Erlaubnis bitten zu müssen. Sie war in ihrem Denken völlig frei und konnte sich zu den verschiedensten Themen äußern, ohne befürchten zu müssen, sich verdächtig zu machen oder gar ausgepeitscht zu werden. Die Tage waren ausgefüllt mit interessanter und sinnvoller Arbeit, und die Zeit ging rasch vorüber.

Vielleicht wäre Johannas Leben so still und friedlich geblieben, wäre Sergius, der neu gewählte Papst, nicht erkrankt.

 

Seit Septuagesima, dem dritten Vorfastensonntag, hatte der Papst unter verschiedenen unbestimmbaren, jedoch besorgniserregenden Krankheitssymptomen gelitten: Verdauungsstörungen; Schlaflosigkeit; geschwollene, kraftlose Gliedmaßen. Kurz vor Ostern kamen heftige, beinahe unerträgliche Schmerzen hinzu. Nacht für Nacht wurden sämtliche Bewohner |337|des Lateranpalastes von Sergius’ Schreien am Schlaf gehindert.

Die scola der römischen Ärzte schickte eine Abordnung ihrer fähigsten Mitglieder in den Lateranpalast, um sich des erkrankten Papstes anzunehmen. Sie versuchten mit den verschiedensten Mitteln und Methoden, eine Heilung zu erzielen: Sie brachten ein Bruchstück des Schädelknochens vom heiligen Polykarp an Sergius’ Krankenbett, damit der Papst ihn berührte; sie massierten seine geschwollenen Glieder mit Öl, das aus einer Lampe stammte, die eine ganze Nacht lang am Grab des heiligen Petrus gebrannt hatte – ein Mittel, das bekanntermaßen die schlimmsten Krankheiten besiegte, hier jedoch versagte -; sie ließen ihn mehrmals zur Ader und entschlackten seinen Körper mit derart starken Brechmitteln, daß er von wilden Krämpfen geschüttelt wurde. Als dies alles keinen Erfolg zeitigte, versuchten die Ärzte, Sergius’ Schmerz durch ein Gegenreizmittel zu vertreiben, indem sie ihm Streifen aus brennendem Flachs auf die Beinvenen legten.

Nichts half. Als der Zustand des Papstes sich weiter verschlechterte, wurden die Bewohner Roms von Furcht gepackt: Falls Sergius so kurze Zeit nach seinem Vorgänger starb, so daß der Thron des heiligen Petrus schon wieder vakant wurde, konnte es geschehen, daß der fränkische Kaiser Lothar die Gelegenheit beim Schopf packte, über die Stadt herfiel und die Römer seiner kaiserlichen Macht unterwarf.

Auch Sergius’ Bruder Benedikt hatte Sorgen, die sich allerdings nicht auf irgendwelche geschwisterlichen Gefühle gründeten; sie waren vielmehr auf die Bedrohungen zurückzuführen, die Benedikts eigenen Interessen durch die Erkrankung des Bruders entstanden. Nachdem er Sergius davon überzeugen konnte, ihn mit der hohen Stellung eines päpstlichen missus zu betrauen, hatte Benedikt dieses Amt geschickt dazu benutzt, nach und nach die gesamte päpstliche Macht an sich zu reißen – mit dem Ergebnis, daß Sergius nach den ersten fünf Monaten auf dem Heiligen Stuhl nurmehr dem Namen nach Papst war; die tatsächliche Macht in Rom hielt Benedikt in Händen – was unter anderem eine erhebliche Zunahme seines Privatvermögens zur Folge hatte.

Benedikt hätte es jedoch vorgezogen, auch faktisch den Titel und das Amt des Papstes innezuhaben; doch er hatte immer schon gewußt, daß er nicht zum Nachfolger des heiligen |338|Petrus geeignet war. Weder besaß er die erforderliche Bildung, noch hatte er den nötigen Schliff für ein so hohes Amt. Benedikt war ein zweitgeborener Sohn, und in Rom war es nicht üblich, den Besitz, die Titel und die Ämter unter den Erben aufzuteilen, so, wie man es im Frankenreich hielt. Als Erstgeborenem waren Sergius das Vermögen und sämtliche Privilegien der Familie übertragen worden; dazu hatten auch die Privatlehrer gezählt, so daß Sergius im Unterschied zu seinem Bruder Benedikt ein Mann von hoher Bildung war. Es war schrecklich ungerecht; aber man konnte nun mal nichts dagegen unternehmen. Nach einiger Zeit hatte Benedikt denn auch zu schmollen aufgehört und Trost in eher weltlichen Vergnügungen gesucht, an denen es in Rom nicht mangelte, wie er rasch feststellte. Seine Mutter hatte sich zwar verärgert über die Ausschweifungen des jüngeren Sohnes gezeigt, hatte aber keinen Versuch unternommen, sie zu unterbinden; ihre Hoffnungen und Wünsche hatten immer schon auf Sergius geruht.

Jetzt aber waren die langen Jahre endlich vorbei, da Benedikt um des Bruders willen hatte zurückstecken müssen. Die Ernennung zum päpstlichen missus zu erwirken, war kein Problem gewesen, zumal Sergius ohnehin ein schlechtes Gewissen hatte, dem jüngeren Bruder vorgezogen worden zu sein. Alles andere war kein Problem gewesen. Benedikt wußte, daß sein Bruder schwach war; doch daß es so leicht sein würde, Sergius zu bestechen, hatte nicht einmal Benedikt erwartet. Nach den vielen Jahren des harten Studiums und des mönchischen, asketischen Lebens war Sergius nur zu begierig darauf gewesen, auch einmal die Sonnenseiten des Lebens zu genießen. Benedikt versuchte jedoch gar nicht erst, seinen Bruder mit Frauen vom Pfad der Tugend zu locken, denn Sergius hielt standhaft am Ideal der priesterlichen Keuschheit fest. Seine Einstellung, was die Enthaltsamkeit betraf, konnte man beinahe schon als Besessenheit bezeichnen, so daß Benedikt höllisch hatte aufpassen müssen, seine eigenen sexuellen Ausschweifungen vor dem Bruder geheimzuhalten, um die Wahl zum päpstlichen missus und seine weiteren Pläne nicht zu gefährden.

