Vierzehn
Was hast du gemacht?« Laurel wurde lauter.
»Du hast versprochen, dich nicht aufzuregen.«
»Erst verzauberst du mich, und dann erwartest du von mir, dass ich nett lächele und es dir einfach durchgehen lasse? Also, das tue ich bestimmt nicht!«
»Bitte, es hat noch nicht mal gut geklappt … na ja, das tut es bei anderen Elfen nie.«
Laurel verschränkte die Arme. »Raus mit der Sprache.«
Tamani lehnte sich wieder an den Baum. »Ich habe dich angelockt.«
»Mich angelockt?«
»Ich habe dich dazu gebracht, mir hierher zu folgen.«
»Warum solltest du das tun?«
»Du solltest lange genug zuhören, um die Wahrheit zu erfahren.«
»Und … wie? Hast du mir Feenstaub in die Augen gestreut?«
»Das ist doch lächerlich, nein«, erwiderte Tamani. »Ich habe dir schon gesagt, dass echte Elfenmagie anders ist, als du denkst. Es gibt keinen Staub zum Fliegen, kein Gewedel mit Zauberstäben, keine Rauchwolken. Es geht um Dinge, die uns helfen, im Leben unsere Rolle zu erfüllen.«
»Und wie hilft dir das Anlocken bei deiner Rolle als Wachtposten?« Laurels Stimme troff vor Ironie, aber Tamani fuhr mit seiner Erklärung fort, als hätte er nichts gemerkt.
»Überleg mal. Ich kann einen Eindringling mit meinem Speer verscheuchen, aber was soll dabei herauskommen? Er läuft weg und erzählt seinen Freunden, was passiert ist. Dann kommen sie wieder und suchen uns.« Tamani breitete die Hände aus. »Stattdessen l ocke ich ihn weg, gebe ihm ein Elixier für Gedächtnisverlust und schicke ihn fort. Schon mal von Irrlichtern gehört?«
»Logo.«
»Das sind wir. Nachdem ein Mensch das Elixier getrunken hat, kann er sich nur noch daran erinnern, einem Lichtstrahl gefolgt zu sein. Auf diese Weise bleibt alles friedlich und niemand wird verletzt.«
»Aber ich habe dich nicht vergessen.«
»Habe ich dir etwa ein Elixier gegeben?«
»Du hast mich aber doch verzaubert.« So schnell gab sie nicht auf.
»Ich konnte nicht anders. Wärst du sonst mitgekommen?«
Laurel schüttelte den Kopf, obwohl sie genau wusste, dass sie Tamani wahrscheinlich auch so überallhin gefolgt wäre.
»Außerdem wirkt es, wie ich schon sagte, eher schlecht bei anderen Elfen. Wenn sie wissen, was kommt, funktioniert es überhaupt nicht. Du hast es ziemlich schnell abgebrochen, als du darüber nachgedacht hast.« Da war es wieder, dieses halbe Grinsen.
»Und was ist mit heute?«, fragte Laurel schnell, bevor sie seinem hypnotischen Lächeln erliegen konnte.
»Hast du Angst, dass ich es wieder eingesetzt habe?«, fragte er.
»Vielleicht.«
»Nee, habe ich nicht. All dieser Charme und dieses Charisma sind mir von Natur aus gegeben.« Jetzt lächelte er selbstsicher. Arrogant.
»Versprich mir, dass du es nie wieder bei mir versuchst.«
»Kein Problem. Jetzt da du den Zauber kennst, würde er nicht mehr wirken. Ich werde es aber ohnehin nicht mehr versuchen. Mir ist es sowieso viel lieber, wenn ich dich ohne Magie verzaubern kann.«
Laurel unterdrückte ein Grinsen und lehnte sich zurück. Sie wollte warten, bis dieses schöne Gefühl sich auflöste. Das passierte aber nicht.
Sie zog die Brauen zusammen. »Hör auf damit. Du hast es versprochen.«
Tamani machte große Augen und fragte verwirrt: »Womit soll ich aufhören?«
»Mit dieser Lockerei. Du machst es immer noch.«
Tamanis verwirrte Miene machte einem warmen Lächeln Platz. In seinen Augen las sie eine Art Befriedigung.
»Das bin ich nicht.«
Laurel schaute ihn wütend an.
