Zweiundzwanzig
Davids Civic rollte langsam in die
Sea-Cliff-Sackgasse. »Das Haus ganz am Ende.« Laurel zeigte mit dem
Finger drauf.
»Dann halt hier an«, sagte Tamani.
David fuhr an den Bordstein und stellte den Motor
ab. Alle drei betrachteten sie das große Haus. Im Licht des frühen
Morgens konnte man nun erkennen, dass es früher grau gewesen war.
Laurel musterte die zersplitterten schwungvollen Verzierungen an
den Traufen und die hübsch dekorierten Fensterrahmen und versuchte,
sich vorzustellen, welch schönes Heim das Haus vor hundert Jahren
dargestellt hatte. Wie lange gehörte es schon den Orks? Sie
erschauerte und fragte sich, ob sie das Haus gekauft oder die
Familie der Einfachheit halber gleich abgeschlachtet und beraubt
hatten. Im Augenblick erschien ihr Letzteres plausibler.
Tamani zog einen Gürtel aus dem Rucksack und
überprüfte die Taschen daran. Er gab ihr einen Ledergurt mit einem
kleinen Messer. »Für den Fall«, sagte er.
Das Messer wog schwer in ihrer Hand und einige
Sekunden starrte sie es nur an.
»Man kann es um den Bauch binden«, drängte
Tamani.
Laurel warf ihm einen bösen Blick zu, band sich
dann aber den Gurt um den Bauch und schnallte ihn zu.
»Fertig?«, fragte Tamani. Seine Miene war ernst.
Die Haarsträhnen, die ihm ins Gesicht fielen, warfen lange
Schatten, die Streifen über seine Augen zeichneten. Er hatte vor
Konzentration die Stirn gerunzelt, und eine schmale Falte zwischen
den Augen trübte das Bild, das als Werbung mit einem sinnenden
Model hätte durchgehen können.
»Fertig«, flüsterte sie.
Tamani stieg aus und schloss sehr leise die
Wagentür. Als Laurel den Sicherheitsgurt löste, spürte sie Davids
Hand auf ihrer Schulter. Sein Blick schoss kurz zu Tamani, als sie
zu ihm aufsah. »Geh nicht«, flüsterte er eindringlich.
Sie drückte ihm die Hand. »Ich muss. Ich kann ihn
nicht allein gehen lassen.«
David hob entschlossen den Kopf. »Komm zurück«,
befahl er.
Laurels Mund gehorchte ihr nicht, um die Worte
herauszubringen, aber sie nickte und machte die Tür auf. Tamani
steckte den Kopf noch mal ins Auto und sah David an. »Fahr in acht
Minuten näher heran. Wenn bis dahin nicht alle in diesem Haus
wissen, dass wir da sind, liegt das daran, dass wir tot
sind.«
David schluckte.
»Pass ganz genau auf. Wenn sich einer von ihnen
dem Wagen nähert, fahr weg – wenn sie dich kriegen, ist es für uns
längst zu spät. Fahr dann zum Grundstück und berichte Shar.«
Das gefiel Laurel ganz und gar nicht.
Tamani zögerte. »Es tut mir leid, dass ich dir
nicht erlauben kann, mehr für uns zu tun«, sagte er ernsthaft. »Das
kannst du mir glauben.« Er schloss die Tür, nahm Laurels Hand und
schritt auf das Haus zu, ohne sich noch mal umzuschauen.
Sie gingen so um das Haus mit den vielen Anbauten
herum, wie Laurel und David es am Vorabend auch gemacht hatten.
Laurel schnürte es die Brust zu, als sie sich ihrer eigenen Spur
folgend den Wesen näherte, die sie hatten umbringen wollen. Wer
geht schon freiwillig in den Tod?, fragte sie sich
kopfschüttelnd. Doch sie hielt den Blick auf Tamanis Rücken
gerichtet. Es machte ihr Mut, dass er sich so selbstbewusst
anschlich. Ich bin seinetwegen hier, betete sie sich im
Geiste immer wieder vor, bis es ganz vernünftig klang.
