Neunzehn
Laurel schrak vom Fenster zurück. »Es hat mich angeguckt!«
»Glaubst du, es hat dich gesehen?«
»Keine Ahnung. Wir müssen hier weg. Sofort!« Als von drinnen gutturales Grunzen ertönte, waren ihre Knie wie auf dem Erdboden festgeklebt.
Die beiden Männer brüllten das Wesen an, es solle die Klappe halten, aber Barnes brachte sie mit einem lauten Wort zum Schweigen, das Laurel noch nie gehört hatte. Dann erklang ein leises Summen und nach wenigen Sekunden verebbte das grunzende Geheul.
Laurel beugte sich wieder zum Fenster vor, aber dann spürte sie ein leises Zupfen an ihrem T-Shirt. Als sie sich umdrehte, schüttelte David den Kopf und zeigte auf das Auto.
Laurel war noch nicht so weit, war noch nicht zufrieden. Sie winkte David mit erhobenem Zeigefinger und wagte einen letzten Blick durchs Fenster.
Ihr Blick fiel direkt in die ungleichen Augen von Jeremiah Barnes.
»Los!«, zischte sie David zu und startete zum Vordereingang des Hauses. Doch bevor sie einen zweiten Schritt machen konnte, zersplitterte die Scheibe über ihr, und eine große Hand packte sie am Nacken und riss sie durch die Fensteröffnung in den Raum. Raue Finger kratzten über ihre Kehle, als der hölzerne Fensterrahmen unter ihrem Rücken brach.
Dann flog sie. Sie schrie nur kurz, bevor sie an die gegenüberliegende Wand knallte. Ihr war schwindelig. Aus weiter Ferne hörte sie David grunzen, als er neben ihr an die Wand geworfen wurde. Laurel versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen, aber der Raum drehte sich weiter um sie. David streckte eine Hand aus und zog sie an sich. Heißes Blut tropfte auf ihre Schulter.
Endlich hörte der Raum auf, sich zu drehen, und sie schaute hoch in Barnes’ höhnisches Gesicht. »Wen haben wir denn da?« Er lächelte grausam. »Sarahs kleines Mädchen. Heute habe ich mehr über dich erfahren, als ich jemals wissen wollte.«
Laurel hatte eine scharfe Erwiderung auf der Zunge, aber David drückte ihren Arm. Laurel spürte, wie etwas Dickflüssiges, Sirupartiges aus der brennenden Wunde auf ihrem Rücken lief und überlegte, wie viel Schaden der zerbrochene Fensterrahmen angerichtet hatte.
»Braves Mädchen, Bess«, sagte Barnes und tätschelte dem seltsamen Tier den halbkahlen Kopf. Dann ging er neben Laurel und David in die Hocke. »Was wollt ihr hier?«, fragte er sanft, doch bestimmt. Laurel öffnete gegen ihren Willen den Mund. »Wir … wir mussten herausfinden, warum Sie … warum Sie …« Endlich hatte sie ihren Verstand wieder unter Kontrolle und hielt angestrengt den Mund geschlossen. Sie sah Barnes böse an.
»Wir haben gemerkt, dass etwas nicht stimmte«, sagte David. »Wir dachten, vielleicht finden wir hier etwas.«
Laurel drehte sich mit aufgerissenen Augen zu David um. Er starrte leicht benebelt geradeaus und trug denselben unheimlichen Gesichtsausdruck zur Schau, den Laurel eine Stunde zuvor bei ihrer Mutter beobachtet hatte. »David!«, fauchte sie.
»Und was wolltet ihr tun, für den Fall, dass ihr fündig werdet?«, fragte Barnes weiter mit dieser unwiderstehlichen Stimme.
»Beweise sammeln. Zur Polizei gehen.«
»David!«, brüllte Laurel, aber er hörte sie anscheinend nicht.
»Warum macht ihr euch Sorgen?«, fragte Barnes.
David öffnete schon wieder den Mund, aber sie hatten einfach zu viele Geheimnisse, die er hätte verraten können. Laurel schloss die Augen, entschuldigte sich im Geiste und haute David voll eine runter.