»Das ist die Magie des Königreichs. Sie sickert aus der Welt der Elfen und verhilft den Wachtposten dazu, sich zu Hause zu fühlen, wenn wir nicht dort sein können.« Sein Lächeln war jetzt heiter und gelassen. »Das hast du schon mal empfunden – ich weiß es ganz genau. Darum liebst du dieses Land so sehr. Doch jetzt, da du weißt, wer du bist und zum ersten Mal geblüht hast, wird es stärker.« Als er sich vorbeugte, brachte er seine Nase direkt vor ihre. Laurel stockte der Atem, in seiner Nähe erschlafften ihre Glieder. »Das Königreich ruft dich heim, Laurel.« Laurel riss ihren Blick aus den endlosen Tiefen seines Blicks und konzentrierte sich darauf, was sie fühlte. Als sie in das Blattwerk um sich herum schaute, verstärkte sich das Gefühl. Die angenehme Empfindung schien von den Bäumen auszugehen und in der Luft zu schweben. »Ist das wirklich magisch?«, fragte sie atemlos, obwohl sie schon wusste, dass es nichts anderes sein konnte.
»Selbstverständlich.«
»Das kommt nicht von dir?«
Tamani lachte leise, aber er machte sich nicht über sie lustig. »Diese Magie ist viel stärker, als sie ein unbedeutender Frühlingself auch nur erwägen könnte.«
Als ihre Blicke sich trafen, konnte sie sich einen Moment lang nicht losreißen. Sein strahlend grüner Blick hielt sie fest. Er sah beinahe menschlich aus, aber er hatte etwas an sich – sie konnte es nicht genau benennen -, eine Andeutung, dass er bedeutender war, als offenbar wurde. »Sind die meisten Elfen wie du?«, fragte sie leise.
Er blinzelte und nun konnte sie den Blick abwenden. »Das kommt darauf an, was du damit meinst«, erwiderte er. »Wenn du meinen Charme und meinen Esprit ansprichst, muss ich mit Nein antworten – ich bin wirklich überaus charmant. Wenn es darum geht, wie ich aussehe …« Er hielt inne und sah an sich herunter, wie um sich selbst abzuschätzen. »Ich würde sagen, ich bin ziemlich normal. Nichts Besonderes.«
Das sah Laurel anders. Er hatte ein Gesicht, das selbst Filmstars nur auf retuschierten Fotos vorweisen konnten. Und doch sahen alle Elfen so aus, wenn sie ihm glauben durfte.
Auf einmal fragte Laurel sich, wie sie für ihre Artgenossen aussah. Ihr Gesicht kam ihr normal vor, aber schließlich hatte sie es ihr Leben lang im Spiegel gesehen.
Sie überlegte kurz, ob das, was sie sah, wenn sie Tamani anschaute, das war, was David sah, wenn er sie anschaute.
Der Gedanke war ihr unangenehm. Sie räusperte sich und kramte in ihrem Rucksack nach einer Dose, um davon abzulenken. »Möchtest du auch eine?«, fragte sie geistesabwesend, als sie die Dose öffnete.
»Was ist das?«
»Sprite.«
Tamani lachte. »Sprite? Machst du Witze?«
Laurel verdrehte die Augen. »Willst du eine oder willst du keine?«
»Bitte.«
Sie zeigte ihm, wie man an dem Ring zog, und er versuchte es zögerlich. »Wow, ist ja toll.« Er musterte sie kurz. »Trinkst du dauernd so ein Zeug?«
»Es gehört zu den wenigen Dingen, die ich mag.«
»Kein Wunder, dass deine Haare und deine Augen fast keine Farbe haben.«
»Ach ja?«
»Hast du dich noch nicht gefragt, warum das bei mir anders ist?«
»Ich habe mir schon … ein paar Gedanken über deine Haare gemacht.« Das war die Untertreibung des Jahres.
»Ich esse sehr viel Dunkelgrünes. Vor allem Moos vom Bach.«
»Iih.«
»Quatsch, das ist total lecker. Du bist eben mit menschlichen Vorstellungen aufgewachsen. Wetten, du hast es nie probiert?«
»Nein, danke.«
»Wie du willst. Du bist auch so hübsch genug.«
Sie lächelte schüchtern, als er ihr mit der Dose zuprostete, bevor er trank.
»Ich esse Pfirsiche«, sagte sie unvermittelt.
Tamani nickte. »Die sind gut für dich. Ich selbst bin nicht so für Süßes.«
»Das meine ich gar nicht. Warum werde ich nicht orange?«
»Was isst du denn noch?«
»Erdbeeren, Salat und Spinat. Hin und wieder einen Apfel. Obst und Gemüse eben.«
»Wenn du so eine Mischung isst, nimmt dein Haar keine einzelne Farbe an, sondern bleibt hell.« Er grinste. »Probiere doch mal, eine Woche lang nur Erdbeeren zu essen – deine Mutter bekommt einen Schock.«
»Wieso, werde ich dann rot?«, fragte Laurel entsetzt.
