Achtzehn
Davids Optimismus zum Trotz wurden aus der einen Woche zwei und Laurels Vater ging es immer noch nicht besser. Laurel bewegte sich wie ein Gespenst durch ihr Leben und sprach mit kaum jemandem außer Maddie, David und Chelsea, die häufig einfach so in der Buchhandlung vorbeikam. Sie hatten Chelsea bisher nicht richtig ans Arbeiten bekommen – sie witzelte, sie wäre die geborene Aufseherin -, aber es tröstete Laurel, wenn ihre beiden Freunde bei ihr waren.
Wie versprochen war David wild entschlossen, so lange in der Buchhandlung auszuhelfen, bis Laurels Vater wieder zu Hause war. Laurel fühlte sich schuldig, weil er immer weiter ohne Bezahlung arbeitete, obwohl kein Ende absehbar war. Doch bei Diskussionen über dieses Thema verlor sie jedes Mal.
An manchen Tagen, wenn sie sich nachmittags beim Sortieren und Abstauben der Bücher unterhielten, gelang es Laurel, ihren Vater für kurze Zeit zu vergessen. Aber die Sorgen kamen immer rasch zurück. Seit er verlegt worden war, konnte sie ihn nicht mehr täglich besuchen. Als David jedoch endlich seinen Führerschein bekam, bot er ihr an, sie alle zwei, drei Tage hinzufahren.
Am ersten Tag nach der Prüfung fuhr er mit ihr und Chelsea nach Brookings, und obwohl Laurel sich an ihren Gurt klammerte und Chelsea ihm jedes Mal Vorträge hielt, wenn er zu schnell fuhr, kamen sie heil an.
Laurel hatte Blumen mitgebracht, die sie im Garten gepflückt hatte. Sie hoffte, dass diese Erinnerung an zu Hause ihren Vater anspornen würde, zurückzukommen. Er war sehr schwach und konnte die Augen nur wenige Minuten offen halten, um sie zu begrüßen und sich ganz sachte umarmen zu lassen. Dann sank er in die Vergessenheit zurück, die das Morphium ihm bescherte.
Dies war das letzte Mal gewesen, dass Laurel ihren Vater in wachem Zustand gesehen hatte. Kurz darauf begann das Krankenhauspersonal, ihn rund um die Uhr betäubt zu halten, um ihm die Schmerzen zu ersparen, die nicht einmal Morphium vollständig ausschalten konnte. Insgeheim war Laurel froh darüber. Es war einfacher, ihn im Schlaf zu betrachten. Er wirkte friedlich und zufrieden. Als er noch wach war, musste sie zusehen, wie er versuchte, seine Schmerzen zu verbergen. Außerdem war es schrecklich anzusehen, wie schwach er geworden war. Im Schlaf sah er besser aus.
Dem Labortechniker war es gelungen, einen Giftstoff im Blut ihres Vaters zu isolieren, aber es handelte sich um einen Stoff, den die Ärzte noch nie gesehen hatten und den sie bis jetzt zumindest nicht behandeln konnten. Sie scheuten keine Mühe und verabreichten ihm alle Chemikalien, von denen sie hofften, dass sie die Wirkung des Gifts aufheben würden. Er wurde zu einem menschlichen Versuchskaninchen. Doch es half alles nichts. Er wurde immer schwächer, und die Ärzte baten Laurels Mutter aus dem Zimmer, um sie darüber zu informieren, dass sie zwar weiterhin alles tun würden. Doch wenn sie das Gift nicht aus seinem Körper bekamen, wäre es nur noch eine Frage der Zeit, bis seine Organe versagten, eins nach dem anderen.
Es gab Laurel den Rest, dass Mr Barnes jeden Abend anrief. Über eine Woche lang konnte Laurel ihn damit abwimmeln, dass ihre Mutter nicht zu Hause war, aber danach wollte er nichts mehr davon hören. Nachdem er sie zweimal geradezu verhört hatte, ließ Laurel den Anrufbeantworter laufen und nahm nur ab, wenn David oder Chelsea anriefen.
Ihrer Mutter sagte sie nichts.
Jeden Abend fühlte sie sich schuldig, wenn sie seine Nachrichten löschte, aber sie hatte Tamani versprochen zu tun, was sie konnte.