»Scheiße! Aua! Laurel!« David legte seine Wange in eine Hand und rieb sich den Kiefer.
Sie seufzte vor Erleichterung und drückte Davids Hand. Er sah völlig verwirrt aus.
»Ich habe genug gehört«, sagte Barnes und stand auf.
Der Rothaarige lächelte – die finstere Karikatur eines echten Lächelns, das Laurel das Blut in den Adern gefrieren ließ, sodass sie an Davids Brust zurückwich und sich ganz klein machte. »Komm, wir brechen ihnen die Beine. Ich bin schon ganz außer Übung.«
Laurel spürte, wie David sich versteifte und sein Atem flach und unregelmäßig wurde.
Barnes schüttelte den Kopf. »Nicht hier, diese Adresse steht auf meiner Visitenkarte. Ich muss schon so genug Blut aufwischen.« Er ging erneut in die Hocke und sah lange von einem zum anderen.
»Geht ihr gerne schwimmen?«
Laurel kniff die Augen zusammen und sah ihn wütend an, aber David hielt sie zurück.
»Ich denke, so ein kleines Bad im Chetco könnte heute Nacht recht erfrischend sein.« Barnes stand auf, packte David an den Schultern und zog ihn unsanft hoch. »Durchsucht ihn.« Die beiden Männer leerten grinsend Davids Taschen – Brieftasche, Schlüssel, eine Dose Pfefferminzbonbons. Barnes nahm den Schlüsselbund, warf ihn Scarface zu und steckte David die Bonbons und die Brieftasche wieder in die Tasche. »Damit die Bullen dich schnell identifizieren können, wenn im Frühling eure Leichen gefunden werden«, sagte er mit einem gemeinen Lachen.
Nun da David sie nicht mehr zurückhielt, warf Laurel sich auf Barnes und zielte mit ihren Nägeln auf sein Gesicht, seinen Körper. Barnes warf David seinen Partnern zu, packte Laurel an den Armen und drehte sie ihr auf den Rücken, bis sie nur noch wimmerte. Er legte den Mund an ihr Ohr und streichelte ihr Gesicht. Sie konnte nicht einmal zurückzucken. »Du hältst jetzt schön still«, flüsterte er einschmeichelnd. »Und wenn nicht«, fuhr er in demselben lieblichen Tonfall fort, »reiße ich dir die Arme ab.«
David kämpfte brüllend gegen seine Gegner an, er wollte Laurel helfen, richtete aber auch nicht mehr aus als sie. »Ruhe!«, dröhnte Barnes. Seine Stimme erfüllte den Raum und hallte als Echo wider. David verstummte.
»Nehmt seinen Wagen«, sagte Barnes. »Fahrt hoch nach Azalea und werft sie in den Fluss. Und vergesst bloß nicht, ihnen Gewichte mitzugeben«, befahl er zynisch. »Sorgt dafür, dass die hier«, er wies auf Laurel, »auf keinen Fall wieder aufkreuzt, bevor der Vertrag morgen unterschrieben ist.« Er lachte. »Wenn sie im Frühling gefunden würden, wäre das ideal – Hauptsache nicht morgen. Und lasst das Auto oben stehen. Aber nicht auf dem Parkplatz, irgendwo am Wegesrand. Vor meinem Büro kann ich das Auto eines vermissten Jungen nun wirklich nicht gebrauchen.« Er warf ihnen einen bösen Seitenblick zu. »Zurück könnt ihr laufen, das wird euch guttun.«
»Damit kommen Sie nicht durch«, murmelte Laurel mit zusammengebissenen Zähnen. Doch Barnes lachte nur. Er ließ ihren Arm los und sah sich die roten Flecken auf seiner Hand an – Davids Blut. »Was für eine Verschwendung«, sagte er und wischte das Blut mit einem weißen Taschentuch ab. »Bringt sie weg.«
Die beiden Männer banden Laurel und David aneinander und schoben sie auf den Rücksitz von Davids Civic. »Wenn ihr wollt, könnt ihr ruhig schreien«, sagte Red grinsend. »Euch hört sowieso keiner.«
Es war zwecklos.
