Achtzehn
Davids Optimismus zum Trotz wurden
aus der einen Woche zwei und Laurels Vater ging es immer noch nicht
besser. Laurel bewegte sich wie ein Gespenst durch ihr Leben und
sprach mit kaum jemandem außer Maddie, David und Chelsea, die
häufig einfach so in der Buchhandlung vorbeikam. Sie hatten Chelsea
bisher nicht richtig ans Arbeiten bekommen – sie witzelte, sie wäre
die geborene Aufseherin -, aber es tröstete Laurel, wenn ihre
beiden Freunde bei ihr waren.
Wie versprochen war David wild entschlossen, so
lange in der Buchhandlung auszuhelfen, bis Laurels Vater wieder zu
Hause war. Laurel fühlte sich schuldig, weil er immer weiter ohne
Bezahlung arbeitete, obwohl kein Ende absehbar war. Doch bei
Diskussionen über dieses Thema verlor sie jedes Mal.
An manchen Tagen, wenn sie sich nachmittags beim
Sortieren und Abstauben der Bücher unterhielten, gelang es Laurel,
ihren Vater für kurze Zeit zu vergessen. Aber die Sorgen kamen
immer rasch zurück. Seit er verlegt worden war, konnte sie ihn
nicht mehr täglich besuchen. Als David jedoch endlich seinen
Führerschein
bekam, bot er ihr an, sie alle zwei, drei Tage hinzufahren.
Am ersten Tag nach der Prüfung fuhr er mit ihr und
Chelsea nach Brookings, und obwohl Laurel sich an ihren Gurt
klammerte und Chelsea ihm jedes Mal Vorträge hielt, wenn er zu
schnell fuhr, kamen sie heil an.
Laurel hatte Blumen mitgebracht, die sie im Garten
gepflückt hatte. Sie hoffte, dass diese Erinnerung an zu Hause
ihren Vater anspornen würde, zurückzukommen. Er war sehr schwach
und konnte die Augen nur wenige Minuten offen halten, um sie zu
begrüßen und sich ganz sachte umarmen zu lassen. Dann sank er in
die Vergessenheit zurück, die das Morphium ihm bescherte.
Dies war das letzte Mal gewesen, dass Laurel ihren
Vater in wachem Zustand gesehen hatte. Kurz darauf begann das
Krankenhauspersonal, ihn rund um die Uhr betäubt zu halten, um ihm
die Schmerzen zu ersparen, die nicht einmal Morphium vollständig
ausschalten konnte. Insgeheim war Laurel froh darüber. Es war
einfacher, ihn im Schlaf zu betrachten. Er wirkte friedlich und
zufrieden. Als er noch wach war, musste sie zusehen, wie er
versuchte, seine Schmerzen zu verbergen. Außerdem war es
schrecklich anzusehen, wie schwach er geworden war. Im Schlaf sah
er besser aus.
Dem Labortechniker war es gelungen, einen Giftstoff
im Blut ihres Vaters zu isolieren, aber es handelte sich um einen
Stoff, den die Ärzte noch nie gesehen hatten und den sie bis jetzt
zumindest nicht behandeln
konnten. Sie scheuten keine Mühe und verabreichten ihm alle
Chemikalien, von denen sie hofften, dass sie die Wirkung des Gifts
aufheben würden. Er wurde zu einem menschlichen Versuchskaninchen.
Doch es half alles nichts. Er wurde immer schwächer, und die Ärzte
baten Laurels Mutter aus dem Zimmer, um sie darüber zu informieren,
dass sie zwar weiterhin alles tun würden. Doch wenn sie das Gift
nicht aus seinem Körper bekamen, wäre es nur noch eine Frage der
Zeit, bis seine Organe versagten, eins nach dem anderen.