Es fühlte sich merkwürdig an, in dieser Zeit an Tamani zu denken. Er kam ihr beinahe vor wie ein Traum. Wie ein überlebensgroßes Wesen, das zu der glitzernd aufregenden Zeit gehörte, in der sie begriffen hatte, dass sie eine Elfe war. Doch all das schien nicht mehr wichtig zu sein. Hin und wieder dachte sie daran, zu ihm zu fahren, aber selbst wenn jemand sie hätte hinfahren können, was konnte er schon machen? Lockungen konnten ihrem Vater bestimmt nicht helfen.
Sie hatte versprochen, ihn zu warnen, wenn das Grundstück ernsthaft in Gefahr war, aber das war nicht der Fall, da sie Mr Barnes’ Nachrichten löschte. In letzter Zeit versuchte sie deshalb, so wenig wie möglich an Tamani zu denken.
Als sie von der Buchhandlung nach Hause zurückkehrte, hörte sie schon von draußen das schrille Klingeln des Telefons und beeilte sich, die Tür aufzuschließen. Beim sechsten Klingeln nahm sie ab und hörte die Stimme ihrer Mutter. »Hallo, Mom. Wie geht es Dad heute?«
Die Leitung blieb still.
»Mom?«
Sie hörte, wie ihre Mutter keuchend Luft holte. Als sie wieder sprechen konnte, sagte sie mit bebender Stimme: »Ich habe gerade mit Dr. Hansen gesprochen. Es gibt Anzeichen für ein Herzversagen. Sie geben ihm nicht mal mehr eine Woche.«
 
David schwieg, als er im Dunkeln über die Autobahn fuhr. Laurel hatte ihn auf seinem Handy erreicht, als er gerade bei sich zu Hause ankam, und er hatte darauf bestanden, sie noch am Abend nach Brookings zu bringen, statt bis zum nächsten Morgen zu warten. Laurel hatte die Scheibe heruntergekurbelt, und obwohl David bei dem eiskalten Herbstwind bestimmt schrecklich fror, protestierte er nicht. Hin und wieder warf er ihr einen raschen Blick zu oder streckte eine Hand aus und strich ihr über den Arm. Doch er sprach kein Wort.
Nachdem sie den Wagen auf dem Parkplatz des Krankenhauses von Brookings abgestellt hatten, nahm David Laurels Hand, während sie den vertrauten Weg zum Zimmer von Laurels Vater einschlugen. Laurel klopfte sanft an die offene Tür und streckte den Kopf durch den Vorhang, der den Eingang abschirmte. Ihre Mutter saß mit einem Mann, der ihnen den Rücken zukehrte, an einem kleinen Tisch, aber sie winkte Laurel und David ins Zimmer.
Laurel erkannte den Mann sofort. Er hatte breite Schultern und einen so massigen Körper, dass er nicht richtig in das Hemd passte. Irgendetwas an ihm machte sie außerordentlich nervös. Es war Barnes.
Laurel lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand, während ihre Mutter die Unterhaltung mit Barnes fortsetzte. Sie nickte und lächelte mehrmals, und obwohl Laurel kein Wort von dem verstand, was der Mann sagte, wiederholte ihre Mutter die ganze Zeit: »Oh ja« und »selbstverständlich«, wozu sie begeistert nickte. Laurel sah mit schmalen Augen zu, wie ihre Mutter lächelte und nickte und Dokumente unterschrieb, ohne auch nur hinzusehen. Das Ganze war sehr seltsam.
Laurels Mutter hatte etwas gegen Verträge, sie traute dem Juristenjargon nicht. Ständig beklagte sie sich über Formulare und Vereinbarungen und strich gerne einiges durch, bevor sie unterschrieb. Doch jetzt musste Laurel mitansehen, wie sie acht Schriftstücke unterschrieb, ohne ein einziges Wort zu lesen.
Mr Barnes hatte sich nicht einmal nach ihnen umgesehen.
Laurels Haut begann zu kribbeln, und sie drückte Davids Hand, als Mr Barnes weitere Unterschriften einsammelte, ihrer Mutter einen Stapel Papiere überreichte und den Rest in seinen Aktenkoffer packte. Er schüttelte ihr die Hand und drehte sich um, wobei er Laurel direkt in die Augen schaute. Sein Blick zuckte von Laurel zu David und wieder zurück zu ihr. Dann grinste er so gemein, dass Laurel unwillkürlich einen Schritt zurücktrat.
»Laurel«, sagte er mit einer Stimme, die Laurel unglaublich falsch vorkam, »ich hatte nach dir gefragt. Wie es scheint, ist keine meiner Nachrichten angekommen.« Er beendete den Satz mit einem leisen Knurren und Laurel biss vor ungekannter Angst die Zähne zusammen.