Als sie an das eingeschlagene Fenster gelangten,
schoss Tamanis Hand vor und drückte sie an die abblätternde
Außenwand. Er lugte durch den kaputten Fensterrahmen; die Orks
hatten sich nicht mal die Mühe gemacht, das Loch mit Brettern zu
vernageln. Dann griff Tamani in eine seiner Gürteltaschen, holte
etwas heraus, das wie ein brauner Strohhalm aussah und steckte
etwas Kleines hinein. Er ging auf ein Knie, streckte die Arme aus
und wäre für einen Augenblick von jemandem in dem Raum zu sehen
gewesen, bevor er in den
Strohhalm blies und Laurel hörte, wie etwas durch die Luft
sauste.
Im nächsten Moment warf Tamani sich auf den Bauch
und kroch unter dem zersplitterten Sims auf die Rückseite des
Hauses. Laurel folgte ihm ebenfalls kriechend. »Was hast du
gemacht?«, fragte sie flüsternd. Doch Tamani legte einen Finger auf
die Lippen und kroch weiter. Kurz darauf hörte Laurel leise die
Geräusche einer Unterhaltung. Ein Stückchen vor ihr hatte auch
Tamani angehalten und beobachtete das Wenige, das er um die Ecke
herum sehen konnte. Er schaute nach oben auf ein altes Spalier und
grinste. Dann drehte er sich zu Laurel um, zeigte neben sich auf
den Boden und sagte ohne Worte: »Bleib hier.«
Laurel wollte widersprechen, aber als sie die Risse
und Sprünge in dem Gitter entdeckte, sah sie ein, dass ihr
zusätzliches Gewicht sicher nicht helfen würde. Tamani kletterte
lautlos an dem Spalier hoch, was Laurel bei dem wackligen Holznetz
überhaupt nicht für möglich gehalten hatte, und erinnerte eher an
einen flinken Affen, der einen Baum erklomm, als an etwas entfernt
Menschliches.
Laurel ging an der Hausecke in die Hocke und spähte
um die Hauswand. Scarface und sein Freund lümmelten sich auf einem
schmutzigen Sofa auf einer ebenso dreckigen Veranda. Sie sprachen
zu leise, als dass Laurel etwas hätte verstehen können, aber im
Hinblick auf ihre Unterhaltung am Vorabend war das wahrscheinlich
besser so.
Scarface gähnte, und der andere Ork sah aus, als
würde er gleich einschlafen. Laurel hörte es ganz leise knacken,
als Tamani über das Dach lief, aber die beiden Orks waren
anscheinend zu müde oder zu abgelenkt, denn keiner von beiden hob
den Blick.
Obwohl sie ja darauf gefasst war, hätte Laurel
beinahe überrascht aufgeschrien, als Tamani vom Dach flog und
anmutig vor den beiden Orks landete. Blitzschnell stieß er die
Hände vor und knallte ihre Köpfe mit einem dumpfen Dröhnen
aneinander. Sie sanken in die Sofakissen und rührten sich nicht
mehr.
Laurel machte einen Schritt nach vorne und zertrat
knisternd ein Blatt.
»Moment«, sagte Tamani leise. »Ich bin noch nicht
fertig. Guck nicht hin.«
Die Versuchung war zu groß. Er sah sie nicht an,
deshalb zog sie sich nicht wieder hinter die Hausecke zurück,
sondern schaute in atemloser Erwartung zu.
Tamani stemmte sein Knie an die Schulter von
Scarface und nahm sein Gesicht in beide Hände. Als Laurel kapierte,
was er vorhatte, war es schon zu spät. Ihre Augen wollten sich
nicht schließen, als Tamani dem Ork den Kopf auf den Rücken drehte
und ein ekliges Knirschen an ihre Ohren drang. Tamani legte
Scarface wieder in die Kissen, und als er sich dem anderen Ork
zuwandte, konnte Laurel nicht anders, sie musste in das erschlaffte
Gesicht sehen – es war völlig leblos und zum ersten Mal nicht
höhnisch. Als Tamani das Knie in die Schulter des anderen Ork
rammte, ging Laurel
schnell hinters Haus zurück und steckte sich die Finger in die
Ohren. Nicht dass es viel geholfen hätte. Das Brechen von Reds
Genick fand den Weg in ihren Gehörgang und im Geiste füllte sie die
Lücken des Nichtgesehenen. Als Tamani ihr sanft einen Finger auf
die Schulter legte, zuckte sie zusammen.