Es gab Laurel den Rest, dass Mr Barnes jeden Abend
anrief. Über eine Woche lang konnte Laurel ihn damit abwimmeln,
dass ihre Mutter nicht zu Hause war, aber danach wollte er nichts
mehr davon hören. Nachdem er sie zweimal geradezu verhört hatte,
ließ Laurel den Anrufbeantworter laufen und nahm nur ab, wenn David
oder Chelsea anriefen.
Ihrer Mutter sagte sie nichts.
Jeden Abend fühlte sie sich schuldig, wenn sie
seine Nachrichten löschte, aber sie hatte Tamani versprochen zu
tun, was sie konnte.
Es fühlte sich merkwürdig an, in dieser Zeit an
Tamani zu denken. Er kam ihr beinahe vor wie ein Traum. Wie ein
überlebensgroßes Wesen, das zu der glitzernd aufregenden Zeit
gehörte, in der sie begriffen hatte, dass sie eine Elfe war. Doch
all das schien nicht mehr wichtig zu sein. Hin und wieder dachte
sie daran, zu ihm zu fahren, aber selbst wenn jemand sie hätte
hinfahren können, was konnte er schon machen?
Lockungen konnten ihrem Vater bestimmt nicht helfen.
Sie hatte versprochen, ihn zu warnen, wenn das
Grundstück ernsthaft in Gefahr war, aber das war nicht der Fall, da
sie Mr Barnes’ Nachrichten löschte. In letzter Zeit versuchte sie
deshalb, so wenig wie möglich an Tamani zu denken.
Als sie von der Buchhandlung nach Hause
zurückkehrte, hörte sie schon von draußen das schrille Klingeln des
Telefons und beeilte sich, die Tür aufzuschließen. Beim sechsten
Klingeln nahm sie ab und hörte die Stimme ihrer Mutter. »Hallo,
Mom. Wie geht es Dad heute?«
Die Leitung blieb still.
»Mom?«
Sie hörte, wie ihre Mutter keuchend Luft holte. Als
sie wieder sprechen konnte, sagte sie mit bebender Stimme: »Ich
habe gerade mit Dr. Hansen gesprochen. Es gibt Anzeichen für ein
Herzversagen. Sie geben ihm nicht mal mehr eine Woche.«
David schwieg, als er im Dunkeln über die Autobahn
fuhr. Laurel hatte ihn auf seinem Handy erreicht, als er gerade bei
sich zu Hause ankam, und er hatte darauf bestanden, sie noch am
Abend nach Brookings zu bringen, statt bis zum nächsten Morgen zu
warten. Laurel hatte die Scheibe heruntergekurbelt, und obwohl
David bei dem eiskalten Herbstwind bestimmt schrecklich fror,
protestierte er nicht. Hin und wieder warf er
ihr einen raschen Blick zu oder streckte eine Hand aus und strich
ihr über den Arm. Doch er sprach kein Wort.
Nachdem sie den Wagen auf dem Parkplatz des
Krankenhauses von Brookings abgestellt hatten, nahm David Laurels
Hand, während sie den vertrauten Weg zum Zimmer von Laurels Vater
einschlugen. Laurel klopfte sanft an die offene Tür und streckte
den Kopf durch den Vorhang, der den Eingang abschirmte. Ihre Mutter
saß mit einem Mann, der ihnen den Rücken zukehrte, an einem kleinen
Tisch, aber sie winkte Laurel und David ins Zimmer.
Laurel erkannte den Mann sofort. Er hatte breite
Schultern und einen so massigen Körper, dass er nicht richtig in
das Hemd passte. Irgendetwas an ihm machte sie außerordentlich
nervös. Es war Barnes.
Laurel lehnte sich mit verschränkten Armen an die
Wand, während ihre Mutter die Unterhaltung mit Barnes fortsetzte.
Sie nickte und lächelte mehrmals, und obwohl Laurel kein Wort von
dem verstand, was der Mann sagte, wiederholte ihre Mutter die ganze
Zeit: »Oh ja« und »selbstverständlich«, wozu sie begeistert nickte.
