Sechzehn
Gerade rechtzeitig«, sagte Laurels Mutter, als sie am nächsten Tag von der Schule kam. »Ein Anruf für dich.«
Laurel ging ans Telefon. Sie hatte sich eben erst an der Ecke von David verabschiedet. Warum sollte er sie jetzt schon wieder anrufen?
»Hallo?«
»Hallo, Laurel. Ich bin’s, Chelsea.«
»Hi«, sagte Laurel.
»Hast du viel zu tun? Es ist so schön draußen, deshalb wollte ich dich fragen, ob du Lust hast, dir den Battery-Point-Leuchtturm anzusehen.«
Laurel hatte von dem Denkmal gehört, war aber noch nicht da gewesen. »Oh ja«, sagte sie, »sehr gerne.«
»Soll ich dich um fünf abholen?«
»Super.«
»Willst du mit David irgendwohin?«, fragte Laurels Mutter, als sie aufgelegt hatte.
»Mit Chelsea. Sie möchte mit mir zum Leuchtturm. Das geht doch, oder?«
»Klar, das ist eine tolle Idee. Ich freue mich, wenn du deine Fühler ausstreckst. Ich mag David sehr, aber es ist immer besser, mehrere Freunde zu haben.«
Laurel ging zum Kühlschrank und öffnete eine Limodose, während sie abwartete.
»Heute waren die Noten für die erste Hälfte des Halbjahrs in der Post«, sagte ihre Mutter.
Die Limo blieb Laurel in der Kehle stecken. Bis zu ihrer Blüte war sie in der Schule gar nicht so schlecht gewesen, aber sie war sich nicht sicher, wie es aussah, seit ihr Leben verrückt spielte.
»Drei Einsen, zwei Zweien, das gefällt mir gut«, sagte ihre Mutter lächelnd. Dann lachte sie und schob hinterher: »Eigentlich bin ich vor allem auf mich selbst stolz, schließlich habe ich dir das Rüstzeug mitgegeben, mit dem du dich jetzt so gut schlägst.«
Laurel verdrehte die Augen, als ihre Mutter ihr die Noten reichte. Die Zwei in Bio kam nicht überraschend, genauso wenig wie die Eins in Englisch. Jetzt musste sie nur noch bis zum Ende des Halbjahrs durchhalten. Das sollte zu schaffen sein. Das Schlimmste lag eindeutig hinter ihr.
»Warum steht Dads Wagen draußen?«, fragte Laurel.
Ihre Mutter seufzte. »Dad ist krank. Schon den ganzen Tag. Er war nicht mal arbeiten.«
»Huch«, sagte Laurel. »Das ist doch schon ewig nicht mehr vorgekommen.«
»Wie recht du hast. Ich habe ihn gezwungen, im Bett zu bleiben. Morgen geht es ihm bestimmt besser.«
In der Einfahrt hupte es.
»Das ist Chelsea«, sagte Laurel und nahm ihre Jacke.
»Viel Spaß«, wünschte ihre Mutter ihr lächelnd.
Als Laurel auf den Rücksitz des Autos glitt, das Chelseas Mutter gehörte, drehte Chelsea sich zu ihr um und strahlte sie an.
»Hey! Der Leuchtturm ist cool, total historisch. Da wird es dir gefallen.«
Chelseas Mutter ließ sie auf dem Parkplatz heraus und sagte: »Ich komme in zwei Stunden wieder.«
»Tschüs«, rief Chelsea und winkte.
»Und jetzt?«, fragte Laurel und schaute aufs Meer.
»Gehen wir zu Fuß«, erwiderte Chelsea und zeigte auf eine Insel, die ungefähr hundertfünfzig Meter vor der Küste lag.