»Los, wir müssen weiter.« Tamani führte Laurel so
weit wie möglich an den Orks vorbei, aber sie sah sich trotzdem zu
den beiden Gestalten um, die nur zu schlafen schienen.
»Musstest du das tun?«, flüsterte sie, während sie
sich ins Gedächtnis rief, dass diese Männer sie und David hatten
töten wollen. Aber in dem trüben Morgenlicht sahen sie so harmlos
aus, ihre missgestalteten Gesichter friedlich und schlaff.
»Ja. Wir Wachtposten haben eine Regel, die besagt,
dass man einen Ork nie leben lassen darf. Darauf habe ich einen
Schwur abgelegt. Ich habe dir ja gesagt, dass du nicht mitkommen
sollst.«
Im nächsten Moment holte er etwas aus seinem Gürtel
und sprühte die Angeln der Hintertür ein.
Als er die Tür mit einem Schwung öffnete, war kein
Laut zu hören. Laurel dachte an Bess und folgteTamani nur sehr
zögerlich. Doch sie lag reglos auf dem Fußboden. Tamani hockte sich
neben sie und zog einen kleinen Pfeil aus ihrem Hals. Laurel fiel
der braune Strohhalm wieder ein, und sie begriff, was er getan
hatte.
»Ist sie tot?«, fragte sie flüsternd.
Tamani schüttelte den Kopf. »Sie schläft nur. Die
Todespfeile sind viel größer und wirken nicht so schnell. Sie
hätte ein paar Mal gewimmert und alles ruiniert.« Er griff wieder
in seinen Gürtel und seufzte, als er ein Fläschchen aufschraubte.
»Um solche wie diese tut es mir leid. Die zu dumm sind, um zu
wissen, was sie tun. Sie haben nicht mehr Schuld als ein Löwe oder
ein Tiger, die ihre Beute reißen, jedenfalls am Anfang. Wenn sie
aber erst zu bösartigen Elfenhassern dressiert wurden, die jeden
Befehl ihres Herrn ausführen, sind sie für immer gefährlich.« Er
zog eines von Bess’ Augenlidern hoch und ließ zwei Tropfen der
gelben Flüssigkeit in ihr Auge fallen. »In ein paar Minuten ist sie
tot«, sagte er und verstaute das Fläschchen wieder im Gürtel.
Tamani drehte sich zu Laurel um und trat so nah an
sie heran, dass er ihr ins rechte Ohr flüstern konnte: »Ich weiß
nicht, wo der Letzte ist. Wenn wir ihn finden und überraschen
können, ist es einfach. Folge mir also, aber von nun an kein Wort
mehr. Verstanden?«
Laurel nickte und hoffte, so leise schleichen zu
können wie er. Sie war sich noch nie im Leben unbeholfen
vorgekommen – sie war immer anmutiger gewesen als alle anderen -,
aber verglichen mit Tamani war sie geradezu stoffelig. Sie sah zu,
wie er die Füße setzte und ahmte ihn genau nach. Auf diese Weise
gelang es auch ihr, mehr oder weniger lautlos die Treppe
hochzuschleichen.
Sie gingen an drei offenen Türen vorbei, in denen
nur mit Laken bedeckte Möbel und wirbelnde Staubpartikel
zu sehen waren. Als Tamani durch die vierte Tür lugte, griff er
auf der Stelle in seinen Gürtel. Laurel entdeckte Barnes’ Schatten,
der von dem Sonnenlicht, das durch das Ostfenster fiel, verlängert
auf dem Fußboden lag – irgendwie war sogar sein Schattenprofil
unverkennbar. Tamani holte den langen Halm wieder heraus und ging
auf ein Knie. Er holte tief Luft und zielte sorgfältig. Mit einem
leisen Hauch flog der Pfeil los.