Laurel sah mit schmalen Augen zu, wie ihre Mutter lächelte und
nickte und Dokumente unterschrieb, ohne auch nur hinzusehen. Das
Ganze war sehr seltsam.
Laurels Mutter hatte etwas gegen Verträge, sie
traute dem Juristenjargon nicht. Ständig beklagte sie sich über
Formulare und Vereinbarungen und strich gerne einiges durch, bevor
sie unterschrieb. Doch jetzt musste
Laurel mitansehen, wie sie acht Schriftstücke unterschrieb, ohne
ein einziges Wort zu lesen.
Mr Barnes hatte sich nicht einmal nach ihnen
umgesehen.
Laurels Haut begann zu kribbeln, und sie drückte
Davids Hand, als Mr Barnes weitere Unterschriften einsammelte,
ihrer Mutter einen Stapel Papiere überreichte und den Rest in
seinen Aktenkoffer packte. Er schüttelte ihr die Hand und drehte
sich um, wobei er Laurel direkt in die Augen schaute. Sein Blick
zuckte von Laurel zu David und wieder zurück zu ihr. Dann grinste
er so gemein, dass Laurel unwillkürlich einen Schritt
zurücktrat.
»Laurel«, sagte er mit einer Stimme, die Laurel
unglaublich falsch vorkam, »ich hatte nach dir gefragt. Wie es
scheint, ist keine meiner Nachrichten angekommen.« Er beendete den
Satz mit einem leisen Knurren und Laurel biss vor ungekannter Angst
die Zähne zusammen.
Dann zuckte Barnes mit den Schultern und sah sie
selbstzufrieden an. »Glücklicherweise habe ich deine Mom auch
allein gefunden, sodass nun alles geregelt ist.«
Laurel sagte nichts. Sie sah ihn nur böse an,
während sie wünschte, David und sie wären eine Stunde früher
gekommen. Dann hätten sie … ja was? Sie hatte keine Ahnung, aber
sie wünschte, sie wüsste es. »Hat mich sehr gefreut, dich
wiederzusehen, Laurel.« Er warf ihrer Mutter einen kurzen Blick zu.
Sie lächelte
noch immer. »Ihre Tochter ist …« Er brach ab und streckte eine
Hand nach Laurel aus. Sie wollte zurückweichen, stand aber schon
mit dem Rücken zur Wand. Sie wandte das Gesicht ab, doch er strich
ihr mit seinen rauen Fingern über die Wange. »Hübsch«, sagte er
abschließend.
Als er den Vorhang zurückschlug und ging, atmete
Laurel geräuschvoll aus. Sie merkte erst jetzt, dass sie Davids
Hand so festgehalten hatte, dass seine Knöchel weiß waren.
Laurel biss die Zähne zusammen. »Was wollte der
denn hier?«, fragte sie mit bebender Stimme.
Ihre Mutter starrte auf den Vorhang, der sich noch
immer bauschte, obwohl der Mann längst gegangen war. »Was?«, fragte
sie und drehte sich zu Laurel und David um. »Ach, äh …« Sie ging zu
dem Tisch und ordnete die Dokumente zu einem Stapel. »Er war hier,
um den Kaufvertrag für unser Grundstück in Orick
abzuschließen.«
»Mom, du hast mir versprochen, darüber
nachzudenken.«
»Habe ich auch. Und anscheinend hast du
beschlossen, mir das Denken teilweise abzunehmen«, sagte sie und
schaute Laurel bedeutsam an. »Von jetzt an übermittelst du mir
sämtliche Nachrichten, verstanden?«
Laurel starrte auf den Boden. »Ja, Mom«, erwiderte
sie leise.