»Wir laufen auf eine Insel?«
»Genau genommen handelt es sich um eine Meerenge, jedenfalls bei Ebbe.«
Laurel beschattete ihre Augen und blinzelte zu der Insel hin. »Ich sehe überhaupt keinen Leuchtturm.«
»Es ist nicht so einer wie auf Bildern. Dieser hier besteht einfach nur aus einem Haus mit einem Scheinwerfer auf dem Dach.«
Chelsea ging vor. Sie wanderten über einen schmalen Sandweg, der die kleine Insel vom Festland trennte. Es war schön, so nah am Meer zu sein, ohne hineinspringen zu müssen. Laurel mochte den strengen Geruch von Salzwasser und die frische Brise, die zart über ihr Gesicht strich und Chelseas Locken zum Schwingen brachte. Es war wirklich widersinnig, wie gut ihr der Geruch des Meeres gefiel, obwohl sie Salzwasser nicht ausstehen konnte.
Als sie auf der Insel angekommen waren, führte eine Schotterstraße den Hügel hinauf. Nach wenigen Minuten bogen sie um eine sanfte Kurve und entdeckten den Leuchtturm.
»Das ist ja wirklich ein ganz normales Haus«, sagte Laurel überrascht.
»Bis auf das Licht«, sagte Chelsea, die nun Fremdenführerin spielte. Unter dem wachsamen Blick des Wächters zeigte sie Laurel das Häuschen und erklärte die Geschichte des Leuchtturms inklusive der Rolle, die er bei den Tsunamis spielte, die Crescent City alle paar Jahre heimsuchten. »Das ist ganz toll«, sagte Chelsea, »solange die Wellen nicht zu hoch werden.«
Laurel konnte Chelseas Begeisterung nicht richtig nachvollziehen.
Chelsea führte sie in einen kleinen Garten und zeigte ihr die lila Blümchen, die überall auf dem Felsgestein der Insel wuchsen. »Sind die hübsch«, sagte Laurel und bückte sich, um ein Büschel der winzigen Blüten zu berühren.
Chelsea holte eine Decke aus der Tasche und breitete sie auf dem weichen Gras aus. Sie setzten sich nebeneinander und schauten schweigend aufs Meer. Laurel fühlte sich an diesem friedlichen schroffschönen Ort sehr wohl. Chelsea kramte noch mal in ihrer Tasche und holte ein Snickers für sich selbst und eine kleine Tupperdose für Laurel heraus.
»Was ist das?«, fragte Laurel.
»Erdbeeren. Bio, falls das wichtig ist«, erklärte Chelsea.
Lächelnd zog Laurel den Deckel von der Dose. »Danke, die sehen toll aus.« Tausendmal besser als Chelseas Riegel.
»Und was läuft denn nun zwischen David und dir?«
Laurel verschluckte sich beinahe an der Erdbeere, an der sie gerade knabberte, und hustete energisch. »Was meinst du damit?«
»Ich würde nur gerne wissen, ob ihr schon ein Paar seid.«
»Also, du kommst ja direkt zur Sache«, sagte Laurel mehr zu den Erdbeeren als zu Chelsea.
»Er mag dich total, Laurel«, sagte Chelsea mit einem Seufzer. »Ich wünschte, er hätte mich nur halb so gern.«
Laurel stocherte mit der Gabel in den Erdbeeren herum.
»Ich glaube, ich mochte ihn vom ersten Tag an, seit er hergezogen ist. Wir waren zusammen im Fußballteam«, sagte Chelsea lächelnd.
Laurel stellte sich im Geiste vor, wie eine zehnjährige Chelsea – meinungsstark und offen genau wie jetzt, die nirgends richtig hinpasste – David zum ersten Mal traf. Den vorurteilsfreien David, der auf andere zuging. Kein Wunder, dass Chelsea sich an ihn drangehängt hatte. Trotzdem …
»Chelsea, nimm mir die Frage nicht übel, aber warum erzählst du mir das?«
»Ich weiß nicht genau.« Sie schwiegen eine Weile. »Es geht mir nicht darum, dir ein schlechtes Gewissen zu machen oder so was«, versicherte Chelsea. »Ich weiß schon, dass David mich nicht auf diese Weise mag. Ehrlich gesagt, wenn er eine Freundin haben soll, wäre es mir lieb, wenn es jemand wie du wäre. Jemand, mit dem ich auch gut kann.«
»Das verstehe ich«, sagte Laurel.