Doch Sergius hatte eine andere Schwäche: einen unstillbaren Appetit auf gutes Essen und Trinken. Dieses Wissen nutzte Benedikt geschickt aus, indem er seine eigene Machtbasis festigte, während er die Aufmerksamkeit des Bruders |339|durch eine nicht abreißende Flut von Gaumenfreuden ablenkte. Es war ungeheuerlich, welche Essensmengen Sergius vertilgen und wieviel Wein er in sich hineinschütten konnte. Bei einer einzigen Mahlzeit hatte er einmal fünf Forellen, zwei Brathähnchen, ein Dutzend Fleischpasteten und eine Rehkeule verschlungen. Nach dieser Freßorgie war er am nächsten Tag dermaßen aufgebläht und vollgestopft zur Morgenmesse erschienen, daß er zum Entsetzen der versammelten Glaubensgemeinschaft die geheiligte Hostie auf den Altar erbrochen hatte.

Dieser zutiefst beschämende Vorfall hatte den Heiligen Vater zum Umdenken veranlaßt. Sergius hatte beschlossen, zur schlichten Ernährungsweise seiner Lehr- und Jugendjahre zurückzukehren: Brot und Grüngemüse. Diese spartanische Diät tat ihm so gut, daß er sich sogar wieder seinen Amtsgeschäften zuwandte – was seinem Bruder Benedikt natürlich ganz und gar nicht behagte; denn es war seinen ehrgeizigen Plänen im Wege. So wartete Benedikt den richtigen Zeitpunkt ab. Als er der Meinung war, daß Sergius genug fromme Selbstverleugnung getrieben hatte, begann er wieder, ihn mit außergewöhnlichen Geschenken zu locken: wundervolle exotische Leckerbissen, Pasteten, Gemüsesuppen, gegrillte Schweine und Fässer mit schwerem toskanischem Wein. Für Sergius begann eine neuerliche Zeit der Völlerei.

Diesmal aber trieb er es mit den Gelagen zu weit. Er wurde krank, schwer krank. Benedikt hatte kein Mitleid mit seinem älteren Bruder, doch seinen Tod wollte er nicht. Denn wenn Sergius starb, würde dies auch das Ende von Benedikts Macht bedeuten.

Also mußte irgend etwas unternommen werden. Die Ärzte, die sich um Sergius kümmerten, waren ein unfähiger Haufen, der die Krankheit des Papstes auf das Wirken mächtiger Dämonen zurückführte, gegen deren boshafte Kraft nur Gebete etwas ausrichten konnten. So umgaben sie Sergius mit einer Unzahl von Priestern und Mönchen, die sich Tag und Nacht an seinem Bett aufhielten, klagten und beteten und die Stimmen flehend zum Himmel erhoben. Doch es half nichts: Sergius’ Zustand verschlechterte sich weiter.

Aber Benedikt hatte nicht die Absicht, sein Schicksal an einen so dünnen Faden zu hängen, wie Gebete es waren. Ich muß etwas unternehmen, sagte er sich. Aber was?

|340|»Ehrwürdiger Herr.«

Benedikt wurde von der dünnen, zögernden Stimme Celestinus’, eines der päpstlichen Kammerdiener, aus seinen Gedanken gerissen. Wie die meisten seiner Amtskollegen war Celestinus der Sproß einer reichen, vornehmen römischen Familie, die ein hübsches Sümmchen für die Ehre bezahlt hatte, daß der Junge dem Papst als cubicularius dienen durfte. Benedikt konnte Celestinus nicht leiden. Was wußte dieser verhätschelte Weichling schon vom Leben und dem harten Los, sich aus Armut und Dunkelheit nach oben kämpfen zu müssen?

»Was ist?«

»Der edle Anastasius ersucht um eine Audienz, Herr.«

»Anastasius?« Benedikt konnte mit dem Namen nichts anfangen.

»Der Bischof von Castellum«, half Celestinus ihm auf die Sprünge.

»Du wagst es, mich zu belehren?« Wutentbrannt gab Benedikt dem jungen Burschen eine schallende Ohrfeige. »Ich hoffe, das wird dir Respekt beibringen! Und jetzt mach dich auf den Weg, und schaffe mir den Bischof hierher.«

Celestinus eilte davon und preßte die Hand auf die Wange. Tränen liefen ihm übers Gesicht. Benedikt dagegen juckte es schon wieder in den Fingern. Am liebsten hätte er dem Jungen noch eine Ohrfeige verpaßt, denn so gut wie jetzt hatte er sich seit Tagen nicht gefühlt.

Augenblicke später kam Anastasius hoheitsvoll durch die Tür geschritten. Hochgewachsen, schlank und kultiviert, war er das Urbild aristokratischer Eleganz, und er war sich seiner Wirkung auf andere durchaus bewußt.

»Paxis vobiscius«, begrüßte Benedikt den Besucher in schrecklichem Latein.