Ihre Mutter schaute auf den Haufen Papier hinunter,
der auf dem Tischchen lag, und strich über die
Ränder, um die bereits geordneten Dokumente zu glätten. »Ich hatte
mich sogar dazu durchgerungen, dass wir es irgendwie schaffen
würden, wenn du das Grundstück unbedingt in der Familie halten
willst.« Hoffnung durchflutete Laurel. Vielleicht war es doch noch
nicht zu spät! »Doch das geht jetzt nicht mehr.« Ihre Mutter
schwieg lange, und als sie weitersprach, klang ihre Stimme dünn und
angespannt. »Als er hier auftauchte, hat er sein Angebot erhöht.«
Laurels Mutter hob den Blick und sah ihr in die Augen. »Ich musste
es annehmen.«
Laurel drehte sich beinahe der Magen um, und ihr
Atem wurde schwer, so sehr fürchtete sie sich davor, das Grundstück
zu verlieren, Tamani zu verlieren. »Mom, du darfst nicht
verkaufen!«, rief sie laut und schrill. Da verhärtete sich der
Blick ihrer Mutter. Sie warf einen kurzen Blick auf ihren Mann,
ging zwei Schritte auf Laurel zu und packte sie am Arm. Das Mädchen
fühlte sich schwach im festen Griff der Mutter; sie konnte sich
nicht daran erinnern, dass sie sie jemals so grob behandelt hatte.
Ihre Mutter schob sie in eine schmale Nische und ließ ihren Arm
los. Laurel musste sich zwingen, die Stelle nicht zu reiben.
»Es geht nicht nur um dich, Laurel. Ich kann nicht
an etwas so Wertvollem festhalten, nur weil du es schön findest. So
läuft das Leben nicht.« Der Gesichtsausdruck ihrer Mutter war
nervös und spitz.
Laurel stand mit dem Rücken zur Wand und ließ die
Predigt ihrer Mutter über sich ergehen. Seit Wochen
war sie der Fels in der Brandung gewesen, aber solchen Stress
hielt niemand aus, ohne ab und zu zusammenzubrechen.
»Es tut mir leid«, flüsterte Laurel. »Ich hätte
dich nicht anschreien dürfen.«
Ihre Mutter holte tief Luft, blieb stehen und sah
sie an. Langsam entspannte sich ihr Gesicht, bis sie sich in Tränen
auflöste. Sie ging rückwärts zur Wand und glitt sachte auf den
Boden, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. Laurel ging
zu ihr und setzte sich neben sie. Sie legte ihr einen Arm um die
Taille und schmiegte den Kopf an ihre Schulter. Es fühlte sich
seltsam an, die eigene Mutter zu trösten.
»Habe ich dir am Arm wehgetan?«, fragte ihre
Mutter, nachdem der Ansturm der Tränen versiegt war.
»Nein«, log Laurel.
Ihre Mutter seufzte tief. »Ich habe wirklich
darüber nachgedacht, nicht zu verkaufen, Laurel. Aber mir bleibt
keine Wahl mehr. Wir ersticken unter Schulden wegen der
Krankenhausrechnungen.«
»Sind wir nicht versichert?«
Ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Jedenfalls nicht
gut genug. Wir dachten immer, so was brauchen wir nicht. Aber bei
so vielen Untersuchungen und so viel Pflege sind die Rechnungen
einfach unermesslich hoch.«
»Gibt es keine andere Möglichkeit?«
»Ich wünschte, es gäbe eine. Ich habe mir das Hirn
zermartert, aber wir bekommen nirgendwo mehr Geld
her. Wir haben die Wahl zwischen der Buchhandlung und dem
Grundstück. Und unter uns: Das Grundstück ist viel mehr wert. Wir
haben den Kredit weit überzogen, um das alles zu bezahlen. Jetzt
leiht uns niemand mehr etwas.« Sie wandte sich Laurel zu. »Ich muss
vernünftig sein. In Wahrheit ist es so«, sie brach ab, weil ihr
wieder die Tränen kamen, »vielleicht wacht dein Vater nie wieder
auf. Nie wieder. Ich muss in die Zukunft blicken. Der Laden ist
unsere einzige Einnahmequelle. Und selbst wenn er wieder aufwacht,
können wir uns von einem solchen finanziellen Desaster nicht
erholen, ohne irgendetwas zu verkaufen. Du weißt, wie viel das
Geschäft deinem Vater bedeutet. Was würdest du mir raten?«
Laurel konnte die traurigen braunen Augen ihrer
Mutter eigentlich nicht mehr ertragen, aber sie konnte nicht
wegsehen. Sie drängte Tamani aus ihren Gedanken und versuchte,
vernünftig zu denken. Entschlossen schob sie das Kinn vor und sagte
mit einem Nicken: »Du musst das Grundstück verkaufen.«
Das Gesicht ihrer Mutter war hager, ihre Augen
verschattet. Sie hob die Hand und strich Laurel über die linke
Wange. »Ich danke dir für dein Verständnis. Ich wünschte, ich hätte
die Wahl, aber ich kann es mir definitiv nicht aussuchen. Morgen
früh kommt Mr Barnes mit weiteren Dokumenten wieder und dann ist es
amtlich. Er will den Vertrag so schnell wie möglich notariell
beglaubigen lassen, sodass das Geld mit ein bisschen Glück in einer
Woche auf unserem Konto ist.«
»In einer Woche?« Es ging alles so schnell.