Dann zuckte Barnes mit den Schultern und sah sie selbstzufrieden an. »Glücklicherweise habe ich deine Mom auch allein gefunden, sodass nun alles geregelt ist.«
Laurel sagte nichts. Sie sah ihn nur böse an, während sie wünschte, David und sie wären eine Stunde früher gekommen. Dann hätten sie … ja was? Sie hatte keine Ahnung, aber sie wünschte, sie wüsste es. »Hat mich sehr gefreut, dich wiederzusehen, Laurel.« Er warf ihrer Mutter einen kurzen Blick zu. Sie lächelte noch immer. »Ihre Tochter ist …« Er brach ab und streckte eine Hand nach Laurel aus. Sie wollte zurückweichen, stand aber schon mit dem Rücken zur Wand. Sie wandte das Gesicht ab, doch er strich ihr mit seinen rauen Fingern über die Wange. »Hübsch«, sagte er abschließend.
Als er den Vorhang zurückschlug und ging, atmete Laurel geräuschvoll aus. Sie merkte erst jetzt, dass sie Davids Hand so festgehalten hatte, dass seine Knöchel weiß waren.
Laurel biss die Zähne zusammen. »Was wollte der denn hier?«, fragte sie mit bebender Stimme.
Ihre Mutter starrte auf den Vorhang, der sich noch immer bauschte, obwohl der Mann längst gegangen war. »Was?«, fragte sie und drehte sich zu Laurel und David um. »Ach, äh …« Sie ging zu dem Tisch und ordnete die Dokumente zu einem Stapel. »Er war hier, um den Kaufvertrag für unser Grundstück in Orick abzuschließen.«
»Mom, du hast mir versprochen, darüber nachzudenken.«
»Habe ich auch. Und anscheinend hast du beschlossen, mir das Denken teilweise abzunehmen«, sagte sie und schaute Laurel bedeutsam an. »Von jetzt an übermittelst du mir sämtliche Nachrichten, verstanden?«
Laurel starrte auf den Boden. »Ja, Mom«, erwiderte sie leise.
Ihre Mutter schaute auf den Haufen Papier hinunter, der auf dem Tischchen lag, und strich über die Ränder, um die bereits geordneten Dokumente zu glätten. »Ich hatte mich sogar dazu durchgerungen, dass wir es irgendwie schaffen würden, wenn du das Grundstück unbedingt in der Familie halten willst.« Hoffnung durchflutete Laurel. Vielleicht war es doch noch nicht zu spät! »Doch das geht jetzt nicht mehr.« Ihre Mutter schwieg lange, und als sie weitersprach, klang ihre Stimme dünn und angespannt. »Als er hier auftauchte, hat er sein Angebot erhöht.« Laurels Mutter hob den Blick und sah ihr in die Augen. »Ich musste es annehmen.«
Laurel drehte sich beinahe der Magen um, und ihr Atem wurde schwer, so sehr fürchtete sie sich davor, das Grundstück zu verlieren, Tamani zu verlieren. »Mom, du darfst nicht verkaufen!«, rief sie laut und schrill. Da verhärtete sich der Blick ihrer Mutter. Sie warf einen kurzen Blick auf ihren Mann, ging zwei Schritte auf Laurel zu und packte sie am Arm. Das Mädchen fühlte sich schwach im festen Griff der Mutter; sie konnte sich nicht daran erinnern, dass sie sie jemals so grob behandelt hatte. Ihre Mutter schob sie in eine schmale Nische und ließ ihren Arm los. Laurel musste sich zwingen, die Stelle nicht zu reiben.
»Es geht nicht nur um dich, Laurel. Ich kann nicht an etwas so Wertvollem festhalten, nur weil du es schön findest. So läuft das Leben nicht.« Der Gesichtsausdruck ihrer Mutter war nervös und spitz.
Laurel stand mit dem Rücken zur Wand und ließ die Predigt ihrer Mutter über sich ergehen. Seit Wochen war sie der Fels in der Brandung gewesen, aber solchen Stress hielt niemand aus, ohne ab und zu zusammenzubrechen.
»Es tut mir leid«, flüsterte Laurel. »Ich hätte dich nicht anschreien dürfen.«
Ihre Mutter holte tief Luft, blieb stehen und sah sie an. Langsam entspannte sich ihr Gesicht, bis sie sich in Tränen auflöste. Sie ging rückwärts zur Wand und glitt sachte auf den Boden, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. Laurel ging zu ihr und setzte sich neben sie. Sie legte ihr einen Arm um die Taille und schmiegte den Kopf an ihre Schulter. Es fühlte sich seltsam an, die eigene Mutter zu trösten.