Anastasius rümpfte die Nase angesichts dieser sprachlichen Barbarei, achtete aber darauf, sich seine Verachtung nicht allzu deutlich anmerken zu lassen. »Et cum spiritu tuo«, erwiderte er mit leiser Herablassung. »Wie geht es Seiner Heiligkeit dem Papst?«

»Schlecht, sehr schlecht.«

»Tut mir leid, das zu hören.« Diese Bemerkung war mehr als eine höfliche Floskel; Anastasius war tatsächlich besorgt. Die Zeit war noch nicht reif für Sergius’ Tod. Es dauerte noch mehr als ein Jahr, bis Anastasius fünfunddreißig wurde und damit |341|das Mindestalter für das Papstamt erreicht hatte. Falls Sergius jetzt schon starb, konnte es sein, daß man einen jüngeren Mann zu seinem Nachfolger wählte, und dann mochten zwanzig oder mehr Jahre vergehen, bevor der Papstthron wieder frei wurde. Anastasius hatte nicht die Absicht, so lange zu warten, um sein Lebensziel zu verwirklichen.

»Ich hoffe, Euer Bruder ist in guten ärztlichen Händen.«

»Er ist Tag und Nacht von Männern umgeben, die für seine Genesung beten.«

»Aha«, sagte Anastasius; dann trat eine Pause ein. Beide Männer waren skeptisch, was die Wirksamkeit einer solchen Maßnahme betraf, doch keiner wollte seine Zweifel offen zeigen.

»Es gibt da jemanden an der Scola Anglorum«, sagte Anastasius schließlich. »Einen Priester, dem man erstaunliche Heilkünste nachsagt.«

»Ach?«

»Soviel ich weiß, nennt man ihn Johannes Anglicus. Ein Ausländer. Offenbar ist er ein hochgelehrter Mann. Die Leute behaupten sogar, er könne Wunderheilungen vollbringen.«

»Vielleicht sollte ich nach ihm schicken lassen«, sagte Benedikt.

»Vielleicht«, erwiderte Anastasius; dann ließ er das Thema fallen. Er spürte, daß Benedikt ein Mann war, den man zu nichts drängen durfte. Behutsam wandte Anastasius das Gespräch anderen Dingen zu. Als er der Meinung war, lange genug geblieben zu sein, wandte er sich zum Gehen. »Dominus tecum, Benedictus.«

»Et Deus vobiscus.« Wieder tat Benedikt der lateinischen Sprache Gewalt an.

Du ungebildeter Trampel, dachte Anastasius. Daß ein Mann wie Benedikt in eine so hohe Machtposition aufsteigen konnte, war beschämend, ein Makel für den Ruf der Kirche. Nach einer eleganten Verbeugung wandte Anastasius sich um und ging.

Benedikt beobachtete, wie er den Flur hinunterschritt. Kein übler Kerl für einen Adeligen, dachte er. Ich werde diesen Heiler-Priester kommen lassen, diesen Johannes Anglicus. Wahrscheinlich würde es böses Blut geben, jemanden ans Krankenbett des Papstes zu bestellen, der nicht der römischen Ärztegemeinschaft angehörte; aber das spielte keine Rolle. Er, Benedikt, |342|würde schon eine Möglichkeit finden. Wenn man wußte, was man wollte, gab es immer eine Möglichkeit.

 

Drei Dutzend Kerzen brannten am Fuße des großen Bettes, in dem Sergius lag. Hinter den Kerzen kniete eine Gruppe von Mönchen in schwarzen Gewändern; mit tiefen, monotonen Stimmen sprachen sie Litaneien.

Ennodius, der oberste Arzt der Stadt Rom, hob seine eiserne Lanzette, zog sie geschickt über Sergius’ linken Unterarm und schlitzte die Hauptschlagader auf. Blut strömte aus der Wunde und lief in eine silberne Schüssel, die Ennodius’ Gehilfe hielt. Der Arzt schüttelte den Kopf, als er das Blut in der Schüssel betrachtete. Es war dick und dunkel; die üblen, verderblichen Säfte, die für die Krankheit des Papstes verantwortlich waren, wollten einfach nicht aus dem Körper weichen. Ennodius ließ die Wunde noch eine Zeitlang offen, so daß das Blut länger floß als üblich. Er würde Sergius jetzt einige Tage lang nicht zur Ader lassen können; denn der Mond wechselte in das Zeichen der Zwillinge, ein für den Aderlaß ungünstiges Sternzeichen.

»Wie sieht es aus?« fragte Florus, ein Arztkollege.

»Schlecht. Sehr schlecht.«

»Laßt uns kurz nach draußen gehen«, sagte Florus. »Ich muß mit Euch reden.«

Ennodius stillte die Blutung, drückte die Hautlappen zusammen und übte mit der Hand Druck aus. Die Wunde mit Blättern der Gartenraute zu verbinden, die mit Fett bestrichen und in Leinen gewickelt waren, überließ er seinem Gehilfen. Er wischte sich das Blut von den Händen und folgte Florus auf den Flur.

»Man hat nach jemand anderem geschickt«, sagte Florus drängend, kaum, daß sie unter sich waren. »Nach einem Heiler von der Scola Anglorum.«

»Was?« stieß Ennodius fassungslos hervor. Die Ausübung des Arztberufs innerhalb der Stadt mußte streng auf die Mitglieder der römischen Ärztegemeinschaft beschränkt bleiben – wenngleich in Wahrheit ein kleines Heer von Quacksalbern und Amateur-Heilkundigen, die keine offizielle Anerkennung als Ärzte besaßen, in der Stadt ihr fragwürdiges Handwerk ausübten. Doch man duldete diese Laien, solange sie anonym unter den Armen der Stadt arbeiteten. Aber eine offizielle Anerkennung |343|eines dieser Kurpfuscher – vor allem, wenn der Betreffende direkt aus dem Papstpalast kam – stellte eine Gefährdung der römischen Ärzteschaft dar.