»Nicht überall«, sagte Tamani. »Nur die Augen und die Haarwurzeln. Wie bei mir. Zu Hause ist das gerade angesagt. Blau, pink, lila. Macht Spaß.«
»Sehr seltsam.«
»Wieso? Heißt es nicht in der Hälfte der Menschenmärchen, wir hätten grüne Haut? Das ist noch viel seltsamer.«
»Kann sein.« Laurel erinnerte sich an ihre letzte Begegnung mit Tamani. »Hast du nicht gesagt, du hättest keinen Feenstaub?«
Tamani senkte wie zustimmend das Kinn, aber seine Miene war ausdruckslos.
»Als ich das letzte Mal hier war, hast du mein Handgelenk gepackt, und dann war da so ein Glitzerzeug drauf. Was war das denn, wenn es kein Feenstaub war?«
Jetzt schnitt Tamani eine Grimasse. »Das tut mir leid, ich hätte besser aufpassen müssen.«
»Wieso, war es was Gefährliches?«
Tamani lachte. »Wohl kaum. Es war nur Pollen.«
»Pollen?«
»Ja, den kennst du doch.« Er betrachtete seine Hände, als wären sie plötzlich sehr interessant geworden. »Zum Bestäuben.«
»Zum Bestäuben?« Laurel wollte schon lachen, aber Tamani sah nicht so aus, als hätte er einen Witz gemacht.
»Was glaubst du denn, warum dir eine Blume gewachsen ist? Nicht nur, damit du toll aussiehst. Obwohl deine echt attraktiv war.«
»Oh.« Laurel versank in kurzes Schweigen. »Durch Bestäubung pflanzen die Blumen sich fort.«
»So pflanzen wir uns auch fort.«
»Du hättest mich also … bestäuben können?«
»Das würde ich nie tun, Laurel.« Jetzt war er todernst.
»Aber du hättest es tun können?«, drängte Laurel.
Tamani sprach langsam und passte genau auf, was er sagte. »Technisch gesehen, ja.«
»Und dann? Hätte ich dann ein Baby bekommen?«
»Einen Setzling, ja.«
»Und der würde auf meinem Rücken wachsen?«
»Nein, nein. Elfen wachsen in Blumen. In diesem Punkt geht es in den Geschichten der Menschen meistens korrekt zu. Das … Weibchen … wird vom Männchen bestäubt. Wenn ihre Blütenblätter abfallen, bleibt der Samen zurück. Sie pflanzt ihn ein, und wenn die Blume blüht, hat man einen Setzling.«
»Und wie macht man … ich meine, wie bestäuben Elfen?«
»Das Männchen produziert Pollen auf seinen Händen, und wenn zwei Elfen sich zum Bestäuben entschließen, greift das Männchen in die Blüte des Weibchens, wo sich der Pollen vermischt. Das ist ein durchaus schwieriger Vorgang.«
»Klingt nicht sonderlich romantisch.«
»Romantik spielt dabei überhaupt keine Rolle«, erwiderte Tamani und lächelte selbstbewusst. »Dafür gibt es Sex.«
»Ihr habt noch …?« Sie ließ die Frage in der Luft hängen.
»Unbedingt.«
»Aber schwanger werden Elfen nicht?«
»Niemals.« Tamani zwinkerte ihr zu. »Die Fortpflanzung erfolgt durch Bestäubung, Sex macht einfach nur Spaß.«
»Darf ich den Pollen mal sehen?«, fragte Laurel und streckte die Hände aus.
Instinktiv zog Tamani die Hände zurück. »Ich habe gerade keinen, du blühst nicht mehr. Wir produzieren nur Pollen, wenn wir mit einem blühenden Weibchen zusammen sind. Das hatte ich vergessen und deshalb blieb etwas auf deinem Handgelenk zurück. Ich war sehr lange nicht mehr in der Nähe eines blühenden Weibchens.«
»Und warum nicht?«
»Ich bin ein Wachtposten. Es sind immer mehrere Wachtposten zusammen, aber hier sind alle männlich. Und ich gehe nicht oft nach Hause.«
»Klingt echt einsam.«
»Manchmal.« Er schaute sie wieder an und in seinen Augen fand eine Veränderung statt. Er war nicht mehr auf der Hut; sie entdeckte tieftraurige Schwermut. Es tat fast weh hinzusehen, aber sie konnte den Blick nicht abwenden.
