Fünfundzwanzig
Bist du sicher, dass ich nicht mitkommen soll?«, fragte Laurels Mutter, als sie auf die lange Schotterpiste einbogen.
»Sie kommen vielleicht nicht raus, wenn du mitkommst«, antwortete Laurel. »Mir passiert hier nichts.« Sie lächelte die dicht wachsenden Bäume an. »An keinem anderen Ort auf der Welt bin ich mehr in Sicherheit, glaube ich.« Sie hatte ihren Eltern in den letzten drei Tagen schonend beigebracht, dass sie eine Elfe war. An diesem Morgen versicherte sie ihnen wiederholt, dass es in ihrem eigenen Interesse war, den Vorschlag der Elfen anzunehmen. Ihre Eltern blieben zwar skeptisch, aber angesichts der Tatsache, dass die Elfen das Leben ihres Vaters gerettet hatten, spielte das eine untergeordnete Rolle. Im Einklang mit einer ersten Schätzung des Diamanten, die einen Wert von knapp achthunderttausend Dollar ergeben hatte, gab das den Ausschlag.
Laurel neigte sich zum Fahrersitz und umarmte ihre Mutter. »Du kommst doch zurück, oder?«, fragte Sarah. Laurel musste lächeln, weil David dieselbe Frage gestellt hatte. »Ja, Mom, ich komme zurück.«
Sie stieg aus und atmete die kalte, frische Luft ein. Graue Regenwolken bedeckten den Himmel, aber Laurel weigerte sich, darin ein schlechtes Omen zu sehen. »Das liegt an der Winterluft«, murmelte sie vor sich hin. Dennoch drückte sie die Tüte mit den weichen Mokassins an die Brust, als könnte sie sie vor eventuellen schlechten Nachrichten schützen, die sie im Wald erwarten mochten. Schlechte Nachrichten kamen aber nicht infrage, das durfte einfach nicht sein.
Nachdem sie den dunklen Wald betreten hatte, wählte sie den Weg zum Bach. Ihr war klar, dass sie von Elfen umzingelt sein musste, aber sie wagte nicht, laut zu rufen. Sie war sich nicht sicher, ob ihre Stimme mitspielen würde.
Als sie zu dem rauschenden Bach kam, legte sie die Tüte auf den Stein, auf dem sie bei ihrer ersten Begegnung mit Tamani gesessen hatte. Dann setzte sie sich dazu und wartete. Sie wartete einfach ab.
»Hallo, Laurel.«
Diese Stimme würde sie überall erkennen, sie hatte sie in den letzten vier Tagen in ihren Träumen verfolgt. Falsch, in den letzten zwei Monaten. Sie drehte sich um und warf sich in Tamanis Arme. Vor Erleichterung kamen ihr die Tränen und sie weinte sein Hemd nass.
»Ich sollte mich öfter anschießen lassen«, sagte er und drückte sie an sich.
»Mach das gefälligst nie wieder!«, befahl Laurel und presste ihre Wange an Tamanis Brust. Er trug immer so weiche Hemden. In diesem Moment wollte sie ihr Gesicht am liebsten für immer an den glatten Stoff schmiegen. Seine Hände waren in ihrem Haar, er streichelte ihre Schulter, strich ihr eine Träne von der Schläfe – seine Hände waren überall. Währenddessen murmelte er einen Strom sanfter Worte, die sie nicht verstand und die sie doch trösteten, als hätte er sie verzaubert. Ihr war es egal, dass Tamanis Magie schwach war – er war magisch genug!
Als sie ihn schließlich losließ, lachte sie und wischte die Tränen fort. »Ich freue mich so, dich zu sehen, echt. Geht es dir gut? Es ist doch erst vier Tage her.«
Tamani zuckte die Achseln. »Ich bin noch ein wenig wund und eigentlich soll ich mich erholen und muss nicht arbeiten. Aber ich wusste, dass du kommen würdest, und dann wollte ich hier sein.« Er beugte sich vor und strich ihr eine Haarsträhne hinters Ohr.
»Ich … ich … ich habe dir die hier wieder mitgebracht«, stammelte Laurel und wollte ihm die Tüte mit den Mokassins reichen. Seine Nähe ließ sie wie immer erschauern.
Tamani schüttelte den Kopf. »Die habe ich für dich gemacht.«
»Noch was, damit ich an dich denke?«, fragte Laurel und berührte den winzigen Ring, den sie um den Hals trug.
