Zehn
Laurel saß auf Davids Veranda, als er am nächsten Morgen aus dem Haus kam, um zur Schule zu gehen. Er starrte kurz auf sie hinunter, holte tief Luft und schloss ab.
»Es tut mir leid«, sagte Laurel, bevor David sich wieder umdrehen konnte. »Ich hätte dich nicht anschreien dürfen. Du warst so nett und hilfsbereit und ich habe dich wie Scheiße behandelt.«
»Geht schon«, murmelte David und steckte den Schlüssel in die Tasche.
»Nein«, sagte Laurel und hielt mit ihm Schritt. »Ich war echt furchtbar – ich habe dich angebrüllt. Ich brülle nie. Ich war einfach total gestresst.«
David zuckte die Achseln. »Irgendwie habe ich es auch nicht anders verdient. Ich habe dich zu sehr bedrängt, hätte mich mehr zurückhalten sollen.«
»Aber ich brauche das von Zeit zu Zeit. Ich stelle mich den fiesen Dingen nicht gern. Darin bist du viel besser als ich.«
»Das liegt nur daran, dass ich nicht betroffen bin. Ich bin ja nicht die mit der Blüte.«
Laurel blieb stehen und packte Davids Hand, damit er sich umdrehte. Als er dann vor ihr stand, ließ sie nicht los. Es fühlte sich gut an, seine Hand zu halten. »Ich schaffe das nicht ohne einen Freund. Es tut mir wirklich sehr leid.«
David schüttelte den Kopf, hob dann langsam eine Hand und strich ihr sanft eine Strähne hinters Ohr, wobei sein Daumen ihre Wange streichelte. Sie hielt still und genoss das Gefühl seiner Hand auf ihrem Gesicht. »Ich kann gar nicht lange böse auf dich sein.«
»Gut.« Als sie so nahe beieinander standen und sie die Wärme seiner Brust spürte, hatte sie plötzlich Lust, ihn zu küssen. Sie wollte nicht lange darüber nachdenken, stellte sich auf die Zehenspitzen und beugte sich vor. Doch in dem Moment sauste ein Auto vorbei und Laurel verließ der Mut. Sie drehte sich jählings um und ging weiter. »Ich will nicht zu spät kommen«, sagte sie mit einem angespannten Lachen.
David holte sie rasch ein. »Und, willst du darüber reden?«, fragte er.
»Ich wüsste nicht, was es da zu reden gäbe«, antwortete Laurel.
»Und wenn er recht hätte?« David musste nicht näher erklären, wer er war.
»Das ergibt doch alles keinen Sinn. Ich gebe zu, ich bin ein bisschen anders und diese Blume auf meinem Rücken ist total schräg, aber dass ich deshalb eine Pflanze sein soll? Wie könnte ich da überhaupt lebendig sein?«
»Also, Pflanze kann alle möglichen Dinge bedeuten. Es gibt Pflanzen, die mehr können, als du dir träumen lässt – und das sind nur die, die von der Wissenschaft bereits entdeckt wurden. Man nimmt an, dass es in den Regenwäldern Millionen von Arten gibt, die noch nie jemand zu Gesicht bekommen hat.«
»Alles schön und gut, aber hast du schon mal eine Pflanze gesehen, die aus der Erde aufsteht und herumläuft?«
»Nein. Aber es gibt viele Dinge, die ich noch nie gesehen habe. Das heißt noch lange nicht, dass es sie nicht gibt.« David rollte mit den Augen. »Das lerne ich jeden Tag von Neuem.«
»Es ergibt keinen Sinn.« Laurel blieb stur.
»Ich habe gestern Abend viel darüber nachgedacht. Für den Fall, dass du je wieder mit mir redest. Eigentlich gibt es eine relativ einfache Methode, um herauszufinden, ob es stimmt.«
»Die wäre?«
»Gewebeproben.«
»Was?«
»Du gibst mir verschiedene Proben von Körperzellen, die wir dann unter meinem Mikroskop untersuchen. Dann können wir sehen, ob es Tier- oder Pflanzenzellen sind. Daraus kann man dann Schlüsse ziehen.«
Laurel rümpfte die Nase. »Und wie soll ich dir Gewebeproben geben?«
»Wir könnten deiner Wange Epithelgewebe entnehmen, so wie bei CSI Miami
Laurel musste lachen. »Wie bei CSI? Du willst gegen mich ermitteln?«
»Nur wenn du möchtest. Aber ich finde, du solltest wenigstens testen, ob – wie hieß der Typ noch gleich?«
»Tamani.« Ein leichter Schauer lief ihr über den Rücken.