Dann war es vorbei, so schnell wie es gekommen war, und das sorglose Grinsen war wieder da. »Es war echt netter, als du noch hier warst. Übrigens habe ich deinetwegen richtig Ärger bekommen.«
»Wieso, was habe ich gemacht?«
»Du bist verschwunden.« Tamani lachte und schüttelte den Kopf. »Mann, waren wir froh, als du zurückgekommen bist. Als du …«
»Wer ist ›wir‹?«
»Dachtest du etwa, ich wäre der einzige Elf hier?«
Laurel spielte mit einer Haarsträhne, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte. »Tja, irgendwie schon.«
»Du kannst uns nur sehen, wenn wir es erlauben.«
Trotzdem schaute Laurel sich um. »Wie viele?«, fragte sie. War sie von Legionen unsichtbarer Elfen umzingelt?
»Mal so, mal so. Shar und ich sind fast immer hier. Zehn bis fünfzehn andere wechseln sich normalerweise in Schichten von sechs Monaten oder einem Jahr ab.«
»Wie lange seid ihr denn schon hier?«
Er sah sie schweigend an, seine Miene sagte ihr nichts. »Sehr lange«, antwortete er schließlich.
»Warum seid ihr hier?«
Er lächelte. »Um auf dich aufzupassen. Na ja, jedenfalls bis zu deinem Verschwinden.«
»Ihr wart hier, um auf mich aufzupassen? Wieso denn?«
»Um dich zu beschützen. Um dafür zu sorgen, dass keiner merkt, was du bist.«
Laurel erinnerte sich an ihre Nachforschungen. »Bin ich etwa … ein Wechselbalg?«
Tamani zögerte die Antwort heraus. »Im weitesten Sinne, ja. Abgesehen davon, dass wir niemanden geraubt und keinen Ersatz dafür dagelassen haben. Ich sehe in dir eher ein Pfropfreis.«
»Was soll das denn sein?«
»Ein Pfropfreis ist eine Pflanze, die von einer Pflanze genommen und einer anderen Pflanze aufgepfropft wird. Du wurdest aus deiner Welt genommen und in die Menschenwelt verpfropft. Wie ein Pfropfreis.«
»Aber wieso nur? Gibt es viele … Pfropfreiser?«
»Nö. Im Augenblick bist du das einzige.«
»Warum ich?«
Er beugte sich vor. »Ich kann dir nicht alles sagen, das musst du respektieren, aber ich sage dir alles, was ich darf, ja?«
Laurel nickte.
»Du wurdest vor zwölf Jahren hierhergebracht, um dich in die Welt der Menschen einzugliedern.«
Laurel rollte mit den Augen. »Ich hätte es wissen müssen. Wer sollte mich sonst in einem Körbchen auf irgendeiner Schwelle aussetzen?« Sie riss die Augen auf, als Tamani lachte. »Warst du das etwa?«
Jetzt lachte er noch lauter und warf sogar den Kopf zurück, so viel Spaß machte ihm das. »Nein, nein, ich war noch zu jung. Aber als ich zu den Wachtposten hier beordert wurde, wurde ich im Großen und Ganzen über dein bisheriges Leben informiert.«
Das gefiel Laurel ganz und gar nicht. Mit schmalen Augen fragte sie: »Hast du mir hinterherspioniert?«
»So würde ich das nicht nennen. Wir waren eine Hilfe.«
»Eine Hilfe … soso.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
»Echt. Wir mussten verhindern, dass deine Eltern herausfanden, was du bist.«
»Das klingt wahrhaftig wie ein schlauer Plan.« Laurel flüchtete sich in die Ironie. »Hmm, wie sollen wir diese beiden Menschen davon abhalten, etwas über Elfen herauszufinden? Wie wär’s, wenn wir ihnen eine vor die Tür stellen?«
»So war das nicht. Uns war es wichtig, dass sie ein Elfenkind bekamen.«
»Warum?«
Tamani schnitt eine Grimasse.