»Der Mann wird Johannes Anglicus genannt«, fuhr Florus fort. »Gerüchte besagen, daß er von außerordentlichen Kräften beseelt ist. Die Leute behaupten, er könne eine Diagnose stellen, indem er sich bloß den Urin eines Patienten anschaut!«

»Lächerlich. Ein Scharlatan.«

»Offensichtlich. Aber einige von diesen Möchtegern-Ärzten sind ziemlich geschickt. Falls dieser Johannes Anglicus auch nur den Anschein erwecken kann, etwas von ärztlicher Kunst zu verstehen, könnte das verheerende Folgen für uns haben.«

Florus hatte recht. In einem Beruf wie dem ihren, bei dem die Ergebnisse oft enttäuschend und stets unvorhersehbar waren, war der Ruf wichtiger als alles andere. Falls dieser Außenseiter den Erfolg hatte, der ihnen versagt geblieben war …

Ennodius dachte einen Augenblick nach. »Dieser Anglicus studiert den Urin zur Diagnose, sagt Ihr? Nun, dann werden wir ihm eine Probe liefern.«

»Wollt Ihr diesem Außenseiter etwa helfen? Das halte ich für einen großen Fehler!«

Ennodius lächelte. »Ich sagte, wir liefern ihm eine Probe, Florus. Ich habe aber nicht gesagt, von wem.«

 

Von einer Eskorte päpstlicher Wachen begleitet, ging Johanna zum Patriarchum, dem riesigen Palast, der die päpstliche Residenz sowie die Vielzahl der Verwaltungs- und Amtsstuben beherbergte, in denen die römische Regierung untergebracht war. An der großen Konstantinbasilika mit der prächtigen Reihe rundbogiger Fenster vorbei gingen Johanna und die Wächter sofort ins Patriarchum. Drinnen stiegen sie eine kurze Treppe hinauf, die zum triclinium maius führte, der Großen Halle des Palastes, deren Errichtung von Papst Leo, seligen Angedenkens, in Auftrag gegeben worden war.

Der Fußboden der Halle war mit marmornen Platten ausgelegt und mit einer Vielzahl von Mosaiken verziert, die mit solcher Kunstfertigkeit gearbeitet waren, daß es Johanna den Atem verschlug. Nie zuvor hatte sie so leuchtende Farben und derart lebensechte Gestalten gesehen. Niemand im Frankenreich – kein Bischof, kein Abt, kein Fürst, ja, nicht einmal der Kaiser selbst waren von einer solchen Pracht umgeben.

|344|Eine große Gruppe Männer hatte sich in der Mitte des triclinium versammelt. Einer kam zu Johanna herüber, um sie zu begrüßen. Er besaß einen dunklen Teint, schmale, verschwollene Augen und einen verschlagenen Gesichtsausdruck.

»Seid Ihr der Priester Johannes Anglicus?« fragte er.

»Ja.«

»Ich bin Benedikt, päpstlicher missus und Bruder des Sergius, unseres Heiligen Vaters. Ich habe Euch herkommen lassen, auf daß Ihr die Gesundheit Seiner Heiligkeit wiederherstellt.«

»Ich werde tun, was ich kann«, versprach Johanna.

Benedikt ließ seine Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern herabsinken. »Da drüben sind die Herrschaften, die es Euch neiden würden, falls Ihr Erfolg habt.«

Das glaubte Johanna ihm unbesehen. Viele der dort versammelten Männer waren Mitglieder der erlesenen und exklusiven ärztlichen Gesellschaft von Rom. Sie würden einen Außenseiter nicht willkommen heißen.

Ein weiterer Mann kam zu ihnen herüber – hochgewachsen, dünn, mit stechenden, durchdringenden Augen und gekrümmter Adlernase. Benedikt stellte ihn als Ennodius vor, den Vorsitzenden der ärztlichen Gesellschaft Roms.

Ennodius begrüßte Johanna mit einem kaum wahrnehmbaren Kopfnicken. »Falls Ihr über die erforderlichen Fähigkeiten verfügt, werdet Ihr feststellen, daß Seine Heiligkeit sich in den Klauen von Dämonen befindet, deren gefährlicher Griff sich durch keine Arznei lösen wird, sondern nur durch Glaube, Hoffnung und Beten.«

Johanna erwiderte nichts. Sie gab nicht viel auf solche Theorien. Weshalb sollte man sich auf das Übernatürliche berufen, wenn es so viele körperliche und damit erkennbare Ursachen für Krankheiten gab?

Ennodius hielt ihr ein Fläschchen mit einer gelben Flüssigkeit hin. »Diese Urinprobe wurde Seiner Heiligkeit vor nicht ganz einer Stunde entnommen. Wir alle sind sehr gespannt, was Ihr daraus lesen könnt.«

Aha, dachte Johanna. Ich soll auf die Probe gestellt werden. Na ja, ich würde sagen, das hier ist ein ebenso guter Anfang wie jeder andere.

Johanna nahm das Fläschchen und hielt es gegen das Licht. Die Gruppe der Ärzte kam herbei und bildete einen Halbkreis |345|um sie. Ennodius’ Hakennase zuckte, als er Johanna aus schmalen Augen mit einem seltsamen Ausdruck gespannter Erwartung beobachtete.

Johanna drehte das Fläschchen in die verschiedensten Richtungen ins Licht, damit die besondere Beschaffenheit des Inhalts deutlich zu sehen war. Seltsam, dachte sie, nahm den Verschluß ab und roch am Fläschchen; dann noch einmal. Sie tauchte einen Finger in die Flüssigkeit und legte ihn sich auf die Zunge, kostete sorgfältig. Die Spannung in der Gruppe um sie herum war beinahe körperlich zu spüren.