»Also ob Tamani dir die Wahrheit gesagt hat oder nicht.«
»Und wenn es wahr wäre?« Laurel war wieder stehen geblieben.
Er sah sich zu ihr um, die Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Dann wüsstest du Bescheid.«
»Aber das hieße, dass mein ganzes bisheriges Leben eine schreckliche Lüge wäre. Wo soll ich denn dann hingehen? Was soll ich denn dann machen?«
»Du müsstest nicht weggehen. Alles könnte bleiben, wie es ist.«
»Nein, das stimmt nicht. Jemand würde es herausfinden und etwas … mir etwas tun.«
»Es muss doch niemand herausfinden. Du sagst nichts, ich sage auch nichts. Du wirst ein unglaubliches Geheimnis haben, das dich zu etwas Besonderem macht. Du wüsstest eben, dass du dieses … wunderbare Ding wärst, aber niemand würde irgendeinen Verdacht schöpfen.«
Laurel stampfte mit dem Fuß auf. »Bei dir klingt das aufregend und glamourös.«
»Vielleicht ist es das ja auch.«
Als Laurel zögerte, ging David weiter auf sie zu. »Die Entscheidung liegt bei dir«, sagte er sanft, »aber was du auch beschließt, ich werde dir helfen.« Als er ihr seine weiche warme Hand in den Nacken legte, stockte Laurel der Atem. »Was du auch brauchst, ich bin für dich da. Brauchst du den Wissenschaftler, der dir bestimmte Informationen gibt, bin ich dein Mann; wenn du einfach nur einen Freund brauchst, der in Bio neben dir sitzt und dich aufmuntert, wenn du traurig bist, bin ich ebenso dein Mann.« Er strich ihr mit dem Daumen über das Ohrläppchen und die Wange hinunter. »Und wenn du jemanden brauchst, der dich hält und gegen alle in der Welt beschützt, die dir was tun wollen, dann bin ich erst recht dein Mann.« Als sich seine hellblauen Augen in ihre bohrten, blieb ihr für einen Augenblick die Luft weg. »Aber das liegt alles bei dir«, flüsterte er.
Die Versuchung war groß. Alles an ihm war so tröstlich, doch Laurel wusste, es wäre nicht fair. Sie mochte ihn – sehr sogar -, aber sie war sich nicht sicher, ob sie romantische Gefühle hatte oder einfach nur seine Hilfe brauchte. Bis sie sich hierüber klar geworden war, konnte sie sich zu nichts verpflichten. »David, ich glaube, du hast recht – ich brauche Antworten. Aber alles, was ich jetzt brauche, alles, womit ich jetzt klarkomme, ist ein Freund.«
Davids Lächeln wirkte ein wenig gezwungen, aber er drückte sanft ihre Schulter und sagte: »Dann bekommst du den auch.« Er drehte sich um und ging weiter, hielt sich aber so nah, dass ihre Schultern sich berührten.
Das gefiel ihr gut.
»Das sind eindeutig Pflanzenzellen, Laurel«, sagte David, der mit zusammengekniffenen Augen vor seinem Mikroskop saß.
»Bist du sicher?«, fragte Laurel und schaute sich die Zellen selbst an, die sie ihrer Mundschleimhaut entnommen hatte. Doch sogar sie erkannte die dickwandigen viereckigen Zellen auf dem angestrahlten Objektträger wieder.
»Zu neunundneunzig Prozent«, erwiderte David. »Ich glaube, dieser Tamani hat den Durchblick.«
Laurel verdrehte seufzend die Augen. »Du warst nicht dabei; er war total schräg.« Jaja, wenn du das immer wieder behauptest, glaubst du es vielleicht auch irgendwann selbst. Sie verdrängte ihre innere Stimme.
»Noch ein Grund mehr für die Annahme, dass ihr verwandt seid.«
Laurel zog beide Augenbrauen hoch und versetzte Davids Stuhl einen Tritt. Er lachte. »Jetzt bin ich aber beleidigt«, schmollte sie mit theatralisch aufgerissenen Augen.
»Im Ernst«, sagte David, »es sieht so aus, als hätte er recht. Jedenfalls hiermit.«
»Es muss noch was anderes geben«, protestierte Laurel.
Zögernd sagte David: »Eine Sache wäre da noch – aber nein, das ist doof.«
»Was?«
Er sah sie forschend an. »Ich … ich könnte mir eine Blutprobe ansehen.«
»Oh.« Laurel bekam Angst.