»Habe ich dir am Arm wehgetan?«, fragte ihre Mutter, nachdem der Ansturm der Tränen versiegt war.
»Nein«, log Laurel.
Ihre Mutter seufzte tief. »Ich habe wirklich darüber nachgedacht, nicht zu verkaufen, Laurel. Aber mir bleibt keine Wahl mehr. Wir ersticken unter Schulden wegen der Krankenhausrechnungen.«
»Sind wir nicht versichert?«
Ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Jedenfalls nicht gut genug. Wir dachten immer, so was brauchen wir nicht. Aber bei so vielen Untersuchungen und so viel Pflege sind die Rechnungen einfach unermesslich hoch.«
»Gibt es keine andere Möglichkeit?«
»Ich wünschte, es gäbe eine. Ich habe mir das Hirn zermartert, aber wir bekommen nirgendwo mehr Geld her. Wir haben die Wahl zwischen der Buchhandlung und dem Grundstück. Und unter uns: Das Grundstück ist viel mehr wert. Wir haben den Kredit weit überzogen, um das alles zu bezahlen. Jetzt leiht uns niemand mehr etwas.« Sie wandte sich Laurel zu. »Ich muss vernünftig sein. In Wahrheit ist es so«, sie brach ab, weil ihr wieder die Tränen kamen, »vielleicht wacht dein Vater nie wieder auf. Nie wieder. Ich muss in die Zukunft blicken. Der Laden ist unsere einzige Einnahmequelle. Und selbst wenn er wieder aufwacht, können wir uns von einem solchen finanziellen Desaster nicht erholen, ohne irgendetwas zu verkaufen. Du weißt, wie viel das Geschäft deinem Vater bedeutet. Was würdest du mir raten?«
Laurel konnte die traurigen braunen Augen ihrer Mutter eigentlich nicht mehr ertragen, aber sie konnte nicht wegsehen. Sie drängte Tamani aus ihren Gedanken und versuchte, vernünftig zu denken. Entschlossen schob sie das Kinn vor und sagte mit einem Nicken: »Du musst das Grundstück verkaufen.«
Das Gesicht ihrer Mutter war hager, ihre Augen verschattet. Sie hob die Hand und strich Laurel über die linke Wange. »Ich danke dir für dein Verständnis. Ich wünschte, ich hätte die Wahl, aber ich kann es mir definitiv nicht aussuchen. Morgen früh kommt Mr Barnes mit weiteren Dokumenten wieder und dann ist es amtlich. Er will den Vertrag so schnell wie möglich notariell beglaubigen lassen, sodass das Geld mit ein bisschen Glück in einer Woche auf unserem Konto ist.«
»In einer Woche?« Es ging alles so schnell.
Ihre Mutter nickte.
Laurel musste noch etwas loswerden. »Du hast dich ziemlich seltsam benommen, als er da war. Du hast die ganze Zeit gestrahlt und zu allem Ja gesagt.«
Ihre Mutter sah sie skeptisch an. »Das war mein Geschäftsgesicht. Ich möchte einfach nicht, dass dieser Verkauf noch durch irgendwas behindert wird. Mr Barnes hat siebenhundertfünfzigtausend geboten. Damit könnten wir die Arztrechnungen bezahlen und hätten noch etwas übrig.« Sie seufzte. »Ich habe keine Ahnung, warum er so viel bietet, doch ich möchte verkaufen, solange der Preis so hoch ist.«
»Aber du hast alles unterschrieben, was er dir vorgelegt hat«, fuhr Laurel fort. »Du hast es nicht einmal gelesen.«
Ihre Mutter nickte traurig. »Ich weiß. Mir fehlt einfach die Zeit. Ich möchte dieses Angebot ergreifen, solange es auf dem Tisch liegt. Wenn ich es wieder hinauszögere, findet er uns womöglich zu wischiwaschi und zieht das Angebot zurück.«
»Das ist bestimmt nicht dumm«, sagte Laurel. »Aber …«
»Bitte sag nichts mehr, Laurel. Ich kann mich jetzt nicht mit dir streiten.« Sie nahm Laurels Hand. »Du musst mir vertrauen, ich versuche, das Beste zu tun. Okay?«
Laurel nickte widerwillig.