»Es kann gar nicht genug Dinge geben, die dich an mich erinnern.« Tamani ließ den Blick über die kleine Lichtung schweifen. Er räusperte sich. »Das Wichtigste zuerst: Ich bin beauftragt, dich zu fragen, wie unser Vorschlag aufgenommen wurde.«
»Recht gut«, erwiderte Laurel in demselben pseudoförmlichen Ton. »Die Dokumente werden so schnell wie möglich aufgesetzt.« Sie verdrehte die Augen. »Ich glaube, es soll ein Weihnachtsgeschenk werden.«
Lachend zog Tamani sie enger an sich. »Komm weg hier«, sagte er. »Die Bäume haben Augen.«
»Wohl kaum die Bäume«, sagte Laurel lakonisch.
Tamani kicherte. »Richtig. Hier lang.«
Er nahm ihre Hand und führte sie über einen Weg, der sich hierhin und dahin schlängelte, aber letztendlich nirgendwohin führte.
»Geht es deinem Vater besser?«, fragte Tamani und drückte ihre Hand.
Laurel lächelte. »Er wird heute Nachmittag entlassen. Morgen früh will er wie neugeboren an die Arbeit gehen.« Ernüchtert fuhr sie fort: »Deswegen bin ich hier. Wir kehren heute noch nach Crescent City zurück. Ich …« Sie senkte den Blick. »Ich weiß nicht, wann ich wiederkomme.«
Tamani drehte sich um und sah sie an. In seinen brunnentiefen Augen lag etwas, das sie nicht ergründen konnte.
»Bist du gekommen, um dich zu verabschieden?«
Aus seinem Mund klang es so schroff, aber sie sagte: »Für die nächste Zeit, ja.«
Tamani wischte mit seinem nackten Fuß welkes Laub hin und her. »Was hat das zu bedeuten? Du ziehst mir David vor?«
Sie hatte nicht vorgehabt, über David zu reden. »Ich wünschte, es wäre anders zu machen, Tamani. Aber ich kann zurzeit nicht in deiner Welt leben, ich bin gezwungen, in meiner zu bleiben. Was soll ich denn machen? Soll ich meine Mom oder David bitten, mich ab und zu herzufahren, damit ich meinen Freund besuchen kann?«
Tamani drehte sich wieder um und ging ein paar Schritte, aber Laurel folgte ihm.
»Soll ich dir Briefe schreiben oder dich anrufen? Mir bleibt keine andere Wahl.«
»Du könntest hierbleiben«, sagte er so leise, dass sie ihn kaum verstand.
»Hierbleiben?«
»Du könntest für immer hier bei mir bleiben.« Er redete weiter, bevor sie dazwischenfunken konnte. »Das Grundstück wird bald dir gehören. Und ein Haus steht schon da. Bleib doch hier!«
In Laurels Kopf wirbelten herrliche Bilder von einem Leben mit Tamani, aber sie zwang sich, sie zu verdrängen.
»Nein, Tam. Ich kann nicht.«
»Du hast früher auch schon hier gelebt und damals war alles gut.«
»Gut? Wieso sollte es gut gewesen sein? Ihr habt mich die ganze Zeit beobachtet und meine Eltern mit Vergessenselixieren abgefüllt!«
Tamani betrachtete angestrengt den Waldboden. »Das hast du herausgefunden?«
»Es war die einzige logische Erklärung.«
»Ich fand es auch nicht toll, falls das hilft.«
Laurel atmete tief ein. »Haben sie … haben sie mich auch gezwungen, etwas zu vergessen? Nachdem ich hier angekommen war, meine ich.«
Er mied ihren Blick. »Ab und zu.«
»Hast du es je getan?«, fragte sie forschend.