Noch einmal roch sie am Fläschchen und kostete den Inhalt. Es gab keinen Zweifel.

Ein gerissener Trick, ihr den Urin einer schwangeren Frau als den des Papstes unterzuschieben. Auf diese Weise hatten die Ärzte Johanna in eine absolute Zwangslage gebracht. Als einfacher Priester – noch dazu als Ausländer – konnte sie es nicht wagen, eine so erlauchte Versammlung der arglistigen Täuschung zu bezichtigen. Andererseits mußte sie die wahre Herkunft des Urins offenbaren, sonst würde man sie als Betrüger hinstellen.

Die Falle war geschickt gestellt. Wie konnte sie ihr entkommen?

Johanna dachte nach.

Dann wandte sie sich der Versammlung zu und verkündete mit ehrfurchtsvoller Stimme: »Hier sind keine Dämonen am Werk, sondern der Herrgott selbst. Er tut ein Wunder. In spätestens einem Monat wird der Heilige Vater Mutter.«

 

Benedikt schüttelte sich vor Lachen, als er mit Johanna die Große Halle verließ. »Wie diese alten Männer geguckt haben! Ich konnte mich nur mit Mühe zurückhalten, laut loszulachen!« Es schien ihn sehr zu erheitern, wie Johanna mit den Ärzten umgesprungen war. »Ihr habt Euer Können bewiesen und die Täuschung ohne ein Wort des Vorwurfs enthüllt. Das war großartig!«

Als sie sich dem päpstlichen Schlafgemach näherten, hörten sie heisere Rufe hinter der Tür.

»Halsabschneider! Blutsauger! Noch bin ich nicht tot!« Ein lautes Krachen und Klirren ertönte, als irgend etwas geworfen wurde.

Benedikt öffnete die Tür. Sergius saß im Bett; sein Gesicht |346|war dunkelrot vor Zorn. Zwischen Tür und Bett lag eine zerbrochene Tonschüssel vor einer Gruppe eingeschüchterter Priester und schaukelte auf dem Fußboden heftig auf und ab. Sergius schnappte sich einen goldenen Becher und holte aus, ihn nach den glücklosen geistlichen Würdenträgern zu werfen.

Benedikt eilte zum Bett und packte Sergius’ Hand. »Aber, aber, Bruder. Du weißt doch, was die Ärzte gesagt haben. Du bist krank; du darfst dich nicht so aufregen.« Mit einiger Mühe zerrte er Sergius den Becher aus der Hand und stellte ihn zurück auf den Tisch.

Sergius sagte anklagend: »Ich bin aufgewacht, und was sehe ich da?« Er zeigte auf die Geistlichen. »Diese Bande reibt mich mit Öl ein! Sie wollten mir die unctio extrema erteilen.«

Die Prälaten schwiegen und strichen sich mit angeknackster Würde die Roben glatt. Es schien sich um wichtige Männer zu handeln; einer, der das Pallium eines Erzbischofs trug, sagte: »In Anbetracht des sich verschlechternden Gesundheitszustands Seiner Heiligkeit hielten wir es für angeraten, ihm vorsichtshalber die Letzte Ölung …«

»Raus mit Euch«, wurde er von Benedikt unterbrochen.

Johanna staunte. Benedikt mußte tatsächlich ein sehr mächtiger Mann sein, daß er so mit einem Erzbischof umsprang.

»Überlegt, was Ihr tut, Benedikt«, warnte der Erzbischof. »Wollt Ihr die unsterbliche Seele Eures Bruders in Gefahr bringen?«

»Hinaus!« Benedikt wedelte mit den Armen, als wollte er einen Schwarm Amseln verscheuchen. »Alle!«

Die Würdenträger zogen sich zurück und verließen schmollend in einmütiger Entrüstung das Zimmer.

Kraftlos ließ Sergius sich zurück in die Kissen sinken. »Der Schmerz, Benedikt«, jammerte er. »Ich kann den Schmerz nicht mehr ertragen!«

Aus einem Krug neben dem Bett goß Benedikt Wein in den goldenen Becher und hielt ihn Sergius an die Lippen. »Trink«, sagte er, »dann wird’s dir besser gehen.«

Sergius trank mit gierigen Schlucken. »Mehr«, verlangte er, kaum daß er den Becher geleert hatte. Benedikt schenkte ihm noch einmal ein; dann füllte er den Becher ein drittes Mal. Der Wein lief Sergius aus den Mundwinkeln. Er war ein kleiner, aber ungemein dicker Mann, dessen Gesicht nur aus mehreren |347|Kugeln, Halbkugeln und Kreisen bestand: Der runde Kopf saß auf einem runden Kinn, und runde Augen blickten aus zwei dicken Fleischringen hervor.

»Schau nur«, sagte Benedikt, nachdem Sergius’ Durst gestillt war, »was ich für dich getan habe, Bruder. Ich habe jemanden mitgebracht, der dir helfen kann. Es ist Johannes Anglicus, ein Heiler von hohem Ansehen.«

»Schon wieder ein Arzt?« sagte Sergius mißtrauisch.

Doch der Papst erhob keinen Widerspruch, als Johanna die Decken zurückschlug, um ihn zu untersuchen. Sie war über seinen Zustand entsetzt. Sergius’ Beine waren bedrohlich angeschwollen; die gerötete Haut spannte sich so sehr, daß sie an einigen Stellen bereits aufgeplatzt war. Außerdem hatte der Papst sich ernste Gelenkentzündungen zugezogen; Johanna glaubte die Ursache zu kennen, mußte aber sichergehen, bevor sie ein endgültiges Urteil fällen konnte. Sie untersuchte Sergius’ Ohren – und da waren sie, deutlich zu sehen: die verräterischen Tophi, kleine, kreidige Auswüchse, die Krebsaugen ähnelten und deren Vorhandensein nur eins bedeuten konnte: Sergius litt an einem akuten Gichtanfall.