Ihre Mutter stand vom Boden auf und wischte sich die letzten Tränenspuren ab. Dann zog sie Laurel hoch und umarmte sie. »Wir schaffen das«, versprach sie. »Egal was passiert, wir finden immer einen Weg.«
Als sie ins Zimmer ihres Vaters zurückkehrten, wanderte Laurels Blick zu dem Stuhl, auf dem Mr Barnes gesessen hatte. Es passte gar nicht zu ihr, jemanden so entschieden abzulehnen, den sie gar nicht kannte. Doch allein bei der Vorstellung, auf dem gleichen Stuhl zu sitzen wie er, bekam sie eine Gänsehaut. Sie ging zum Tisch und sah sich seine Visitenkarte an.
Jeremiah Barnes, Makler.
Darunter stand eine Adresse in der Stadt.
Die Karte wirkte seriös, aber Laurel war nicht überzeugt. Sie steckte die Visitenkarte in die Hosentasche und ging zu David. »Hast du Hunger, David?«, fragte sie und sah ihn vielsagend an.
Er konnte ihr nicht folgen. »Eigentlich nicht.«
Sie trat näher und krallte sich hinten in seinem Hemd fest. »Mom, ich gehe kurz mit David essen. In ein paar Stunden sind wir zurück.«
Ihre Mutter sah sie leicht überrascht an. »Es ist schon nach neun.«
»David hat Hunger«, sagte sie.
»Wie ein Wolf«, bestätigte David mit einem Lächeln.
»Und er hat mich hergefahren, obwohl morgen Schule ist«, fügte Laurel hinzu.
Laurels Mutter sah sie zweifelnd an, widmete sich dann aber wieder ihrem schlafenden Mann. »Geht bloß nicht in die Cafeteria.« Mit dieser Warnung entließ sie die beiden.
 
»Warum machen wir das hier noch mal?«, fragte David, nachdem sie auf der Suche nach dem richtigen Stadtteil ungefähr eine Stunde lang herumgefahren waren.
»David, irgendwas stimmt mit dem Typen nicht. Das spüre ich ganz genau.«
»In Ordnung, aber findest du es nicht heftig, wenn wir uns zu seinem Büro schleichen und durchs Fenster glotzen?«
»Hast du einen besseren Vorschlag? Soll ich ihn etwa anrufen und fragen, warum er mir so unheimlich ist? Das funktioniert bestimmt«, murmelte Laurel.
»Und was willst du den Bullen sagen, wenn sie uns verhaften?«, fragte David mit einem Anflug von Ironie.
»Jetzt stell dich nicht so an«, sagte Laurel. »Es ist dunkel, wir gehen einmal um sein Büro herum, gucken durch ein paar Fenster und sehen nach, ob alles seriös wirkt.« Nach einer Pause fuhr sie fort: »Und wenn da ein Fenster aufsteht, ist das schließlich nicht meine Schuld.«
»Du bist knatschverrückt.«
»Kann sein, aber mitgegangen, mitgehangen.«
David verdrehte die Augen.
»Wir sind in der richtigen Straße, ›Sea Cliff‹«, sagte Laurel plötzlich. »Mach die Scheinwerfer aus.«
David seufzte, fuhr aber rechts ran und machte das Licht aus. Sie rollten langsam bis ans Ende der Sackgasse und hielten vor einem baufälligen Haus, das aussah, als wäre es im frühen 20. Jahrhundert erbaut worden.
»Das ist es«, flüsterte Laurel, die mit zusammengekniffenen Augen die Hausnummern in der Kurve und auf der Visitenkarte verglich. David musterte das imposante Gebäude. »So ein Maklerbüro habe ich noch nie gesehen. Es sieht völlig verlassen aus.«
»Dann ist die Chance, erwischt zu werden, umso kleiner. Jetzt komm schon!«
David zog die Jacke enger, als sie um das Haus herumschlichen und durch die Fenster spähten. Es war Neumond und dunkel, aber Laurel hatte trotzdem das Gefühl, dass sie in ihrem hellblauen T-Shirt viel zu gut zu sehen war. Sie wünschte, sie hätte ihre schwarze Jacke nicht im Auto gelassen. Doch wenn sie jetzt umdrehte, fände sie vielleicht nicht mehr den Mut, hierher zurückzukehren.