»Super, Mr Ich-kann-es-dir-nur-sagen-wenn-ichdich-hinterher-umbringe. Warum habt ihr mich denn nicht als Baby ausgesetzt?« Sie kicherte betreten. »Glaub mir, ich hätte besser in das Körbchen gepasst, wenn ich nicht schon drei gewesen wäre.«
Diesmal lächelte Tamani nicht. »Du warst sogar noch älter.«
»Wie bitte?«
»Elfen altern anders als Menschen. Sie sind nie richtige Babys. Elfenbabys sind nie so hilflos wie Menschen. Von Geburt an können sie laufen und sprechen und sind geistig auf der Höhe eines …« Er überlegte kurz. »Vielleicht auf der Höhe eines Fünfjährigen.«
»Wirklich?«
»Oh ja. Dann altern sie körperlich ein wenig langsamer, weshalb eine Elfe, die wie ein drei- bis vierjähriges Kind aussieht, in Wirklichkeit schon sieben oder acht ist … und vom Verstand her elf oder zwölf.«
»Irre.«
»Vergiss nicht, dass wir Pflanzen sind. Hilflosen Nachwuchs aufzuziehen, ist Sache der Tiere. Pflanzen produzieren Setzlinge und Setzlinge wachsen von allein.«
»Haben Elfen dann noch nicht mal Eltern? Soll das heißen, ich habe keine Eltern, nirgends?«
Tamani biss sich auf die Lippe und senkte den Blick. »Im Elfenreich ist alles ganz anders. Man hat nicht viel Zeit, ein Kind zu sein, und es gibt nicht genug erwachsene Elfen, als dass sie rumsitzen und Kindern beim Spielen zusehen könnten. Jeder hat eine Aufgabe, erfüllt einen Zweck und alle übernehmen ihre Rolle sehr früh. Wir werden schnell groß. Ich bin Wachtposten, seit ich vierzehn bin. Ich war schon ziemlich jung, aber die meisten Elfen üben mit fünfzehn, sechzehn ihren Beruf aus und leben selbstständig.«
»Nach Spaß klingt das nicht gerade.«
»Um Spaß geht es auch nicht.«
»Wenn du das sagst. Ich konnte also nicht schon als Baby herkommen, weil ich schon sprechen und laufen konnte, oder wie?«
»Jep.«
»Und wie alt war ich dann, als ich abgeliefert wurde?«
Er seufzte, und einen Augenblick lang dachte Laurel, er würde die Frage nicht beantworten. Dann schien er jedoch seine Meinung zu ändern. »Du warst sieben.«
»Sieben?« Die Vorstellung schockte sie. »Warum kann ich mich an nichts erinnern?«
Tamani beugte sich wieder vor und stützte die Ellbogen auf die Beine. »Bevor ich diese Frage beantworte, musst du verstehen, dass du mit alldem einverstanden warst, auch wenn du dich an nichts erinnerst.«
»Mit alldem?«
»Einfach mit allem. Damit, herzukommen, deine Rolle zu übernehmen, mit den Menschen zusammenzuleben, all das. Du wurdest vor langer Zeit dazu auserwählt, und du erklärtest dich bereit, es zu tun.«
»Und warum kann ich mich nicht erinnern?«
»Ich habe dir doch erzählt, dass ich die Menschen dazu bringen kann, mich zu vergessen, ja?«
Sie nickte.
»Das haben sie mit dir auch getan. Als du so alt warst, dass du als Menschenkind durchgehen konntest, haben sie dein Elfenleben aus deinem Gedächtnis getilgt.«
»Wie mit einem Zaubertrank oder so was?«
»Genau.«
Laurel war baff. »Sie haben mich sieben Jahre meines Lebens vergessen lassen?«
Tamani nickte ernst.
»Ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
Sie saßen minutenlang schweigend beieinander, während Laurel versuchte zu verstehen, was das für sie bedeutete. Sie zählte die Jahre zusammen, die sie Tamani zufolge verloren hatte. »Ich bin neunzehn?«, fragte sie verwundert.
»Rein rechnerisch, ja. Aber du bist immer noch wie ein fünfzehnjähriges Menschenmädchen.«
»Und wie alt bist du?« Ärger schwang in ihrer Stimme mit. »Fünfzig?«
»Einundzwanzig«, sagte Tamani leise. »Wir sind fast gleich alt.«
»Sie haben einfach dafür gesorgt, dass ich alles vergesse?«
Tamani zuckte mit angespannter Miene die Achseln.
Laurel verlor endgültig die Beherrschung. »Habt ihr darüber mal nachgedacht? Da hätten doch tausend Sachen schiefgehen können! Was, wenn meine Eltern mich gar nicht hätten haben wollen? Wenn sie herausgefunden hätten, dass ich kein Herz habe, kein Blut, oder dass ich kaum atmen muss? Weißt du, was die meisten Leute Dreijährigen zu essen geben? Milch, Plätzchen, Würstchen! Ich hätte sterben können!«
Tamani schüttelte heftig den Kopf. »Wofür hältst du uns? Für Amateure? Es gab so gut wie keinen Augenblick in deinem Leben, in dem du nicht von mindestens fünf Elfen überwacht wurdest, die dafür sorgten, dass alles glattging. Und das Essen war sowieso kein Problem. Deshalb bist du ja extra auserwählt worden.«
»Hatte ich denn nicht vergessen, was ich essen sollte?«
»Das ist das Tolle an Herbstelfen. Zu ihrer Magie gehört, dass sie im Innersten genau wissen, was für sie und andere Elfen gut oder schlecht ist. Dieses Wissen brauchen sie zum Brauen der Elixiere. Wir konnten uns darauf verlassen, dass du von dir aus nichts essen würdest, was dir schadete. Wir mussten nur darauf aufpassen, dass deine Eltern dir nicht unter Zwang etwas Falsches verabreichten. Was sie nie getan haben«, sagte er schnell, bevor sie fragen konnte. »Wir hatten alles bestens unter Kontrolle. Jedenfalls«, sagte er widerstrebend, »bis du verschwunden bist.«
»Bis ich verschwunden bin? Wenn ihr mich so gut im Auge hattet, hättet ihr von dem Umzug doch etwas mitbekommen müssen.«
»Vor ein paar Jahren haben wir aufgehört, dich so eng zu bewachen. Darauf habe ich bestanden. Ich … also, ich bin zurzeit für dich zuständig. Du warst kein Kind mehr. Für Elfenverhältnisse warst du längst erwachsen. Es war für nicht Eingeweihte nicht ersichtlich, dass du eine Elfe warst. Du bist nicht oft hingefallen und deine Eltern hatten sich an deine Essgewohnheiten gewöhnt. Ich hatte das Gefühl, dass du mehr Privatsphäre verdientest. Ich dachte, das würde dir gefallen«, sagte er mürrisch.