Während der Fahrt flackerte das Licht der Straßenlampen durch das Auto, sodass Laurel Davids Gesicht sehen konnte. Sein Kiefer war angespannt, und er sah so ängstlich aus wie sie, aber auch er machte sich nicht die Mühe zu schreien.
»Ein gutes Gefühl, endlich mal wieder rauszukommen und so was zu tun, oder?«, fragte Scarface, der zum ersten Mal etwas sagte. Im Gegensatz zu seinem Kompagnon hatte er eine tiefe, sanfte Stimme – derart, wie man sie von dem Helden eines Schwarz-Weiß-Films erwartet, doch nicht von jemandem mit einem solch groben, verunstalteten Gesicht.
»Yeah!« Red lachte – rheumatisch keuchend, es drehte Laurel den Magen um. »Ich hatte es so leid, in diesem alten Schrotthaufen abzuwarten, bis was passiert.«
»Dabei sind wir die Besten in der Horde, aber Barnes behandelt uns, als wären wir Nullen. Schickt uns los, damit wir Kids fertigmachen. Kids!«
»Echt.« Kurze Zeit herrschte Schweigen. »Wir sollten sie in Fetzen reißen, statt sie in den Fluss zu werfen. Das würde uns guttun!« Das leise Glucksen dieser perfekten Schauspielerstimme drang in jede Ecke des Wagens, obwohl es gar nicht laut war. Laurel lief ein Schauer über den Rücken. »Das würde mir schon gefallen.« Red drehte sich mit einem erschreckend ruhigen Lächeln zu Laurel und David um. Dann seufzte er und konzentrierte sich wieder auf die Straße. »Sie sollen aber frühestens in ein paar Tagen gefunden werden. Stücke sind schwer zu verstecken, sogar im Fluss.« Nach einer Pause schloss er: »Es ist besser, wenn wir seine Befehle befolgen.«
»Laurel?«
Davids Flüstern lenkte sie einen gesegneten Augenblick lang ab. »Ja?«
»Es tut mir leid, dass ich dir wegen Barnes nicht geglaubt habe.«
»Schon gut.«
»Ich hätte dir vertrauen sollen. Ich wünschte …« Er verstummte. »Ich wünschte, wir hätten …«
»Fang bloß nicht an, dich hier zu verabschieden, David Lawson«, zischte Laurel, so leise sie konnte. »Es ist noch nicht vorbei.«
»Ach nein?«, fragte David frustriert. »Was schlägst du denn vor?«
»Wir überlegen uns was«, flüsterte sie, als das Geräusch des Blinkers ertönte und das Auto langsamer fuhr. Die Räder fuhren knirschend über eine Schotterstraße und es wurde dunkel um sie herum. Nach mehreren Minuten auf der Holperstrecke hielten die Männer an und öffneten die Türen.
»Es ist so weit«, sagte Scarface, sein Gesicht leer wie ein unbeschriebenes Blatt.
»Sie müssen das nicht tun«, sagte David. »Wir verraten nichts. Keiner …«
»Psst«, sagte Red und legte David eine Hand über den Mund. »Spitzt die Ohren. Hört ihr das?« In der Stille hörte Laurel Vögel und Grillen, aber über allem rauschte in der Ferne der Chetco River.
»So klingt eure Zukunft, die nur darauf wartet, euch mitzunehmen. Kommt schon«, sagte er und stellte David grob auf die Beine. »Ihr habt eine Verabredung, und wir wollen doch nicht, dass ihr zu spät kommt.«
Während sie ihre Gefangenen den dunklen Weg entlang stießen, sang einer der Männer mit rauer Stimme und schrecklich falsch: »Oh Shenandoah, I long to see you. Away you rolling river.« Laurel schnitt eine Grimasse, als sie zum x-ten Mal mit ihrem bloßen Zeh an einen Stein stieß und zum ersten Mal in ihrem Leben wünschte, sie hätte richtige Schuhe an statt Flip-Flops.