Das Haus war riesig und breitete sich über mehrere, etwas jüngere Anbauten aus, die wie Anhängsel vom Hauptgebäude abgingen. Als Laurel und David durch die Fenster lugten, entdeckten sie vereinzelt schattige Formen in den dunklen Räumen – »alte Möbel«, wie David ihr versicherte -, aber das Haus war weitestgehend leer. »Hier kann man gar keine Geschäfte machen«, sagte David. »Wie kommt der Mann dazu, so eine Adresse auf seine Visitenkarte zu schreiben?«
»Weil er etwas zu verbergen hat«, flüsterte Laurel zurück. »Ich habe es gewusst.«
»Laurel, meinst du nicht, dass uns die Sache über den Kopf wächst? Lass uns zum Krankenhaus zurückfahren und die Polizei rufen.«
»Und was sollen wir sagen? Dass ein Makler eine falsche Adresse auf seiner Visitenkarte angegeben hat? Das ist doch kein Verbrechen.«
»Wir könnten es deiner Mom sagen.«
Laurel schüttelte den Kopf. »Sie will unbedingt verkaufen. Du hast sie doch mit diesem Barnes gesehen. Der hat sie in eine Art Trance versetzt. Sie hat nur noch gelächelt und war mit allem einverstanden, was er ihr erzählt hat. So habe ich sie noch nie erlebt. Wer weiß, was sie da unterschrieben hat!« Laurel spähte um die Ecke eines besonders schiefen Anbaus und winkte David, ihr zu folgen. »Da ist ein Licht.«
Rasch ging David neben ihr in die Hocke. Allerdings, in Richtung Hinterhaus fiel Licht durch ein kleines Fenster. Laurel erschauerte.
»Ist dir kalt?«
»Die Nerven!«
»Hast du es dir anders überlegt?«
»Nein, nein.« Sie schlich weiter, bemühte sich, großen Ästen und dem überall verstreuten Müll auszuweichen. Das Fenster war so niedrig, dass sie hineinsehen konnten, wenn sie auf dem Boden knieten. Laurel und David gingen rechts und links davon in Position. Rollläden hingen vor dem Fenster, aber sie waren so windschief, dass man hindurchsehen konnte. Von drinnen hörten sie Stimmen und Bewegung, konnten aber nichts verstehen, solange das Fenster geschlossen war. Laurel atmete mehrmals tief durch und schaute dann durchs Fenster.
Jeremiah Barnes, mit seiner massigen Figur und dem seltsamen Gesicht, geriet beinahe sofort in ihr Blickfeld. Er saß an einem Tisch und arbeitete an den Dokumenten, die er vermutlich am Morgen ihrer Mutter zur Unterschrift vorlegen wollte. Außerdem standen zwei weitere Männer nebeneinander und spielten Darts. Barnes war schon nicht gerade attraktiv, aber diese beiden sahen geradezu grotesk aus. Die Haut hing an ihren Gesichtern herunter, als passte sie nicht richtig, und ihre Lippen waren zu bitterem Grinsen verzerrt. Das Gesicht des einen war eine Katastrophe aus Narben und Verfärbungen, und selbst aus der Entfernung konnte sie sehen, dass ein Auge fast weiß, das andere schwarz war. Der andere hatte hellrote Haare, die nur büschelweise wuchsen, was nicht einmal sein Hut verbergen konnte
»Laurel?« David winkte sie von seiner Seite des Fensters zu sich. Sie duckte sich unter dem Fenster durch und lugte von der anderen Seite ins Zimmer. »Was zum Teufel ist das?«
Gegenüber war ein Wesen angekettet, halb Mensch, halb Tier. Sein Gesicht bestand aus verdrehten Fleischklumpen, die beliebig zusammengesetzt waren. Große, krumme Zähne ragten in einem mächtigen Kiefer über die Unterlippe. Darüber wölbte sich ein wulstiges Ungetüm, vielleicht eine Nase. Das Wesen erinnerte vage an einen Menschen, mit Stofffetzen um Schultern und Bauch. Doch um seinen geäderten Hals lag ein Halsband, was es wie ein bizarres Haustier wirken ließ. Die ungeschlachte Gestalt lümmelte sich auf einem schmutzigen Vorleger und schien zu schlafen.
Laurel grub ihre Fingernägel in das Fenstersims, als sie das Wesen anstarrte. Sie bekam kaum noch Luft und konnte dennoch nicht wegsehen. Als sie gerade glaubte, genug Mut aufzubringen, um den Kopf abzuwenden, klappte das Wesen ein blaues Auge auf und sah sie direkt an.