Er sah sie mit aufgerissenen Augen an und schüttelte den Kopf. »Ich habe es nicht über mich gebracht.« Er kam näher und sagte kaum hörbar: »Einmal hätte ich es tun sollen, aber ich habe es nicht geschafft.«
»Was war passiert?«
Er kratzte sich am Nacken. »Es macht mich wahnsinnig, dass du dich nicht daran erinnerst.«
»Tut mir leid.«
Er zuckte die Achseln. »Du warst noch sehr jung. Ich war neu als Wachtposten – ich war erst eine Woche da – und gab nicht genügend Acht, sodass du mich sehen konntest.«
»Ich habe dich gesehen?«
»Oh ja, damals warst du vielleicht zehn Jahre nach menschlichem Ermessen. Ich legte nur den Finger auf die Lippen, damit du still warst, und verbarg mich schnell hinter einem Baum. Du hast mich eine Minute angesehen, höchstens zwei, aber nach einer Stunde hattest du es anscheinend schon vergessen.«
Laurel stand lange schweigend neben ihm. »Ich … ich kann mich daran erinnern. Ganz vage. Das warst du?«
Freude leuchtete in Tamanis Blick. »Du weißt es noch?«
Laurel wandte den Blick ab. »Ein ganz kleines bisschen«, sagte sie leise und räusperte sich. »Und wie steht es mit meinen Eltern? Hast du sie vergessen lassen?«
Tamani seufzte. »Hin und wieder. Ich musste es tun«, sagte er, um Laurels Widerworte abzuschneiden. »Das war meine Aufgabe. Es ist aber nur zwei oder drei Mal vorgekommen. Als ich herkam, warst du schon vorsichtiger, und wir mussten dich nicht mehr einmal pro Woche verarzten. Und wenn deine Eltern nah dran waren, habe ich immer versucht, jemand anderen dazu zu bringen. Ich war von Anfang an der Meinung, dass der Plan lausig war.«
Nach kurzem Schweigen sagte Laurel: »Na, vielen Dank.«
»Sei nicht böse. Wenn du jetzt bliebest, wäre es ganz anders. Jetzt weißt du ja Bescheid, sogar deine Eltern sind eingeweiht. Das müssten wir alles nicht mehr tun.«
Laurel schüttelte den Kopf. »Ich muss bei meinen Eltern bleiben. Sie schweben mehr denn je in großer Gefahr. Man hat mir die Aufgabe übertragen, sie zu beschützen, und ich kann mich jetzt nicht von ihnen abwenden. Es sind Menschen – und mögen dir geringer erscheinen, aber ich liebe sie, und ich werde es nicht zulassen, dass sie von dem erstbesten Ork, der sie wittert, abgeschlachtet werden. Das lasse ich nicht zu!«
»Und warum bist du dann hier?«, fragte er verbittert.
Sie brauchte einige Sekunden, um ihre Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. »Weißt du etwa nicht, wie gern ich hierbliebe? Ich liebe diesen Wald. Ich liebe …« Sie zögerte. »Ich liebe es, mit dir zusammen zu sein. Von Avalon zu hören, seine Magie in den Bäumen zu spüren. Jedes Mal wenn ich hier weggehe, frage ich mich, warum.«
»Und warum tust du es dann?« Jetzt sprach Tamani lauter, fordernder. »Bleib!« Er umklammerte ihre Hand. »Bleib bei mir. Ich nehme dich mit nach Avalon. Avalon, Laurel. Du kannst dorthin gehen. Wir können zusammen hingehen.«
»Hör auf! Ich kann nicht, Tamani. Ich kann jetzt einfach noch nicht in eure Welt eintreten.«
»In deine Welt.«
»In meine Welt«, lenkte Laurel ein. »Meine Familie ist zu sehr von mir abhängig. Ich muss mein Menschenleben leben.«
»Mit David«, sagte Tamani.
Frustriert schüttelte Laurel den Kopf. »Ja, wenn du es so genau wissen willst. David ist mir sehr wichtig. Aber ich habe dir schon gesagt, dass es hier nicht um eine Entscheidung zwischen David und dir geht. Ich versuche nicht, herauszufinden, wer die wahre Liebe meines Lebens ist. So ist das nicht.«
»Für dich vielleicht nicht.«
Seine Stimme war leise – kaum hörbar -, aber die Intensität traf sie wie ein Schlag.
»Was soll ich tun, Laurel? Ich habe alles getan, was mir in den Sinn gekommen ist. Ich wurde angeschossen, während ich dich beschützte. Sag mir, was ich noch tun soll, und ich tue es. Egal was, Hauptsache, du bleibst hier.«
Sie zwang sich, ihm in die Augen zu sehen – in deren Tiefen Gefühle tobten, die sie nie würde ergründen können.
Ihr Mund war trocken; sie suchte ihre Stimme. »Warum liebst du mich so sehr, Tamani?« Diese Frage quälte sie schon seit Wochen. »Du kennst mich doch kaum.«
Über ihnen grollte es vom Himmel. »Und wenn … das nicht wahr wäre?«
Sie standen auf der Klippe, sie spürte es. Hatte sie die Kraft zu springen? »Wie könnte das nicht wahr sein?«, flüsterte sie.
Sein feuriger Blick bannte sie noch immer. »Und wenn ich dir sage, dass unsere Leben vor langer Zeit miteinander verflochten waren?«
Er schlang seine Finger um ihre und hob die verschlungenen Fäuste hoch.