Dann lichteten sich die Bäume und sie standen am Chetco River. Beim Anblick der schäumenden Stromschnellen holte Laurel schwer atmend Luft. Scarface schubste sie zu Boden. »Ihr bleibt hier sitzen«, schnauzte er sie an. »Wir sind gleich zurück.«
Laurel konnte sich wegen der Fesseln nicht mit den Händen abstützen und landete auf dem Bauch, ihre Wange im nassen Dreck. Als David neben ihr lag, wurde auch ihr die Ausweglosigkeit ihrer Situation bewusst. Das Ganze war ihre Schuld, aber wie sollte sie sich dafür entschuldigen, dass er gleich umgebracht werden würde?
»So hatte ich mir das Ende nicht vorgestellt«, murmelte David.
»Ich auch nicht«, sagte Laurel. »Umgebracht von … wofür hältst du die? Ich … ich glaube nicht, dass das Menschen sind. Keiner von beiden, Barnes vielleicht auch nicht.«
David seufzte. »Ich wollte dir noch nie so ungern recht geben.«
Sie schwiegen.
»Wie lange wird es dauern, was glaubst du?«, fragte Laurel, die den Blick nicht von den wilden Stromschnellen wenden konnte.
»Keine Ahnung. Wie lange kannst du den Atem anhalten?« Er lachte finster. »Tja, bei dir wird es wohl länger dauern als bei mir.« Doch sein Lachen versiegte schnell und er seufzte.
Laurel brauchte zwei Sekunden, um eins und eins zusammenzuzählen. »David!« Ein Fünkchen Hoffnung flackerte in ihren Gedanken auf. »Weißt du noch, das Experiment? Bei dir in der Küche?« Sie hörte das Gemurmel der Männer, die zum Ufer zurückkehrten. »David, atme ganz tief ein!«, flüsterte sie.
Die Männer trugen schwere Steine und sangen ein Lied, das Laurel nicht kannte. Sie banden noch ein Seil um ihre Hände, und Scarface testete das Gewicht eines Steins, der so groß war wie ein Beachball.
Kurz darauf war David gleichermaßen verschnürt. »Bist du so weit?«, fragte Scarface seinen Partner. Laurel starrte auf den Fluss. Bis zur Mitte waren es mindestens hundert Meter; dachten die Männer etwa, sie würden laufen? Als spüre er ihre Frage, nahm Scarface Laurel in die eine Hand und den Stein in die andere Hand, als ob sie beide nicht einmal ein Kilo wögen. Red nahm David. Bevor Laurel sich mit diesem Wunder beschäftigen konnte, wurde sie auch schon ins Wasser geworfen. Kalte Luft rauschte um ihr Gesicht, und sie schrie, als sie weit durch die Luft flog, über die Flussmitte hinaus. Sie konnte gerade noch nach Luft schnappen, als der Stein sie unter die Wasseroberfläche und Richtung Grund zog.
Das Wasser stach wie eisige Nadeln, als die brüllende Dunkelheit über ihrem Kopf zusammenschlug. Blinzelnd öffnete sie die Augen und spitzte die Ohren, um etwas von David zu hören. Da sauste sein Stein an ihr vorbei, beinahe hätte er ihren Kopf getroffen, als er in die schlammige Schwärze tauchte. Sie schlang die Beine um Davids Brust, als er an ihr vorbei nach unten glitt. Ihr Stein riss an ihren Armen, aber sie hielt David mit den Beinen fest und hoffte, dass er gut eingeatmet hatte.
Es dauerte nur Sekunden, bis ihre Steine mit einem unheimlichen Klatschen auf dem Grund aufschlugen. Laurel schaute nach oben, konnte aber nicht den kleinsten Lichtstrahl erkennen. Sie konnte Davids weiße Haut nur wabernd vor sich flimmern sehen, ohne erkennen zu können, ob er noch bei Bewusstsein war. Suchenden Mundes tauchte sie in die Düsternis. Erleichterung durchflutete sie, als auch sein Gesicht sich suchend bewegte. Ihre Lippen trafen sich, und Laurel konzentrierte sich darauf, dass ihre Münder genau aufeinander lagen, bevor sie sanft Luft in seinen Mund blies. Er hielt kurz den Atem an und pustete dann zurück. In der Hoffnung, dass er überhaupt verstand, was sie da tat, zog Laurel ihren Mund zurück und zerrte an ihren Fesseln.
