Dreizehn
Laurel musterte über ihre Schulter
hinweg ihren nackten Rücken im Spiegel. In der Mitte verlief eine
schmale weiße Linie – wie eine lang vergessene Narbe -, die man
kaum sehen konnte.
Sie seufzte, als sie sich ein Tanktop über den Kopf
zog. Das war echt viel besser.
In der vergangenen Nacht war die Vorstellung, eine
Elfe zu sein, so naheliegend gewesen, doch heute erschien sie ihr
schon wieder wie von einem anderen Stern. Sie betrachtete ihr
Gesicht eingehend im Spiegel, weil sie fast erwartete, anders
auszusehen.
»Ich bin eine Elfe«, flüsterte sie. Ihr Spiegelbild
gab keine Antwort.
Es war ein blödes Gefühl, das laut zu sagen. Sie
fühlte sich nicht wie eine Elfe, sie fühlte sich überhaupt nicht
anders als sonst, sondern völlig normal. Aber was sollte es, jetzt
kannte sie die Wahrheit – und als normal konnte man ihr Leben von
nun an nicht mehr bezeichnen.
Sie musste mit Tamani reden.
Laurel ging auf Zehenspitzen nach unten zum Telefon
und rief David auf dem Handy an. Erst als er mit
schwerer Stimme dranging, merkte sie, wie früh es war.
»Was?«
Jetzt konnte sie nicht mehr auflegen – schließlich
hatte sie ihn schon geweckt. »Hi, sorry, ich habe nicht richtig
nachgedacht.«
»Was machst du denn um sechs Uhr morgens?«, fragte
er verschlafen.
»Äh, die Sonne ist schon aufgegangen.«
David schnaubte. »Natürlich.«
Laurel sah nach oben, wo die Tür zum Schlafzimmer
ihrer Eltern einen Spalt offen stand, und bog um die Ecke in die
Speisekammer. »Kann ich heute so tun, als wäre ich bei dir?«,
fragte sie leise.
»So tun?«
»Ja, ich brauche eine Ausrede.«
Jetzt klang David wacher. »Wo willst du denn
hin?«
»Ich muss zu Tamani, David. Ich muss es wenigstens
versuchen.«
»Du willst zu eurem Grundstück fahren? Wie willst
du denn dahin kommen?«
»Mit dem Bus? Es fährt doch bestimmt auch sonntags
einer über den Highway 101, oder?«
»So kommst du vielleicht bis Orick, aber wie weit
ist es dann noch zu eurem alten Haus?«
»Ich kann mein Fahrrad im Bus mitnehmen. Von der
Bushaltestelle sind es nur zwei Kilometer oder so; dafür brauche
ich keine zehn Minuten.«
David seufzte. »Ich wünschte, ich hätte meinen
Führerschein schon.«
Laurel lachte, darüber jammerte er oft. »Noch zwei
Wochen, David, die hältst du auch noch durch.«
»Darum geht’s nicht. Ich würde gerne
mitkommen.«
»Das geht nicht. Wenn er dich sehen würde, käme er
vielleicht gar nicht zum Vorschein. Er war nicht gerade begeistert,
als er hörte, dass ich dir von der Blüte erzählt habe.«
»Das hast du ihm gesagt?«
Laurel wickelte das Telefonkabel um ihr Handgelenk.
»Er hat mich gefragt, ob ich es irgendwem erzählt habe, und ich
habe es geradewegs ausgespuckt. Er hat was – Überzeugendes. Als
könnte man ihn nicht anlügen.«
»Das gefällt mir nicht, Laurel. Es könnte
gefährlich werden.«
»Du bist der, der die ganze Woche gesagt hat, dass
er recht hatte. Er hat gesagt, er ist wie ich. Wenn er mir in allen
Punkten die Wahrheit gesagt hat, warum sollte er diesbezüglich
lügen?«
»Und was ist mit Barnes? Wenn der da ist?«
»Der Vertrag ist noch nicht unterschrieben. Noch
gehört das Grundstück uns.«
»Bist du sicher?«
»Ja, Mom hat gestern noch davon gesprochen.«
David seufzte und es war still in der
Leitung.
»Bitte! Ich muss dahin. Ich muss mehr
herausfinden.«
»Gut. Unter einer Bedingung – du erzählst mir, was
er gesagt hat, wenn du wieder zurück bist.«
»Alles, was geht.«
»Was willst du damit sagen?«
»Ich weiß ja nicht, was er mir sagen wird. Was soll
ich machen, wenn es um ein großes Elfengeheimnis geht, das ich
nicht ausplappern darf?«
»Na gut, dann eben alles außer dem größten
Geheimnis auf der Welt, wenn es denn eines gibt.