Und das hatten die gelehrten Doktoren nicht erkannt?

Behutsam strich Johanna mit den Fingerspitzen über die rote, durchscheinende Haut und ertastete schließlich die Entzündungsquelle.

»Wenigstens hat der hier nicht die Hände eines Fuhrknechts«, räumte Sergius mit einem Blick auf Johanna ein. Es war erstaunlich, daß er immer noch zu Scherzen aufgelegt war, denn er brannte regelrecht vor Fieber. Johanna fühlte seinen Puls; dabei fielen ihr die vielen Schnittwunden an seinem Arm auf, die von den Aderlässen stammten. Sergius’ Herz schlug nur schwach, und nun, da sein Zornesausbruch verebbt war, besaß seine Haut eine kränkliche, bläulich-weiße Farbe.

Benedicte! dachte Johanna. Kein Wunder, daß er so großen Durst hat. Die Ärzte hatten ihn so oft zur Ader gelassen, daß er beinahe verblutet wäre.

Sie wandte sich an den Kammerdiener. »Hol mir Wasser. Mach schnell.«

Das wichtigste war jetzt erst einmal, die Schwellungen zu beseitigen, bevor sie Sergius umbrachten. Gott sei Dank hatte Johanna das Pulver einer Colchicumknolle dabei. Sie griff in ihren Ranzen, holte ein kleines Stück gewachstes Pergament |348|hervor und faltete es behutsam auseinander, damit nichts von dem kostbaren Pulver verlorenging. Der Kammerdiener kam mit einem Krug Wasser zurück. Johanna goß einen Becher voll und gab die empfohlene Dosis von zwei Dam – knapp zehn Gramm – Wurzelpulver hinein. Dann fügte sie reinen Honig hinzu, um den bitteren Geschmack zu überdecken, sowie eine kleine Dosis Bilsenkraut, um Sergius einschlafen zu lassen; denn Schlaf war das beste Mittel gegen Schmerz, und die Ruhe war die größte Hoffnung auf Genesung.

Sie reichte Sergius den Becher, der ihn gierig ergriff. »Bäh!« Er spuckte aus. »Das ist ja Wasser!«

»Trinkt«, sagte Johanna mit Nachdruck.

Zu ihrem Erstaunen gehorchte Sergius. »Und jetzt?« fragte er, als er den Becher geleert hatte. »Werdet Ihr mich zur Ader lassen, stimmt’s?«

»Ich würde sagen, von diesen Torturen habt Ihr schon genug über Euch ergehen lassen.«

»Soll das heißen … das war alles?« mischte Benedikt sich verwundert ein. »Ein Becher Wasser und fertig?«

Johanna seufzte. Solchen Reaktionen war sie schon häufig begegnet. Bei der Kunst des Heilens mußte es bombastisch, dramatisch zugehen; Mäßigung und Sachlichkeit wurden nicht geschätzt. Der asketische Geist dieser Zeit verlangte möglichst spektakuläre Eingriffe. Je ernster die Krankheit war, desto drastischere Behandlungsmethoden wurden erwartet.

»Seine Heiligkeit leidet unter der Gicht. Ich habe ihm Colchicum gegeben, ein bekanntermaßen wirksames Mittel gegen diese Krankheit. Gleich wird er schlafen, und wenn es Gottes Wille ist, sind die Schwellungen und der Schmerz, die ihm so sehr zu schaffen machen, in wenigen Tagen verschwunden.«

Als wollte er beweisen, daß Johanna die Wahrheit sagte, wurde Sergius’ rasselnder Atem leiser; sein Körper entspannte sich, und friedlich schloß er die Augen, als er einschlief.

Mit einem Knall flog die Tür auf. Ein kleiner, sichtlich angespannter Mann mit einer Miene wie ein kampfbereiter Zwerghahn kam ins Zimmer gestürmt. Er fuchtelte Benedikt mit einer Pergamentrolle unter der Nase herum. »Da! Hier sind die Papiere. Jetzt fehlt nur noch die Unterschrift.« Seiner Kleidung und seiner Redeweise nach zu urteilen, schien es sich um einen Kaufmann zu handeln.

|349|»Jetzt nicht, Aio«, sagte Benedikt.

Aio schüttelte heftig den Kopf. »Nein, Benedikt, ich lasse mich nicht schon wieder vertrösten. Ganz Rom weiß, daß der Papst an einer sehr ernsten Krankheit leidet. Was ist, wenn er heute nacht das Zeitliche segnet?«

Johanna warf einen besorgten Blick auf Sergius; aber der hatte nichts gehört. Er war in einen Dämmerschlaf gesunken.

Der Fremde klingelte mit einem großen Beutel Münzen und hielt ihn dabei vor Benedikts Augen. »Eintausend mancusos, wie vereinbart. Unterschreibt die Urkunde, und das hier …« – er hob einen zweiten, kleineren Geldbeutel in die Höhe – »… gehört Euch noch dazu.«

Benedikt grapschte sich das Pergament, ging damit zum Bett und rollte es auf den Laken aus. »Sergius?«

»Er schläft!« protestierte Johanna. »Ihr dürft ihn nicht wecken!«

Benedikt beachtete sie nicht. »He! Sergius!« Er packte seinen Bruder bei den Schultern und schüttelte ihn grob.