»Hätte es wahrscheinlich, wenn ich es hätte merken können«, stimmte Laurel zu.
Tamani seufzte. »Aber ich habe mich zu weit zurückgezogen, sodass wir von euren Umzugsplänen nichts mitbekommen haben, bis das Umzugsunternehmen kam. In dem Moment wollte ich bis zum Äußersten gehen und alles beenden. Die Umzugsmänner betäuben, dich ins Elfenreich zurückholen und das ganze Projekt abblasen. Aber … sagen wir mal, ich wurde überstimmt. Also stiegst du mit deinen Eltern in den Wagen und dann warst du … weg.« Er lachte trocken. »Mann, die haben mich auseinandergenommen.«
»Das tut mir leid.«
»Schon okay. Du bist zurückgekommen. Jetzt ist alles gut.«
Sie sah ihn argwöhnisch an. »Hast du vor, mir zu folgen und dich in meinem Hinterhof einzurichten, da du mich so gern beobachtest?«
Er lachte. »Nein, wir sind hier gut aufgehoben. Am meisten Sorgen hat uns deine Blüte bereitet und die Angst, wie du damit klarkommst. Zum Glück hast du es bestens hinbekommen.«
»Ich wohne also weiter in Crescent City und du lebst weiter hier draußen?«
»Im Moment ja.«
»Und wieso sollte ich dann so ein Pfropfreis sein? Habt ihr nur mit mir herumexperimentiert?«
»Nein, überhaupt nicht.« Tamani atmete laut und erschöpft aus, bevor er sich rasch auf der Lichtung umsah. »Du wurdest hierhergeschickt, um dieses Land zu schützen. Für uns Elfen ist dies ein wichtiger Platz. Es ist dringend erforderlich, dass jemand das Land besitzt, der Bescheid weiß. Das ist der Hauptgrund, warum du zu deinen Eltern kamst. Als die Mutter deiner Mutter starb, war deine Mutter sehr verbittert und gab das Grundstück sofort zum Verkauf frei. Sie war erst neunzehn, und ich fürchte, die Erinnerungen, die daran hingen, waren zu viel für sie.«
»Das hat sie mir erzählt.«
Tamani nickte. »Es ging bergauf, als sie deinen Vater geheiratet hat, aber sie gab den Gedanken, zu verkaufen, nie auf. Da kam der Selige Hof auf die Idee, dich als Familienzuwachs zu schicken. Es ging besser auf, als sie jemals zu hoffen gewagt hätten. Nachdem deine Mutter sich voll auf dich eingelassen hatte, wollte sie nicht mehr verkaufen. Bis auf den ein oder anderen durchreisenden Kaufinteressenten, den wir abwimmeln mussten, hatten wir nicht viel zu tun. Mittlerweile ist das Haus ja auch recht runtergekommen.« Tamani lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Wir ziehen uns zurück und warten ab, bis du erbst.«
Laurel senkte den Blick auf ihre Hände. »Und wenn ich es nicht erbe? Was passiert, wenn meine Eltern es verkaufen?«
»Sie können es nicht verkaufen«, sagte er nüchtern.
Sie riss den Kopf hoch. »Warum nicht?«
Tamani lächelte gerissen. »Man kann kein Haus verkaufen, an das sich niemand erinnert.«
»Huh?«
»Wir können die Menschen nicht nur dazu bringen, uns zu vergessen.«
Laurel machte große Augen, als es ihr dämmerte. »Ihr habt das Ganze sabotiert! Ihr habt dafür gesorgt, dass die Leute sogar vergessen haben, dass sie das Haus besichtigt haben.«
»Das musste sein.«
»Und was ist mit den Gutachtern?«
»Glaub mir, deine Mutter käme zu sehr in Versuchung, wenn sie wüsste, wie viel das Grundstück wert ist.«
»Deren Erinnerung habt ihr auch gelöscht?«
»Es war unbedingt nötig, Laurel. Glaub mir.«
»Äh … es hat nicht funktioniert«, sagte Laurel leise.