Ihre Mutter nickte.
Laurel musste noch etwas loswerden. »Du hast dich
ziemlich seltsam benommen, als er da war. Du hast die ganze Zeit
gestrahlt und zu allem Ja gesagt.«
Ihre Mutter sah sie skeptisch an. »Das war mein
Geschäftsgesicht. Ich möchte einfach nicht, dass dieser Verkauf
noch durch irgendwas behindert wird. Mr Barnes hat
siebenhundertfünfzigtausend geboten. Damit könnten wir die
Arztrechnungen bezahlen und hätten noch etwas übrig.« Sie seufzte.
»Ich habe keine Ahnung, warum er so viel bietet, doch ich möchte
verkaufen, solange der Preis so hoch ist.«
»Aber du hast alles unterschrieben, was er dir
vorgelegt hat«, fuhr Laurel fort. »Du hast es nicht einmal
gelesen.«
Ihre Mutter nickte traurig. »Ich weiß. Mir fehlt
einfach die Zeit. Ich möchte dieses Angebot ergreifen, solange es
auf dem Tisch liegt. Wenn ich es wieder hinauszögere, findet er uns
womöglich zu wischiwaschi und zieht das Angebot zurück.«
»Das ist bestimmt nicht dumm«, sagte Laurel. »Aber
…«
»Bitte sag nichts mehr, Laurel. Ich kann mich jetzt
nicht mit dir streiten.« Sie nahm Laurels Hand. »Du musst mir
vertrauen, ich versuche, das Beste zu tun. Okay?«
Laurel nickte widerwillig.
Ihre Mutter stand vom Boden auf und wischte sich
die letzten Tränenspuren ab. Dann zog sie Laurel hoch und umarmte
sie. »Wir schaffen das«, versprach sie. »Egal was passiert, wir
finden immer einen Weg.«
Als sie ins Zimmer ihres Vaters zurückkehrten,
wanderte Laurels Blick zu dem Stuhl, auf dem Mr Barnes gesessen
hatte. Es passte gar nicht zu ihr, jemanden so entschieden
abzulehnen, den sie gar nicht kannte. Doch allein bei der
Vorstellung, auf dem gleichen Stuhl zu sitzen wie er, bekam sie
eine Gänsehaut. Sie ging zum Tisch und sah sich seine Visitenkarte
an.
Jeremiah Barnes, Makler.
Darunter stand eine Adresse in der Stadt.
Die Karte wirkte seriös, aber Laurel war nicht
überzeugt. Sie steckte die Visitenkarte in die Hosentasche und ging
zu David. »Hast du Hunger, David?«, fragte sie und sah ihn
vielsagend an.