Das Wasser war eiskalt, und Laurel war klar, dass sie schnell handeln musste. Erst musste sie es schaffen, die Hände vor den Körper zu bringen, sonst ging gar nichts. Wenn sie ihre Hände nicht gebrauchen konnte, würde sie vielleicht nicht einmal mehr nahe genug an David herankommen, um ihn noch mal zu beatmen. Sie bückte sich und versuchte, die Arme den Rücken hinunter und unter den Beinen durch zu bringen, aber ihr Rücken wollte sich nicht so weit beugen. Die Haut platzte an ihren Handgelenken auf, als sie in dem Wissen, dass David nicht mehr lange die Luft anhalten konnte, fester zog. Ihr Rückgrat schmerzte, als sie es weiter krümmte und noch ein bisschen weiter. Laurels Körper rebellierte, aber schließlich glitten die Hände doch unter den Knien hindurch und sie befreite tretend die Beine, während sie hektisch nach David suchte. Sie schwang ihm die Arme um den Hals und drückte ihren Mund auf seinen. Während sie überlegte, was sie als Nächstes tun sollte, atmeten sie mehrfach ein und aus. Sie blies noch einmal richtig viel Luft in Davids Mund und löste sich erneut von ihm. Dann zog sie sich an dem Seil, mit dem sie an den Stein gebunden war, bis zum Grund, wo sie mit tauben Fingern nach etwas Scharfem wühlte.
Doch der Fluss floss zu schnell dahin. Alles, was ehemals hätte scharf sein können, war zu weichem schlüpfrigem Schlick zermahlen. Sie ließ sich wieder zum Atmen nach oben zu David treiben, bevor sie von Neuem abstieg, diesmal an Davids Seil. Ihre Finger arbeiteten an dem Knoten, der um den Stein geschlungen war, und zogen langsam ein Stück Seil los.
Laurel versuchte es weiter und schwamm zu David zurück, um ihn zu beatmen. Er quälte sich damit ab, wie sie die Arme nach vorne zu bringen, aber er war nicht so gelenkig und kam nicht voran. Nach einem tiefen Atemzug rackerte David weiter mit den Armen, aber es klappte überhaupt nicht. Laurel biss die Zähne zusammen, sie war auf sich allein gestellt. Langsam hangelte sie sich an dem Seil nach unten zu dem Knoten.
Nach drei weiteren Beatmungen löste sich der Knoten in ihrer Hand, doch das Seil lag noch immer unter dem Stein fest. Laurel drückte sich in den Grund und wuchtete den Stein los, um das letzte bisschen Seil loszukriegen. Sie rutschte aus und schleuderte den einen Flip-Flop weg, der ihr nach dem Wurf ins eisige Wasser geblieben war. Mit den Zehen suchte sie besseren Halt an dem schroffen Stein und machte sich weiter daran zu schaffen, um ihn wenigstens ein paar Zentimeter wegzurollen. Als er sich ein wenig bewegte, drückte sie kräftiger zu, bis der Stein auf einmal zur Seite glitt und Laurels Füße abglitten. Die Strömung warf sie hin und her und drückte ihre Arme nach hinten, als sich das Seil plötzlich spannte.
Davids weiße Gestalt schoss an ihr vorbei, gefangen in der Strömung und bereits außer Reichweite, bevor Laurel auch nur die Arme nach ihm ausstrecken konnte. Es dauerte keine Sekunde, da war er schon nicht mehr zu sehen und nur eine winzige Spur sich auflösender Luftblasen blieb von ihm zurück.
David war fort und Laurel kam sich vor wie eine Idiotin. Das hätte sie besser planen müssen. Das Einzige, was ihr einfiel, während sie krampfhaft in die Dunkelheit starrte, war, dass die letzte Beatmung schon lange zurücklag.