»Was ist los?«
»Wie willst du denn an das Blut kommen?«
»Wieso? Reicht doch, wenn du dir in den Finger stichst.«
Laurel schüttelte heftig den Kopf. »Nadeln gehen gar nicht. Da fürchte ich mich zu Tode.«
»Echt jetzt?«
Laurel nickte mit verzerrter Miene. »Mich hat noch nie einer gestochen.«
»Noch nie?«
»Keine Ärzte, habe ich dir doch erzählt, oder?«
»Und was ist mit Impfungen?«
»Fehlanzeige. Meine Mom musste extra ein Formular ausfüllen, damit ich überhaupt die Schule besuchen darf.«
»Nie genäht worden?«
»Hilfe, nein«, sagte sie und legte eine Hand auf den Mund. »Das will ich mir nicht mal vorstellen.«
»Gut, dann vergiss es.«
Sie saßen eine Weile schweigend nebeneinander.
»Muss ich hingucken?«, fragte Laurel.
»Nein, versprochen. Es tut auch wirklich nicht weh.«
Laurel bekam kaum noch Luft, aber die Sache schien wichtig zu sein. »Einverstanden, ich bin dabei.«
»Meine Mom ist Diabetikerin, deshalb hat sie Lanzetten für Bluttests im Haus. Damit geht es wahrscheinlich am besten. Bin gleich wieder da.«
Laurel zwang sich, gleichmäßig zu atmen, während David unterwegs war. Er kam mit leeren Händen zurück.
»Wo ist das Ding?«
»Sage ich dir nicht. Ich zeige es dir auch nicht. Rutsch rüber, ich habe eine Idee.« Er setzte sich direkt vor sie auf das Bett. »So, du bleibst hinter mir und legst mir die Arme um den Bauch. Du kannst den Kopf an meinen Rücken legen und feste drücken, wenn du Angst bekommst.«
Laurel rutschte in die richtige Position, legte ihr Gesicht an seinen Rücken und quetschte ihn ein, so fest sie konnte.
»Ich brauche eine Hand.« Davids Stimme klang leicht gepresst.
Laurel zwang sich, locker zu lassen, und überließ ihm eine Hand. David rieb sachte über ihre Handfläche, während sie wieder zudrückte. »Kann’s losgehen?«, fragte er.
»Überrasch mich«, sagte sie außer Atem.
Er strich noch ein wenig länger über ihre Hand, bis sie quiekte, weil es sich anfühlte, als hätte ihr Finger einen elektrischen Schlag erhalten.
»Das war es schon«, sagte David ruhig.
»Hast du das Ding weggetan?«, fragte Laurel, ohne den Kopf zu heben.
»Ja«, sagte David. Jetzt klang seine Stimme seltsam matt. »Laurel, sieh dir das an!«
Vor lauter Neugier vergaß sie ihre Angst und lugte über seine Schulter. »Was denn?«
David übte sanften Druck auf die Fingerspitze ihres Mittelfingers aus. Ein klarer Tropfen blieb daran hängen.
»Was soll das sein?«, fragte Laurel.
»Mich beschäftigt mehr, was es nicht ist«, antwortete David. »Nämlich rot.«
Laurel war sprachlos.
»Äh, darf ich …?« David zeigte auf die Schachtel mit den Objektträgern.
»Natürlich«, sagte Laurel wie betäubt.
David nahm ein Glasplättchen und tupfte Laurels Finger darauf. »Darf ich noch mehr machen?«
Laurel nickte nur.
Nachdem er drei Objektträger präpariert hatte, wickelte David ein Papiertaschentuch um Laurels Finger, und sie legte die Hände in den Schoß.
David setzte sich neben sie, sein Bein dicht an ihrem. »Laurel, kommt das immer aus dir raus, wenn du dir wehtust?«
»Das ist schon seit Jahren nicht mehr vorgekommen.«
»Du hast dir doch sicher wenigstens mal ein Knie aufgeschlagen, oder?«
»Bestimmt, muss ja …« Sie brach ab, als ihr kein einziger Vorfall einfiel. »Ich weiß nicht«, flüsterte sie. »Ich kann mich an nichts erinnern.«
David strich sich durchs Haar. »Laurel, hast du überhaupt mal geblutet … in deinem ganzen Leben, irgendwo an deinem Körper?«
Obwohl sie gegen die tiefere Bedeutung seiner Frage wütete, musste sie bei der Wahrheit bleiben. »Ich weiß es nicht, aber ich kann mich wirklich nicht erinnern, jemals mein Blut gesehen zu haben.«
David schob den Stuhl näher an das Mikroskop heran, legte den frischen Objektträger unter das beleuchtete Objektiv und studierte ihn lange durch das Okular. Dann wechselte er den Objektträger aus und forschte weiter. Schließlich holte er einige rotgefleckte Objektträger aus einer anderen Schachtel und betrachtete sie nacheinander.