Er konnte ihr nicht folgen. »Eigentlich
nicht.«
Sie trat näher und krallte sich hinten in seinem
Hemd fest. »Mom, ich gehe kurz mit David essen. In ein paar Stunden
sind wir zurück.«
Ihre Mutter sah sie leicht überrascht an. »Es ist
schon nach neun.«
»David hat Hunger«, sagte sie.
»Wie ein Wolf«, bestätigte David mit einem
Lächeln.
»Und er hat mich hergefahren, obwohl morgen Schule
ist«, fügte Laurel hinzu.
Laurels Mutter sah sie zweifelnd an, widmete sich
dann aber wieder ihrem schlafenden Mann. »Geht bloß
nicht in die Cafeteria.« Mit dieser Warnung entließ sie die
beiden.
»Warum machen wir das hier noch mal?«, fragte
David, nachdem sie auf der Suche nach dem richtigen Stadtteil
ungefähr eine Stunde lang herumgefahren waren.
»David, irgendwas stimmt mit dem Typen nicht. Das
spüre ich ganz genau.«
»In Ordnung, aber findest du es nicht heftig, wenn
wir uns zu seinem Büro schleichen und durchs Fenster
glotzen?«
»Hast du einen besseren Vorschlag? Soll ich ihn
etwa anrufen und fragen, warum er mir so unheimlich ist? Das
funktioniert bestimmt«, murmelte Laurel.
»Und was willst du den Bullen sagen, wenn sie uns
verhaften?«, fragte David mit einem Anflug von Ironie.
»Jetzt stell dich nicht so an«, sagte Laurel. »Es
ist dunkel, wir gehen einmal um sein Büro herum, gucken durch ein
paar Fenster und sehen nach, ob alles seriös wirkt.« Nach einer
Pause fuhr sie fort: »Und wenn da ein Fenster aufsteht, ist das
schließlich nicht meine Schuld.«
»Du bist knatschverrückt.«
»Kann sein, aber mitgegangen, mitgehangen.«
David verdrehte die Augen.
»Wir sind in der richtigen Straße, ›Sea Cliff‹«,
sagte Laurel plötzlich. »Mach die Scheinwerfer aus.«
David seufzte, fuhr aber rechts ran und machte das
Licht aus. Sie rollten langsam bis ans Ende der Sackgasse
und hielten vor einem baufälligen Haus, das aussah, als wäre es im
frühen 20. Jahrhundert erbaut worden.
»Das ist es«, flüsterte Laurel, die mit
zusammengekniffenen Augen die Hausnummern in der Kurve und auf der
Visitenkarte verglich. David musterte das imposante Gebäude. »So
ein Maklerbüro habe ich noch nie gesehen. Es sieht völlig verlassen
aus.«
»Dann ist die Chance, erwischt zu werden, umso
kleiner. Jetzt komm schon!«
David zog die Jacke enger, als sie um das Haus
herumschlichen und durch die Fenster spähten. Es war Neumond und
dunkel, aber Laurel hatte trotzdem das Gefühl, dass sie in ihrem
hellblauen T-Shirt viel zu gut zu sehen war. Sie wünschte, sie
hätte ihre schwarze Jacke nicht im Auto gelassen. Doch wenn sie
jetzt umdrehte, fände sie vielleicht nicht mehr den Mut, hierher
zurückzukehren.