Die Panik nagte an ihr, aber Laurel kämpfte dagegen an. Aus Luftmangel brannte es bereits in ihrer Brust, aber alles andere war noch viel unangenehmer. Ihre Füße waren wund, weil sie damit versucht hatte, Davids Stein wegzutreten, und ihre Handgelenke schmerzten, wo das Seil noch immer einschnitt – und die ganze Zeit zappelte sie hilflos in der Strömung.
Sie schloss die Augen und dachte an ihre Eltern, um den Anschein von Ruhe wiederzuerlangen. Sie musste verhindern, dass ihre Mutter ihre gesamte Familie verlor. Eine Hand über der anderen, hievte Laurel sich langsam an ihrem Seil entlang in die Tiefe zu ihrem Stein. Bei David hatte es funktioniert und es war ihre einzige Hoffnung. Nur waren ihre Finger jetzt vor lauter Kälte noch unbeholfener und Scarface hatte seine Arbeit besser erledigt als sein Kollege. Die Knoten lösten sich noch langsamer, und als sie es endlich geschafft hatte, schrien ihre Lungen in bisher ungekanntem Schmerz nach Luft.
Dabei lag das Schwerste noch vor ihr.
Sie fand halbwegs Halt mit den Zehen und drückte gegen ihren Stein, flehte im Geiste, dass er sich leicht fortbewegen ließe.
Er wackelte nicht einmal.
Laurel fluchte innerlich und selbst im Wasser stiegen ihr jetzt die Tränen in die Augen. Sie verschwendete kostbare Sekunden damit, kleinere Steine aus dem Weg zu räumen, und drückte noch mal mit ihren wunden, brennenden Füßen. Sie schob mit aller Kraft, und als die Dunkelheit schon ihr Sichtfeld begrenzte, glitt der Stein langsam zur Seite. Laurel verlagerte ihre Hände und drückte weiter, stieß die letzte Luft aus ihren Lungen und brachte den Stein einen Zentimeter weiter. Und noch mal, und weiter, einmal noch.
Auf einmal trug das Wasser sie fort wie eine kaputte Puppe. Sie wusste nicht mal, wo oben und unten war. Sie trat wie wild um sich und versuchte, in den trüben Fluten eine Art Kurs zu finden. Als ihr Zeh heftig gegen einen Stein stieß, beugte sie die Knie, stieß sich ab und streckte sich mit allerletzter Kraft nach oben. Als sie das Gefühl hatte, sie könnte es keine Sekunde länger aushalten, durchbrach sie mit dem Gesicht die Wasseroberfläche und schnappte nach Luft.
Die Strömung zog sie weiter, und obwohl sie mit den Beinen ausschlug, um zum Ufer zu gelangen, hatte sie keine Kraft mehr. Ihre Füße streiften über den Grund, sie wollte im seichten Wasser stehen, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht. Die Wucht des Wassers warf sie um, und ihre Arme und Beine schlugen gegen die Felsen schlugen, während sie vergeblich versuchte, die Kontrolle zurückzuerlangen.
Dann sauste etwas über ihren Kopf und drückte sie sekundenlang unter Wasser. Laurel winselte, weil sie kapierte, dass die beiden Verbrecher sie gefunden hatten und ihre böse Tat vollenden wollten. Doch als die schwere Schlaufe an ihrer Taille angekommen war, wurde sie hochgerissen und aus dem Wasser gezogen. Fort von den gnadenlosen Felsen.
»Ich habe dich«, sagte David ihr ins Ohr, um das Rauschen der Strömung zu übertönen. Er hatte seine noch immer gefesselten Arme um ihre Taille geschwungen und schwankte durch das seichte Wasser zum Ufer. Er schleppte Laurel aus dem Wasser ins Uferschilf, bevor er zusammenbrach. Seine Zähne klapperten, als sie nach Luft schnappend nebeneinander lagen.
»Danke, lieber Gott«, seufzte David, bevor seine Arme, die er noch immer um Laurel geschlungen hatte, erschlafften.