Einverstanden?«
»Einverstanden.«
»Laurel?«
»Ja?«
»Sei vorsichtig. Sei ganz besonders
vorsichtig.«
Nachdem sie ihr Fahrrad an einen kleinen Baum
angeschlossen hatte, warf Laurel sich den Rucksack über die
Schulter. Sie ging an dem leeren Blockhaus vorbei und zögerte am
Waldrand, wo mehrere Wege im Dickicht verliefen. Sie wählte den
Pfad, auf dem er sie beim letzten Mal getroffen hatte. Dieser Plan
erschien ihr so gut wie jeder andere.
Als sie bei dem großen Stein am Bach angekommen
war, schaute Laurel sich um. Kaum saß sie an dem schönen
Wasserlauf, wurde sie ganz ruhig und glücklich. Einen Augenblick
lang hätte sie am liebsten einfach eine Stunde lang dagesessen, um
dann nach Hause zurückzukehren, ohne mit Tamani gesprochen zu
haben. Es war so nervenaufreibend, mit ihm zu reden.
Aber sie konnte jetzt nicht kneifen. Nach einem
tiefen Atemzug schrie sie: »Tamani?« Doch statt von
den Felsen widerzuhallen, schienen die Bäume ihre Stimme zu
schlucken, sodass sie sich sehr klein vorkam. »Tamani?«, rief sie
wieder, ein wenig leiser diesmal. »Bist du noch da? Ich möchte mit
dir reden.« Sie drehte sich im Kreis und versuchte, überall
gleichzeitig hinzusehen. »Tam…«
»Hallo.« Die Stimme klang freundlich, doch seltsam
zögerlich.
Laurel drehte sich um und prallte fast mit Tamani
zusammen. Sie schlug die Hände vor den Mund, um einen Schrei zu
unterdrücken. Es war Tamani, aber er sah anders aus. Seine Arme
waren nackt, doch Schultern und Brust steckten in einer Rüstung aus
Rinde und Blättern. Er trug einen langen Speer über der Schulter,
dessen Steinspitze rasiermesserscharf geschliffen war. Er war so
überwältigend wie zuvor, doch umgab ihn etwas Bedrohliches wie
dichter Nebel.
Tamani sah sie lange an, und Laurel konnte nicht
wegsehen, obwohl sie es versuchte. Dann zog er einen Mundwinkel
hoch, grinste ein wenig und zog die seltsame Rüstung über den Kopf,
um sie zusammen mit der einschüchternden Haltung abzuwerfen.
»Entschuldige meine Aufmachung«, sagte er und verstaute die Rüstung
hinter einem Baum. »Wir sind in höchster Alarmbereitschaft.« Er
richtete sich auf und lächelte vorsichtig. »Schön, dass du
zurückgekommen bist. Ich war mir nicht sicher.« Unter der Rüstung
war er ganz in Grün gekleidet, er trug ein enges Hemd mit
Dreiviertelärmeln und die gleiche Art Cargohose wie beim letzten
Mal. »Außerdem bist du allein gekommen.« Eine Frage war das
nicht.
»Woher weißt du das?«
Tamani lachte mit einem Funkeln in den Augen. »Ich
wäre ein schöner Wachtposten, wenn ich nicht wüsste, wie viele
Leute mein Land betreten.«
»Ein Wachtposten?«
»Ganz genau.« Er führte sie nun wieder zu der
Lichtung, auf der sie sich beim letzten Mal unterhalten
hatten.
»Was bewachst du denn?«, fragte sie.
Er drehte sich grinsend um und tippte ihr auf die
Nasenspitze. »Etwas ganz, ganz Besonderes.«
Laurel bekam kaum Luft. »Ich bin gekommen … um mich
zu entschuldigen«, keuchte sie.
»Wofür?«, fragte Tamani, ging aber nicht
langsamer.
Hält er mich zum Narren oder hat es ihm wirklich
nichts ausgemacht? »Das war eine Überreaktion von mir,
neulich«, antwortete sie, während sie versuchte, Schritt zu halten.
»Ich war ohnehin schon völlig mit den Nerven runter, und das, was
du mir erzählt hast, hat mir den Rest gegeben. Aber trotzdem hätte
ich nicht so in die Luft gehen dürfen. Also entschuldige
bitte.«
Sie gingen weiter. »Und?«, fragte Tamani
fordernd.
»Was, und?«, entgegnete Laurel, aber es wurde ihr
eng um die Brust, als seine grünen Augen sie eingehend
musterten.