Laurel starrte auf ihre Hände. »Das verstehe ich nicht.«
»Ich habe dir erzählt, dass du sieben warst, als du zu den Menschen gingst. In der Elfenwelt jedoch warst du im Geiste viel älter, erinnerst du dich? Du hattest ein Leben, Laurel, du hattest Freunde.« Er hielt inne, und Laurel erkannte, wie sehr er mit seinen Gefühlen kämpfte. »Du hattest mich.« Tamani flüsterte nur noch. »Ich kannte dich, Laurel, und du kanntest mich. Wir waren zwar nur Freunde, aber die besten Freunde aller Zeiten. Ich … ich bat dich, nicht zu gehen, aber du bestandest darauf, dass es deine Pflicht sei. Pflicht und Verantwortungsgefühl habe ich von dir gelernt.« Er senkte den Blick und hob ihre Hände an seine Brust. »Du wolltest weiter an mich denken, aber sie haben dich gezwungen, mich zu vergessen. Ich dachte, ich sterbe, als du mich das erste Mal wiedergesehen und nicht erkannt hast.«
Laurel standen die Tränen in den Augen.
»Ich habe gelogen – was den Ring betrifft«, sagte Tamani mit leiser, ernster Stimme. »Das war nicht einfach irgendein Ring, es war deiner. Du hast ihn mir zur Aufbewahrung gegeben, bis die Zeit kommen würde, ihn dir zurückzugeben. Du dachtest – du hofftest, dass es deiner Erinnerung an dein Leben davor auf die Sprünge helfen würde.« Er zuckte mit den Achseln. »Das hat offenbar nicht funktioniert, aber ich hatte dir versprochen, es zu versuchen.«
Laurel stand einfach nur da, während kalter Regen auf sie niederprasselte.
»Ich habe dich nie verloren gegeben, Laurel. Ich habe geschworen, dass ich einen Weg finde, in dein Leben zurückzukehren. Deshalb bin ich Wachtposten geworden, so früh es eben ging, und habe Himmel und Welt in Bewegung gesetzt, um an dieses Tor versetzt zu werden. Jamison hat mir geholfen. Ich schulde ihm mehr, als ich je zurückzahlen kann.« Er hob ihre Hände zu seinem Gesicht und küsste sanft ihre Finger. »Ich habe dich jahrelang beobachtet und zugesehen, wie du von einem kleinen Mädchen zu einer ausgewachsenen Elfe herangewachsen bist. In unserer Kindheit waren wir die besten Freunde und in den letzten fünf Jahren war ich beinahe täglich bei dir. Ist es so unverständlich, dass ich mich in dich verliebt habe?«
Laurel schwieg, es gab nichts zu sagen.
Tamani lachte leise. »Du bist so gern in den Wald gekommen und hast dich an den Bach gesetzt, um zu singen und Gitarre zu spielen. Dann saß ich immer auf einem Baum und habe dir zugehört. Das war meine Lieblingsbeschäftigung. Du singst so schön!«
Sein Pony hing jetzt aufgeweicht und nass über seiner Stirn. Laurel ließ ihren Blick über seinen Körper schweifen: die glatte schwarze Kniehose, das grüne Hemd, das eng an seiner Brust anlag, und das symmetrische Gesicht, das vollkommener war, als es ein Menschenjunge je ersehnen konnte. »So lange hast du auf mich gewartet?«, fragte sie flüsternd.
Tamani nickte. »Ich warte auch noch länger. Eines Tages kommst du nach Avalon, und wenn es so weit ist, zeige ich dir, was ich dir in meiner Welt zu bieten habe, in deiner Welt. Du wirst mich erwählen, du wirst mit mir nach Hause gehen.« Er hielt ihr Gesicht in seinen Händen.
Tränen brannten in ihren Augen. »Das kannst du nicht wissen, Tamani.«
Er fuhr sich mit der Zunge nervös über die Lippen, bevor ein gezwungenes Lächeln seine Züge erhellte. »Nein«, sagte er heiser. »Das kann ich nicht.« Seine Hände um ihr Gesicht, die eben noch kalt wie Stein gewesen waren, glühten nun im Einklang mit seinem Blick, während er mit den Daumen ihre Wangenknochen nachzeichnete. »Aber ich muss daran glauben; ich muss darauf hoffen.«
Laurel hätte ihn gern gebeten, realistisch zu bleiben und nicht auf etwas zu hoffen, was sich vielleicht nicht erfüllen würde. Aber sie brachte es nicht fertig, ihm das zu sagen. Es klang sogar in ihren Gedanken falsch.