Tamani sah sie alarmiert an. »Was meinst du damit?«, fragte er mit tiefer, ernster Stimme.
»Meine Mom ist dabei, das Grundstück zu verkaufen.«
»An wen? Keiner kommt her, um es sich anzusehen. Darum hätten wir uns gekümmert.«
»Ich weiß es nicht; ein Typ, den mein Dad in Brookings getroffen hat.«
Tamani beugte sich vor. »Laurel, das ist außerordentlich wichtig. Du darfst den Verkauf nicht zulassen.«
»Und warum nicht?«
»Zum ersten, weil ich hier lebe, ich will nicht obdachlos werden. Aber …« Er ließ den Blick schweifen und knurrte frustriert. »Ich kann dir das jetzt nicht alles erklären, aber sie darf nicht verkaufen. Du musst sofort mit ihr reden, wenn du nach Hause kommst, und alles tun, um sie davon zu überzeugen, diesem Kerl abzusagen.«
»Tja, das dürfte ein Problem sein.«
»Wieso?«
»Er hat schon ein Angebot gemacht. Sie setzen demnächst den Vertrag auf.«
»Oh nein.« Tamani strich sich die Haare aus der Stirn. »Das ist schlimm, das ist ganz schlimm. Shar bringt mich um.« Er seufzte. »Kannst du irgendwas dagegen unternehmen?«
»Ich habe nichts zu sagen«, sagte Laurel. »Es ist nicht meine Entscheidung.«
»Probiere es bitte trotzdem. Sag … irgendwas. Wir versuchen von hier aus auch, eine Lösung zu finden. Wenn du wüsstest, wie wichtig dieses Land für das Elfenreich ist, könntest du nicht mehr schlafen, bis es wieder in Sicherheit wäre. Ich tue bestimmt kein Auge mehr zu, bis du wiederkommst und mir sagst, dass es gerettet ist.«
»Warum?«
Zischend atmete er aus. »Das kann ich dir nicht sagen … es ist verboten.«
»Verboten? Ich bin eine Elfe oder etwa nicht?«
»Das verstehst du nicht, Laurel. Du kannst nicht erwarten, dass wir dir alles sagen, nur weil du eine von uns bist – noch nicht. Selbst im Elfenreich dürfen junge Elfen die Welt der Menschen erst betreten, wenn sie ihre Loyalität bewiesen haben – wenn überhaupt. Du drängst mich, dir eins der größten Geheimnisse unserer Art zu verraten. Das kannst du nicht von mir verlangen.«
Sie schwiegen. »Ich werde tun, was ich kann«, sagte Laurel schließlich.
»Mehr möchte ich gar nicht.«
Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Meine Eltern werden denken, ich wäre verrückt geworden.«
»Damit habe ich kein Problem.«
Laurel sah ihn kurz an und knuffte ihn dann in die Schulter.
Tamani lachte nur.
Dann wurde er wieder ernst und sah sie an. Er ging langsam auf sie zu und strich mit den Fingern über ihren nackten Arm. »Ich bin froh, dass du heute gekommen bist«, sagte er. »Ich habe dich vermisst.«
»Ich … ich glaube, ich habe dich auch vermisst.«
»Wirklich?« Die Hoffnung, die in seinen Augen aufleuchtete, war zu viel für Laurel. Sie wandte den Blick ab und lachte nervös.
»Na ja, jedenfalls nachdem ich dich nicht mehr für einen verrückten Obdachlosen gehalten habe.«
Sie lachten zusammen und Laurel bewunderte das sanfte Klimpern in Tamanis Stimme. Ein kribbeliger Schauer lief ihr über den Rücken. Sie schaute auf die Uhr. »Ich … ich muss los«, sagte sie mit großem Bedauern.
»Komm bald wieder«, sagte Tamani. »Dann reden wir weiter.«
Laurel lächelte. »Das wäre schön.«
»Versprichst du mir, mit deinen Eltern zu reden?«
»Mache ich.«
»Kommst du her, wenn es etwas Neues gibt?«
»So schnell ich kann, aber wann das sein wird, kann ich nicht sagen.«
»Willst du deinen Eltern alles erzählen?«, fragte Tamani.