Das Haus war riesig und breitete sich über mehrere,
etwas jüngere Anbauten aus, die wie Anhängsel vom Hauptgebäude
abgingen. Als Laurel und David durch die Fenster lugten, entdeckten
sie vereinzelt schattige Formen in den dunklen Räumen – »alte
Möbel«, wie David ihr versicherte -, aber das Haus war
weitestgehend leer. »Hier kann man gar keine Geschäfte machen«,
sagte David. »Wie kommt der Mann dazu, so eine Adresse auf seine
Visitenkarte zu schreiben?«
»Weil er etwas zu verbergen hat«, flüsterte Laurel
zurück. »Ich habe es gewusst.«
»Laurel, meinst du nicht, dass uns die Sache über
den Kopf wächst? Lass uns zum Krankenhaus zurückfahren und die
Polizei rufen.«
»Und was sollen wir sagen? Dass ein Makler eine
falsche Adresse auf seiner Visitenkarte angegeben hat? Das ist doch
kein Verbrechen.«
»Wir könnten es deiner Mom sagen.«
Laurel schüttelte den Kopf. »Sie will unbedingt
verkaufen. Du hast sie doch mit diesem Barnes gesehen. Der hat sie
in eine Art Trance versetzt. Sie hat nur noch gelächelt und war mit
allem einverstanden, was er ihr erzählt hat. So habe ich sie noch
nie erlebt. Wer weiß, was sie da unterschrieben hat!« Laurel spähte
um die Ecke eines besonders schiefen Anbaus und winkte David, ihr
zu folgen. »Da ist ein Licht.«
Rasch ging David neben ihr in die Hocke.
Allerdings, in Richtung Hinterhaus fiel Licht durch ein kleines
Fenster. Laurel erschauerte.
»Ist dir kalt?«
»Die Nerven!«
»Hast du es dir anders überlegt?«
»Nein, nein.« Sie schlich weiter, bemühte sich,
großen Ästen und dem überall verstreuten Müll auszuweichen. Das
Fenster war so niedrig, dass sie hineinsehen konnten, wenn sie auf
dem Boden knieten. Laurel und David gingen rechts und links davon
in Position. Rollläden hingen vor dem Fenster, aber sie waren so
windschief, dass man hindurchsehen konnte. Von drinnen hörten sie
Stimmen und Bewegung, konnten aber
nichts verstehen, solange das Fenster geschlossen war. Laurel
atmete mehrmals tief durch und schaute dann durchs Fenster.
Jeremiah Barnes, mit seiner massigen Figur und dem
seltsamen Gesicht, geriet beinahe sofort in ihr Blickfeld. Er saß
an einem Tisch und arbeitete an den Dokumenten, die er vermutlich
am Morgen ihrer Mutter zur Unterschrift vorlegen wollte. Außerdem
standen zwei weitere Männer nebeneinander und spielten Darts.
Barnes war schon nicht gerade attraktiv, aber diese beiden sahen
geradezu grotesk aus. Die Haut hing an ihren Gesichtern herunter,
als passte sie nicht richtig, und ihre Lippen waren zu bitterem
Grinsen verzerrt. Das Gesicht des einen war eine Katastrophe aus
Narben und Verfärbungen, und selbst aus der Entfernung konnte sie
sehen, dass ein Auge fast weiß, das andere schwarz war. Der andere
hatte hellrote Haare, die nur büschelweise wuchsen, was nicht
einmal sein Hut verbergen konnte
»Laurel?« David winkte sie von seiner Seite des
Fensters zu sich. Sie duckte sich unter dem Fenster durch und lugte
von der anderen Seite ins Zimmer. »Was zum Teufel ist das?«
Gegenüber war ein Wesen angekettet, halb Mensch,
halb Tier. Sein Gesicht bestand aus verdrehten Fleischklumpen, die
beliebig zusammengesetzt waren. Große, krumme Zähne ragten in einem
mächtigen Kiefer über die Unterlippe. Darüber wölbte sich ein
wulstiges Ungetüm, vielleicht eine Nase. Das Wesen erinnerte vage
an einen Menschen, mit Stofffetzen um Schultern und Bauch. Doch um
seinen geäderten Hals lag ein Halsband, was es wie ein bizarres
Haustier wirken ließ. Die ungeschlachte Gestalt lümmelte sich auf
einem schmutzigen Vorleger und schien zu schlafen.
Laurel grub ihre Fingernägel in das Fenstersims,
als sie das Wesen anstarrte. Sie bekam kaum noch Luft und konnte
dennoch nicht wegsehen. Als sie gerade glaubte, genug Mut
aufzubringen, um den Kopf abzuwenden, klappte das Wesen ein blaues
Auge auf und sah sie direkt an.