Laurel schaute unverwandt auf den Schatten. Er
zuckte zusammen und grunzte leise. Die Sekunden zogen sich zu einer
Ewigkeit, bis der Schatten endlich den Kopf auf den Tisch legte.
Tamani zeigte auf den Boden, wo Laurel sich an die Wand schmiegte,
und bedeutete ihr wieder, dort zu bleiben.
Dieses Mal gehorchte sie.
Tamani schlich vorwärts und blieb einige Sekunden
hinter dem Ork in der Hocke. Laurel sah an dem Schatten, wie er die
Hände auf beiden Seiten an das Gesicht des Ork hob. Da sie schon
wusste, was als Nächstes kommen würde, kniff sie die Augen zu und
legte die Hände über die Ohren. Doch das Geräusch, das sie dann
hörte, war kein Knacken, sondern ein lauter Knall, der die Wand in
ihrem Rücken erschütterte.
»Das hast du dir so gedacht, dass deine mickrigen
Elfentricks bei mir funktionieren, was?«
Laurel riss die Augen auf und lief zu der Stelle,
an der Tamani eben noch gestanden hatte. Barnes konnte sie nicht
sehen, aber Tamani lag zusammengesunken an der Wand und schüttelte
benommen den Kopf,
während er Barnes böse anschaute. Als sie beobachtete, wie der
lange Schatten sich auf Tamani stürzte, wollte sie ihm schon eine
Warnung zurufen, aber Tamani war längst weg, als Barnes in die Wand
krachte, sodass der Putz bröselte. Während Tamani durch den Raum
sauste, drückte Laurel sich immer enger an die Wand. Das ganze Haus
bebte, als Barnes immer wieder versuchte, Tamani zu schnappen, der
ihm jedes Mal knapp entwischte. Laurel sah dem Tanz der Schatten
atemlos zu, voller Angst, eine Bewegung, ein Laut könnten sie
verraten.
Schließlich packte Barnes Tamani laut brüllend mit
einem weiten Schlenker seiner langen Arme an der Brust und warf ihn
an die südliche Wand, direkt gegenüber der Schwelle, an der Laurel
kniete. Ein Netz von Rissen überzog die Wand, als Tamani dagegen
knallte und zu Boden glitt. Laurel flehte ihn innerlich an, wieder
aufzustehen und fortzuspringen, aber sein Kopf hing schlaff nach
links, und er atmete schwer.
»Schon besser«, sagte Barnes.
Laurel zog den Kopf wieder zurück, was allerdings
unnötig war. Barnes ragte mit dem Rücken zu ihr hoch über Tamani.
Er beugte sich vor und musterte Tamani, bevor er in sein
schepperndes Lachen ausbrach. »Was ist das denn? Nur ein Junge, ein
Baby. Bist du überhaupt schon alt genug für einen
Wachtposten?«
»Ich bin alt genug«, erwiderte Tamani mit rauer
Stimme. Mit harten, fast schwarzen Augen wütete er gegen den
Ork.
»Und dich haben sie geschickt, um mich
auszuschalten? Ihr Elfen wart schon immer zu blöd.«
Tamani schleuderte ein Bein nach vorne, aber
diesmal war er zu langsam. Barnes schnappte ihn an der Wade, drehte
sie, hob Tamani hoch und ließ ihn mehrmals kreisen, bevor er ihn
erneut mit so viel Kraft gegen die Wand warf, dass sie weiter
aufplatzte.
»Wenn du die harte Nummer willst, bekommst du die
harte Nummer«, sagte Barnes. »Ehrlich gesagt ist mir die harte
Nummer auch lieber.«
Laurel machte noch größere Augen, als Barnes eine
Pistole aus dem Gürtel zog, auf Tamani zielte und schoss.