»Ich werde warten, Laurel, so lange, wie ich eben warten muss. Ich habe dich nie verloren gegeben.« Er drückte seinen Mund auf ihre Stirn. »Und werde es nie tun.«
Tamani zog das Mädchen eng an sich und schwieg mit ihr. Einen vollkommenen Augenblick lang gab es außerhalb dieser kleinen Stelle auf dem Pfad niemanden sonst auf der Welt. »Na los«, sagte Tamani und zog sie noch mal an sich. »Sonst macht sich deine Mutter noch Sorgen.«
Sie liefen Hand in Hand den kurvigen Weg entlang, bis Laurel sich wieder zurechtfand. »Hier verlasse ich dich«, sagte Tamani etwa dreißig Meter vom Waldrand entfernt.
Laurel nickte. »Es ist ja nicht für immer«, versprach sie noch mal.
»Ich weiß.«
Sie zog an der dünnen Silberkette, bis sie den Sämlingsring sehen konnte, der ihr jetzt noch viel mehr bedeutete. »Ich werde an dich denken, das habe ich ja schon gesagt.«
»Und ich denke an dich, wie ich es seit jeher Tag für Tag getan habe«, sagte Tamani. »Auf Wiedersehen, Laurel.«
Als er sich umdrehte und tiefer in den Wald eindrang, folgte Laurel ihm mit Blicken. Bei jedem Schritt ging ihr Herz ein Stückchen mit. Gleich würde sein grünes Hemd hinter einem Baum verschwinden und Laurel kniff vorsichtshalber die Augen zusammen.
Als sie die Augen wieder öffnete, war Tamani verschwunden.
Es fühlte sich an, als hätte der Wald mit ihm seinen Zauber verloren, das Leben, das sie rund um sich spürte, die Magie, die durch die Pforte sickerte. Nun erschienen ihr die Bäume leblos und leer.
»Warte«, flüsterte sie. Sie machte einen Schritt und fing dann an zu rennen. »Nein!« Der Schrei drang aus tiefster Kehle, als sie die Zweige wegschob, um schneller voranzukommen. »Warte, Tamani!« Sie lief einen Weg entlang, bog in einen anderen und suchte alles ab. »Tamani, bitte!« Sie rannte schneller, so unbedingt wollte sie einen Blick auf sein dunkelgrünes Hemd erhaschen.
Dann war er da! Er drehte sich zu ihr um, seine Miene zeigte, dass er auf der Hut war. Sie blieb nicht stehen, sie lief nicht langsamer. Als sie bei ihm war, packte sie sein Hemd mit beiden Fäusten, zog ihn an sich und stellte sich auf Zehenspitzen, um mit ihrem Mund an ihn heranzukommen. Ihr wurde glühend heiß, als sie sein Gesicht näher zog, immer näher, enger. Er schlang die Arme um sie, und ihre Körper verschmolzen so vollkommen, dass sie nicht versuchte, es zu ergründen. Sein süßer Mund legte sich auf ihre Lippen, und Tamani hielt sie so fest an sich gedrückt, als könnte er sie auf diese Weise in sich aufnehmen, eins mit ihr werden.
Einen Augenblick fühlte sie sich wirklich so. Als überbrücke ihr Kuss die Kluft zwischen ihren Welten, wenn auch nur für einen kurzen, funkelnden Moment.
Als sie sich voneinander lösten, seufzte Tamani tief, als wäre eine jahrelang ertragene Last von ihm gefallen. »Danke«, flüsterte er fast unhörbar.
»Ich …« Laurel dachte an David, der auf ihre Rückkehr wartete. Warum dachte sie bloß immer an den anderen, wenn sie mit einem der beiden zusammen war? Es war schrecklich, sich die ganze Zeit so zerrissen zu fühlen. Schrecklich nicht nur für sie, sondern auch für David und Tamani. Sie hob den Blick und sah ihm direkt in die Augen. »Ich weiß nicht, was geschehen wird. Aber meine Eltern sind in Gefahr. Sie brauchen mich, Tam.« Eine Träne lief ihr über die Wange. »Ich muss sie beschützen.«
»Ich weiß. Ich hätte dich nicht fragen dürfen.«
»Wenn sie nicht wären, würde ich …« Würde ich was?, fragte sie sich.
Die Antwort kannte sie nicht.
»Die kleine Elfe, die dir diesen Ring gab – an die kann ich mich nicht erinnern, Tam. Ich erinnere mich auch nicht an dich. Aber irgendwas irgendwo in mir tut es doch. Und das mag dich noch von früher her.« Sie senkte den Kopf. »Und jetzt mag ich dich auch.«
Tamani lächelte ein seltsames, melancholisches Lächeln. »Vielen Dank für diesen Hoffnungsschimmer, so winzig er auch ist.«
»Die Hoffnung stirbt nie, Tamani.«
»Und jetzt zählt nur der Augenblick.«
Sie nickte, zwang sich, Tamanis Hemd loszulassen, und ging dorthin zurück, woher sie gekommen war.