Sergius schlug die Augen auf und blinzelte. Benedikt nahm eine Schreibfeder vom Tisch neben dem Bett, tauchte sie in ein Tintenfäßchen und legte Sergius’ schlaffe Finger um die Feder. »Unterschreib«, befahl er.

Benommen drückte Sergius die Feder auf das Schriftstück. Seine Hand zitterte, und er verspritzte die Tinte über das Pergament. Benedikt legte seine Hand auf die des Bruders, und gemeinsam setzten sie die Unterschrift des Papstes unter das Schriftstück.

Von dort aus, wo Johanna stand, konnte sie den Inhalt der Urkunde deutlich lesen. Es war ein Dokument, mit dem Aio zum Bischof von Alatri ernannt wurde. Bei dem Kuhhandel, der so schamlos vor Johannas Augen abgeschlossen wurde, kaufte sich dieser Aio ein Bischofsamt!

»Schlaf jetzt, Bruder«, sagte Benedikt. Er war zufrieden, daß er nun hatte, was er wollte. An Johanna gewandt, sagte er: »Ihr bleibt bei ihm.«

Johanna nickte und beobachtete, wie Benedikt und Aio das Zimmer verließen. Dann zog sie Sergius wieder die Laken über und strich sie glatt. Ihr Kinn war in einer für sie typischen Geste der Entschlossenheit vorgereckt. Offensichtlich lag im päpstlichen Palast sehr vieles im argen. Und es sah nicht danach aus, als würde eine Besserung eintreten, solange Sergius |350|krank im Bett lag und in Wahrheit sein bestechlicher Bruder das Amt des Papstes ausübte. Johannas Aufgabe war klar und deutlich: Sie mußte den Papst heilen, und zwar so schnell wie möglich.

 

Während der nächsten zwei Tage blieb Sergius’ Zustand ernst. Die ständigen Gesänge und Gebete der Priester hielten ihn vom ruhigen Schlaf ab, bis diese priesterliche Krankenwache auf Johannas beharrliches Drängen endlich abgeschafft wurde. Von zwei, drei kurzen Ausflügen zur Scola Anglorum abgesehen, die Johanna zwecks Beschaffung weiterer Heilmittel unternahm, wich sie nicht von Sergius’ Seite. Ständig beobachtete und überwachte sie seinen Zustand; nachts schlief sie auf einem Stapel Kissen neben dem Bett.

Am dritten Tag begannen die Schwellungen nachzulassen, und die Haut der gedunsenen Glieder schälte sich. Am Abend erwachte Johanna aus einem unruhigen Schlaf und stellte fest, daß der Papst nicht mehr schwitzte. Dem Himmel sei Dank, dachte sie. Das Fieber läßt nach.

Am nächsten Morgen erwachte Sergius.

»Wie fühlt Ihr Euch?« fragte Johanna.

»Ich … weiß nicht«, erwiderte er erschöpft. »Besser, glaube ich.«

»Auf jeden Fall seht Ihr schon sehr viel besser aus.« In der Tat waren der ermattete Gesichtsausdruck und der kränkliche, bläuliche-graue Schimmer der Haut verschwunden.

»Meine Beine …«, Sergius schob die Arme unter die Laken und kratzte sich, »… sie jucken schrecklich!«

»Das ist ein gutes Zeichen. Es beweist, daß das Leben in die Beine zurückkehrt«, sagte Johanna. »Aber die Haut darf sich nicht entzünden; denn es besteht immer noch die Gefahr einer Infektion. Also laßt bitte die Kratzerei.«

Sergius zog die Hände unter den Laken hervor – um sie im nächsten Augenblick wieder zurückzuschieben und sich weiter an den Beinen zu kratzen. Der Juckreiz war übermächtig. Johanna verabreichte ihm eine Dosis Bilsenkraut, um ihn ruhigzustellen, und er schlief ein. Als er am nächsten Tag die Augen aufschlug, war er bei vollkommen klarem Verstand und sich seiner Umgebung deutlich bewußt.

»Der Schmerz – er ist verschwunden!« Sergius schaute auf seine Beine. »Und die Schwellungen ebenfalls!« Diese Feststellung |351|verlieh ihm frischen Schwung, und er zog sich in eine Sitzposition empor, blickte zum Kammerdiener, der an der Tür stand, und sagte: »Ich hab’ Hunger. Bring mir Brot, Speck, Käse und einen großen Krug Wein.«

»Nichts da! Einen kleinen Teller Grüngemüse und einen Becher Wasser«, wandte Johanna sich an den Kammerdiener, der sich schleunigst auf den Weg machte, bevor der Papst protestieren konnte.

Sergius’ Brauen hoben sich vor Verwunderung. »Wer seid Ihr?«

»Ich heiße Johannes Anglicus.«

»Ihr seid kein Römer.«

»Ich bin im Frankenreich geboren.«

»Das Land im Norden!« Sergius’ Blick wurde mißtrauisch. »Seid ihr dort droben wirklich so schreckliche Barbaren, wie man behauptet?«

Johanna lächelte. »Es gibt dort nicht so viele Kirchen, falls Ihr das meint.«

»Wenn Ihr im Frankenreich geboren seid, weshalb nennt man Euch dann ›Anglicus‹?« fragte Sergius. In Anbetracht der gerade erst durchstandenen Krankheit war er schon wieder erstaunlich rege.