Laurel rührte sich die ganze Zeit nicht vom Fleck. Er drehte sich zu ihr um. »Und wenn du gar kein Blut hättest, Laurel? Wenn diese klare Flüssigkeit durch deine Adern fließen würde?«
»Das kann nicht sein, David. Alle haben Blut in den Adern.«
»Aber alle haben auch Menschenzellen, also Tierzellen im Epithelgewebe, Laurel, aber du nicht«, antwortete er. »Du hast mir erzählt, dass deine Eltern nichts von Ärzten halten. Warst du überhaupt schon mal bei einem Arzt?«
»Einmal, als ich klein war. Mein Dad hat mir neulich davon erzählt.« Sie bekam große Augen. »Wahnsinn.« Sie berichtete David, was ihr Vater gesagt hatte. »Er wusste Bescheid, so muss es gewesen sein.«
»Und warum hat er deinen Eltern nichts gesagt?«
»Keine Ahnung.«
David war still, er hatte die Stirn gerunzelt. Als er endlich sprach, kamen die Worte nur zögernd. »Hast du was dagegen, wenn ich etwas ausprobiere?«
»Solange du mich nicht von oben bis unten aufschneidest.«
Er lachte.
Laurel nicht.
»Darf ich deinen Puls fühlen?«
Auf die Welle von Erleichterung und Humor war Laurel nicht gefasst. Sie musste lachen und konnte nicht mehr aufhören. David sah ihr schweigend zu, während sie sich die Hysterie vom Leib lachte. Als sie sich endlich wieder im Griff hatte, sagte sie völlig außer Atem: »Entschuldigung.« Sie kämpfte mit einem neuen Lachanfall. »Es ist nur … das ist so viel besser, als mich aufzuschneiden.«
David lächelte leise und verdrehte die Augen. »Gib mir deine Hand.«
Als sie den Arm ausstreckte, legte er zwei Finger auf ihr Handgelenk. »Deine Haut ist ganz schön kalt«, sagte er. »Komisch, dass mir das noch nie aufgefallen ist.« Dann konzentrierte er sich wortlos. Nach einiger Zeit stand er auf und setzte sich neben sie aufs Bett. »Ich möchte noch mal an deinem Hals fühlen.« Mit einer Hand hielt er ihren Nacken fest und legte die beiden Finger der anderen Hand fest rechts an ihren Hals. Sie spürte seinen Atem auf ihrer Wange, und auch wenn er ihr extra nicht ins Gesicht sah, konnte sie den Blick nicht abwenden. Sie sah vieles zum ersten Mal: eine kleine Linie mit Sommersprossen am Haaransatz, eine Narbe, die von seiner Augenbraue fast verdeckt wurde, und den anmutigen Schwung seiner Wimpern. Vage spürte sie, dass er fester zudrückte. Als ihr Atem stockte, ließ er nach. »Hat das wehgetan?«
Sie schüttelte den Kopf und verdrängte mühsam, wie nah er ihr war.
Kurz darauf nahm er seine Hand weg. Sein Blick gefiel ihr genauso wenig wie die Sorgenfalte zwischen seinen Augenbrauen. »Was ist denn?«, fragte sie.
Doch nun schüttelte er den Kopf und sagte: »Ich muss erst ganz sicher sein. Ich will dich nicht unnötig beunruhigen. Darf ich … darf ich deine Brust abhören?«
»Wie mit einem Stethoskop?«
»Ich habe kein Stethoskop, aber wenn ich …« Er brach ab. »Wenn ich mein Ohr direkt über dein Herz lege, müsste ich es laut und deutlich hören.«
Laurel streckte den Rücken. »Okay«, sagte sie ruhig.
David legte seine Hände rechts und links auf ihre Rippen und senkte langsam den Kopf. Laurel versuchte, gleichmäßig zu atmen, trotzdem war sie sicher, dass ihr Herz raste. Seine Wange lag warm auf ihrer Haut und drückte sich an den Ausschnitt ihres T-Shirts.
Es kam ihr sehr lang vor, bis er den Kopf wieder hob.
»Und …«
»Pssst«, sagte er, drehte den Kopf und legte die andere Wange auf die andere Seite ihrer Brust, hob aber bald wieder den Kopf. »Da ist nichts«, sagte er sehr sanft. »Weder an deinem Handgelenk noch am Hals. Und ich kann in deiner Brust nichts hören. Es hört sich einfach … leer an.«
»Was willst du damit sagen, David?«
»Du hast keinen Herzschlag, Laurel. Wahrscheinlich hast du auch kein Herz.«