»Und alles, was ich gesagt habe, stimmte, und
deshalb willst du jetzt mehr erfahren.« Er blieb unvermittelt
stehen. »Darum bist du doch hier, oder?« Er lehnte sich an einen
Baum und sah sie schelmisch an.
Sie nickte, weil es ihr die Sprache verschlagen
hatte. Sie hatte sich noch nie so linkisch gefühlt. Warum brachte
sie in seiner Gegenwart keinen Ton heraus? Sie konnte weder reden
noch denken, solange er bei ihr war. Er dagegen schien sich in
ihrer Gegenwart rundum wohl zu fühlen.
Als Tamani anmutig zu Boden sank, merkte Laurel,
dass sie die Lichtung erreicht hatten. Er zeigte auf eine Stelle,
die vielleicht einen Meter von ihm entfernt lag. »Setz dich doch.«
Er grinste schief und tätschelte das Gras neben sich. »Natürlich
kannst du auch neben mir sitzen, wenn du gerne möchtest.«
Laurel räusperte sich und setzte sich ihm
gegenüber.
»Das Glück ist mir noch nicht vergönnt?« Er
verschränkte die Finger am Hinterkopf. »Es ist noch nicht aller
Tage Abend«, sagte er, während sie es sich gemütlich machte. »Deine
Blütenblätter sind also verwelkt.«
Laurel nickte. »Gestern Nacht.«
»Erleichtert?«
»Im Großen und Ganzen.«
»Und nun willst du mehr darüber herausfinden, was
es heißt, eine Elfe zu sein?«
Es machte Laurel verlegen, dass sie so
durchschaubar war, aber da er recht hatte, musste sie es
zugeben.
»Ich weiß gar nicht, ob es da so viel zu erzählen
gibt. Du hast zwölf Jahre allein überlebt, da muss ich dir nicht
erst erzählen, dass du kein Salz essen sollst.«
»Ich habe eigene Nachforschungen betrieben«, sagte
Laurel.
Tamani kicherte. »Das kann ja heiter werden.«
»Was?«
»Ach, die Menschen kriegen das einfach nicht auf
die Reihe.«
»Das ist mir auch schon aufgefallen.« Nach kurzem
Zögern fragte sie: »Du hast nicht etwa Flügel unter deinem Hemd
versteckt?«
»Willst du nachsehen?« Er bewegte seine Hand zum
Hemdsaum.
»Danke, schon gut«, erwiderte Laurel hastig.
Tamani wurde wieder ernst. »Es gibt keine Flügel,
Laurel. An keinem von uns. Einige Blüten sehen aus wie Flügel, so
wie manche Blumen wie Schmetterlinge aussehen – und deine Blüte war
ziemlich flügelig. Aber wie du selbst gesehen hast, sind es nur
Blumen.«
»Wieso steht so viel Falsches in den
Geschichten?«
»Wie mir scheint, sind die Menschen besonders gut
darin, das, was sie sehen, falsch zu deuten.«
»Nirgendwo stand etwas über Elfen, die Pflanzen
sind. Und glaub mir, ich habe gründlich gesucht.«
»Die Menschen erzählen gerne Geschichten über
andere Menschen, jedoch nur von solchen mit Flügeln oder Hufen oder
Zauberstäben. Pflanzen sind kein Thema, da die Menschen keine sind
und auch nie zu werden hoffen können. Und da die Menschen uns so
ähnlich sehen, kann man es irgendwie verstehen.«
»Trotzdem. Sie haben wirklich keine Ahnung. Ich
habe keine Flügel und Magie habe ich erst recht nicht.«
»Ach nein?«, fragte Tamani grinsend.
Laurel riss die Augen auf. »Oder doch?«
»Selbstverständlich.«
»Echt!«
Tamani lachte über Laurels Aufregung.
»Magie gibt es wirklich? Echte Magie? Es besteht
nicht alles aus Wissenschaft, wie David sagt?«
Tamani verdrehte die Augen. »Schon wieder dieser
David?«
Laurel ging hoch wie eine Rakete. »Er ist mein
Freund. Mein bester Freund.«
»Aber ihr seid nicht zusammen?«
»Nein. Ich meine … nein.«
Tamani starrte sie sekundenlang an. »Du bist also
noch zu haben?«
Jetzt rollte Laurel mit den Augen. »Darum geht es
hier so was von überhaupt nicht.«
Er starrte sie weiter unverblümt an, doch sie mied
seinen Blick. Er sah sie so besitzergreifend an, als wäre sie seine
Geliebte, die er bereits erobert hatte. Als ob er nur darauf warten
würde, dass sie es auch kapierte.