»Mein Vater stammte aus England«, erklärte Johanna. »Er ist aufs Festland gekommen, um den Sachsen das Wort Gottes zu verkünden.«

»Die Sachsen.« Sergius machte ein finsteres Gesicht. »Ein gottloses Volk.«

Mutter. In Johanna stieg die altvertraute Woge aus Liebe, Zärtlichkeit und Trauer auf. »Die meisten Sachsen sind jetzt Christen«, sagte sie herb, »jedenfalls, soweit man Menschen mit Feuer und Schwert vom wahren Glauben überzeugen kann.«

Sergius betrachtete sie mit scharfem Blick. »Seid Ihr etwa nicht der Meinung, daß die Kirche den Auftrag hat, die Heiden zu bekehren?«

»Welchen Wert hat ein Versprechen, wenn es unter Zwang gegeben wurde? Wenn ein Mensch gefoltert wird, kann es sein, daß er alles sagt, was seine Peiniger hören wollen, nur um den Qualen ein Ende zu machen.«

»Das ändert nichts daran, daß unser Herr Jesus uns geboten hat, in Frieden hinzugehen, allen Völkern im Namen des Vaters, |352|des Sohnes und des Heiligen Geistes die frohe Botschaft zu verkünden und die Menschen zu taufen.«

»Das stimmt«, räumte Johanna ein. »Aber …« Sie hielt inne. Du tust es schon wieder! schalt sie sich. Wieder einmal ließ sie sich in ein unvernünftiges, unter Umständen gefährliches Streitgespräch verwickeln. Und diesmal mit keinem geringerem als dem Papst.

»Ja?« sagte Sergius. »Nur weiter.«

»Verzeiht mir, Heiligkeit. Eure Gesundheit ist noch angeschlagen.«

»Nicht so sehr, daß ich keinen vernünftigen Gedanken fassen könnte«, erwiderte Sergius ungeduldig. »Sprecht weiter.«

»Na ja«, Johanna wählte ihre Worte mit Bedacht, »bedenkt einmal die Reihenfolge des Gebots, das Jesus erteilt hat. Zuerst die Völker lehren und dann taufen. Christus hat uns nicht dazu ermahnt, das Sakrament der Taufe zu spenden, bevor der Glaube wahrhaftig in den Herzen der Menschen ist. Und bei Jesus ist von Feuer und Schwert als Instrumenten der Bekehrung und Mission nicht die Rede.«

Sergius betrachtete Johanna interessiert. »Ihr argumentiert geschickt. Wo habt Ihr studiert?«

»Ein Grieche namens Aeskulapius, ein Mann von hoher Bildung, hat mich unterrichtet, als ich noch ein kleines Kind war. Später wurde ich auf die Domschule in Dorstadt geschickt und anschließend auf das Kloster zu Fulda.«

»Ah, Fulda! Ich habe erst vor kurzem einen Prachtband von Rabanus Maurus geschenkt bekommen, dem dortigen Abt. Das Buch ist herrlich bebildert und enthält sogar ein Gedicht über das Heilige Kreuz Christi aus Rabanus’ eigener Feder. Wenn ich ihm meinen Dankesbrief schreibe, werde ich ihm von den Diensten berichten, die Ihr mir erwiesen habt.«

Johanna hatte geglaubt, Abt Rabanus ein für allemal hinter sich gelassen zu haben; doch wie es aussah, war das ein Irrtum gewesen. Würde der tyrannische Haß dieses Mannes ihr sogar bis hierher folgen und ihr das neue Leben verderben, das sie in Rom begonnen hatte? »Ich fürchte, aus Fulda werdet Ihr nichts Gutes über mich hören«, sagte sie.

»Wieso?«

»Der Abt betrachtet den Gehorsam als wichtigstes aller Gelübde. Und mit dem Gehorsam hat es bei mir ein bißchen … gehapert.«

|353|»Und die anderen Gelübde?« fragte Sergius streng. »Wie steht es damit?«

»Was die Armut betrifft – ich bin in Armut geboren und daran gewöhnt. Und was die Keuschheit angeht …«, Johanna mühte sich, jeden Hauch von Ironie aus ihrer Stimme fernzuhalten, »… so habe ich stets allen Verlockungen des Weibes widerstanden.«

Sergius’ Miene wurde weicher. »Das freut mich zu hören. Denn was diese Frage betrifft, sind Abt Rabanus und ich verschiedener Meinung. Von allen priesterlichen Gelübden ist die Keuschheit fraglos das höchste, edelste und gottgefälligste.«

Johanna staunte, daß Sergius diese Meinung vertrat. Gerade in Rom war man weit davon entfernt, allgemein das Ideal der priesterlichen Keuschheit zu befolgen. Für den römischen Geistlichen war es ganz und gar nicht ungewöhnlich, eine Frau zu haben; denn auch verheirateten Männern stand der Zugang zum Priesteramt offen, vorausgesetzt, sie erklärten sich einverstanden, für alle Zukunft dem geschlechtlichen Verkehr mit ihren Frauen zu entsagen – eine Bestimmung, an die sich in der Praxis jedoch kaum jemand hielt, wie nicht anders zu erwarten.

Zudem erhoben Frauen nur selten Einspruch, wenn ihr Gatte den Beruf des Geistlichen anstrebte, konnten sie sich doch im priesterlichen Glanz des Gemahls sonnen: »Priesterin«, wurden die Frauen der Geistlichen denn auch genannt, oder »Diakonissin«, falls es sich um die Gattin eines Diakons handelte. Sogar Papst Leo III. war verheiratet gewesen, als er den päpstlichen Thron bestieg, und niemand in Rom hätte deshalb schlecht über ihn gedacht.

Der Kammerdiener kam mit einem silbernen Teller zurück, der mit Brot und Grüngemüse gedeckt war. Er stellte den Teller vor Sergius hin, der ein Stück Brot abbrach und hungrig hineinbiß. »Und nun«, sagte er, »erzählt mir alles über Euch und Rabanus Maurus.«