»Ich weiß nicht«, antwortete Laurel. »Sie würden mir wahrscheinlich nicht glauben. Zumal ich die Blüte nicht mehr habe, mit der ich was hätte beweisen können. Damit habe ich auch David überzeugt.«
»David«, sagte Tamani schroff.
»Was hast du gegen David?«
»Nichts. Bist du sicher, dass du ihm trauen kannst?«
»Absolut.«
Tamani seufzte. »Irgendwem musstest du es erzählen; das kann ich mir denken. Es gefällt mir trotzdem nicht.«
»Wieso nicht?«
»Weil er ein Mensch ist. Jeder weiß, dass man den Menschen nicht trauen darf. Sei bloß vorsichtig.«
»Bei ihm muss ich nicht vorsichtig sein. Er verrät nichts.«
»Hoffentlich hast du recht.«
Sie wanderten langsam zurück. Diesmal ging Laurel auf dem vertrauten Pfad voran. Am Waldrand blieben sie stehen. »Musst du wirklich schon los?«, fragte Tamani leise.
Laurel war überrascht, wie viel Gefühl in seiner Stimme lag. Während ihrer Unterhaltung hatte sie gemerkt, dass er sie mochte – sehr sogar. Doch dies sah nach mehr aus; es schien sehr persönlich zu sein. Zu ihrem Erstaunen stellte sie fest, dass sie auch nur ungern ging. »Meine Eltern wissen nicht mal, dass ich hier bin. Ich habe mich einfach davongeschlichen.«
Tamani nickte. »Du wirst mir fehlen«, flüsterte er.
Laurel lachte nervös. »Du kennst mich doch kaum.«
»Ich werde dich trotzdem vermissen.« Ihre Blicke trafen sich. »Wenn ich dir etwas gebe, das dich an mich erinnert – behältst du es dann? Denkst du dann vielleicht ein bisschen mehr an mich?«
»Vielleicht.« Tamanis dunkelgrüne Augen schienen sie zu durchschauen.
Er löste eine dünne Kette von seinem Hals und hielt ihr ein glänzendes rundes Ding hin.
»Das ist für dich.«
Er legte ihr das winzige funkelnde Schmuckstück auf die Hand. Es war ein glänzender Goldreif, knapp größer als eine Erbse, mit einer Miniaturblume aus Kristall obendrauf. »Was ist das?«, fragte Laurel bewundernd.
»Das ist ein Ring für einen Setzling«, antwortete Tamani. »Für ein Elfenbaby. Jeder Setzling bekommt einen Ring, wenn er jung ist. Wenn du ihn trägst, wächst er mit. Die Winterelfen machen diese Ringe. Also, die Frühlingselfen stellen sie her, aber die Winterelfen verzaubern sie.« Er hielt die Hand hoch, um ihr einen schlichten Silberring zu zeigen. »Hier, das ist meiner. Er war auch mal so klein wie der da. Du bist kein Setzling mehr, deshalb passt er nicht mehr an deinen Finger, aber ich dachte, er wird dir gefallen.«
Der winzige Ring war kostbar und wunderschön. »Warum schenkst du ihn mir?«
»Damit du dich mehr wie eine von uns fühlst. Du kannst ihn an einer Kette tragen.« Zögernd fügte er hinzu: »Ich finde einfach, du solltest ihn haben.«
Laurel sah ihn fragend an, aber er mied ihren Blick. Sie wünschte, sie hätte mehr Zeit, um ihm weitere Geheimnisse aus der Nase zu ziehen. »Ich werde ihn immer tragen«, sagte sie.
»Und an mich denken?« Sein Blick hielt sie umfangen, und sie wusste, es gab nur eine einzige Antwort.
»Ja.«
»Gut.«
»Gut.«
Sie wollte schon losrennen, aber bevor sie gehen konnte, packte Tamani sie am Handgelenk. Ohne den Blickkontakt zu lösen, hob er ihre Hand an sein Gesicht und fuhr mit seinen Lippen über ihre Finger. Einen winzigen Augenblick war er nicht auf der Hut, und Laurel durchfuhr es wie ein Blitz, als sie das wilde, ungezähmte Begehren in seinen Augen sah. Im nächsten Moment lächelte er wieder und ließ sie gehen.
Auf dem Weg zum Fahrrad kam Laurels Atem noch immer stoßweise, während sie die hitzige Röte einzudämmen versuchte, die von dort, wo Tamanis Lippen sie berührt hatten, in ihren ganzen Körper ausstrahlte. Sie sah sich immer wieder um, als sie zur Straße radelte. Jedes Mal wenn sie sich umdrehte, sah er sie unverwandt an. Sie spürte seinen Blick noch lange nachdem sie ihn aus den Augen verloren hatte, sogar noch auf dem Fahrradweg neben der großen Straße.