Sie wechselte das Thema. »Erzähl mir was über
Magie. Kannst du fliegen?«
»Nein, das ist reine Folklore, wie mit den
Flügeln.«
»Was kannst du denn?«
»Interessiert es dich nicht viel mehr, was du
kannst?«
»Ich kann zaubern?«
»Absolut. In dir steckt starke Magie. Du bist eine
Herbstelfe.«
»Was heißt das?«
»Es gibt vier Sorten Elfen: Frühlings-,
Sommer…«
»Herbst- und Winterelfen?«
»Jep.«
»Und warum bin ich eine Herbstelfe?«
»Weil du im Herbst geboren wurdest. Darum blüht
deine Blume im Herbst.«
»Das klingt noch nicht besonders magisch«, sagte
Laurel leicht enttäuscht. »Klingt wie Biologie.«
»Ist es auch. Nicht alles an uns ist magisch.
Eigentlich sind Elfen größtenteils völlig normal.«
»Ja, und was ist dann mit der Magie?«
»Also, jede Elfenart hat ihre eigene Magie.« Sein
Blick bekam etwas Ehrfürchtiges. »Die Winterelfen sind am
mächtigsten, sie sind besonders selten. In einer ganzen Generation
kommen nur zwei oder drei, manchmal auch nur eine vor. Unsere
Herrscher sind immer Winterelfen. Sie haben Macht über die
Pflanzen, über alle. Auf Befehl von Winterelfen würde sich ein
Rotholz mit Freuden entzweibiegen.«
»Das hört sich so an, als könnten sie alles.«
»Manchmal glaube ich das auch. Aber Winterelfen
behalten ihre Fähigkeiten – und ihre Beschränkungen – meistens für
sich und vererben sie über Generationen. Angeblich haben
Winterelfen vor allem das Talent, Geheimnisse für sich zu
behalten.«
»Und was machen Herbstelfen so?«, fragte
Laurel.
»Herbstelfen kommen der Macht der Winterelfen am
nächsten und sind ebenso selten. Herbstelfen stellen etwas
her.«
»Was denn?«
»Sachen aus anderen Pflanzen. Elixiere,
Zaubertränke, Salben.«
Das klang immer noch nicht besonders magisch. »Bin
ich dann so was wie eine Köchin? Ich braue Sachen zusammen?«
Tamani schüttelte den Kopf. »Du hast es nicht
verstanden. Es geht nicht darum, irgendwas zusammenzubrauen, das
könnte ja jeder. Herbstelfen haben einen magischen Sinn für
Pflanzen und können sie zum Wohle des Reiches nutzen. Du kannst mir
ein Buch über Toniken geben und ich könnte immer noch keine Mixtur
gegen Schimmel brauen. Es ist magisch, auch wenn es ganz vernünftig
klingt.«
»Es hört sich eben nicht magisch an, das ist
alles.« »Ist es aber. Die verschiedenen Herbstelfen haben
verschiedene Spezialitäten. Sie stellen Zaubertränke und Elixiere
für alle möglichen Dinge her. Beispielsweise machen sie Nebel, um
Eindringlinge zu verwirren, oder ein Nervengift zum Einschlafen.
Herbstelfen sind überlebenswichtig für unsere Art. Sie sind sehr,
sehr wichtig.«
»Das ist ja toll.« Doch Laurel war noch nicht
wirklich überzeugt. Es hörte sich nach Chemie an, und wenn sie ihre
Leistungen im Biokurs als Maßstab nahm, würde sie darin nicht
besonders gut sein.
»Und was tun Sommerelfen so?«
Tamani lächelte. »Sommerelfen fallen auf«, sagte er
erneut in leichtem Tonfall. »Wie Sommerblumen. Sie schaffen
Illusionen und faszinierendes Feuerwerk. Sie tun das, was Menschen
normalerweise magisch finden.«
In Laurels Ohren klang es entschieden aufregender,
eine Sommerelfe als eine Herbstelfe zu sein. »Bist du ein
Sommerelf?«
»Nein.« Tamani sagte langsam: »Ich bin nur ein
Frühlingself.«
»Wieso ›nur‹?«
Mit einem Achselzucken erwiderte er:
»Frühlingselfen sind die schwächsten. Deshalb arbeite ich als
Wachtposten. Handarbeit sozusagen, für die braucht man nicht viel
Magie.«
»Was kannst du denn zaubern?«
Tamani wandte den Blick ab. »Du musst mir
versprechen, nicht sauer zu werden, sonst verrate ich es dir
nicht.«
»Warum sollte ich sauer sein?«
»Weil ich das beim letzten Mal mit dir gemacht
habe.«