»Ja und … bist du jetzt seine Freundin oder nicht?«, drängte Chelsea.
»Ich weiß nicht. Vielleicht?«
»Ist das eine Frage?«, fragte Chelsea grinsend.
»Keine Ahnung.« Laurel brach ab und warf Chelsea einen Blick von der Seite zu. »Macht es dir wirklich nichts aus, mit mir darüber zu reden?«
»Überhaupt nicht. Indirekt bin ich dann ja mit dabei.«
»Manchmal sagst du wirklich komische Sachen«, sagte Laurel kläglich.
»Ja, das sagt David auch dauernd. Ich persönlich finde dagegen, dass nicht genug Leute sagen, was sie denken.«
»Da hast du eindeutig recht.«
»Also, Freundin oder nicht?« Chelsea ließ nicht locker.
Laurel zuckte die Achseln. »Ich weiß es wirklich nicht. Manchmal glaube ich, ich will, aber ich hatte noch nie einen Freund. Ich war auch noch nie mit einem Jungen eng befreundet. Es gefällt mir gut … den Teil will ich nicht verlieren.«
»Müsstest du ja vielleicht nicht.«
»Vielleicht aber doch.«
»Es könnte weitere positive Nebenwirkungen haben«, sagte Chelsea.
»Wie denn das?«
»Wenn ihr beim Küssen angekommen seid, macht er dir vielleicht die Biohausaufgaben.«
»Sehr verführerisch«, sagte Laurel. »In Bio bin ich ohne ihn aufgeschmissen.«
Chelsea grinste. »Ja, das hat er mir auch schon gesagt.«
Laurel riss die Augen auf. »Das hat er nicht gesagt! Oder doch?«
»Das ist ja nun wirklich kein Geheimnis, so wie du täglich beim Mittagessen darüber stöhnst. Ich glaube, er wäre ganz toll als Freund.«
»Wieso ermunterst du mich die ganze Zeit dazu? Die meisten Menschen in deiner Lage würden alles tun, um uns auseinanderzubringen.«
»Ich bin nicht wie die meisten Menschen«, wehrte Chelsea ab. »Außerdem«, fuhr sie freundlicher fort, »würde es ihn richtig glücklich machen. Ich finde es schön, wenn David glücklich ist.«
 
»Ich bin wieder da«, schrie Laurel, als sie ins Haus kam. Sie warf ihren Rucksack auf den Boden und ging in die Speisekammer, um sich eine Dose Pfirsiche zu holen. Gerade als Laurel sich einen Pfirsich direkt aus der Dose gefischt hatte, kam ihre Mutter. Aber statt des mütterlich tadelnden Blickes, den sie ihr sonst zuwarf, wenn sie keine Schüssel benutzte, seufzte Sarah nur und lächelte erschöpft.
»Kommst du heute Abend mit dem Essen alleine klar?«
»Sicher, wieso?«
»Deinem Dad geht es schlechter. Er hat Magenschmerzen, sein Bauch ist ein wenig geschwollen und jetzt hat er auch noch Fieber. Nicht hoch, 37,8, aber ich bekomme es nicht runter. Weder mit kalten Umschlägen noch mit einem kalten Bad. Nicht mal meine Ysop-Süßholz-Kapseln helfen.«
»Echt?«, fragte Laurel. Sarah hatte für alles ein Kraut parat und normalerweise wirkten sie Wunder. Ihre Freunde riefen sie oft an, wenn sie nicht mehr weiterwussten und die Schulmedizin nicht mehr half. »Hast du es schon mit Sonnenhut-Tee probiert?«, schlug sie vor, denn das gab Sarah ihr immer.
»Einen ganzen Eimer habe ich ihm gemacht, schön kalt. Aber er kann auch nicht gut schlucken, deshalb weiß ich nicht, ob er genug davon genommen hat.«
»Wetten, er hat was Falsches gegessen?«
»Möglich«, erwiderte Sarah zerstreut, aber überzeugt klang sie nicht. »Kaum dass du weg warst, fing es an, ihm wesentlich schlechter zu gehen. Egal«, sagte sie und konzentrierte sich wieder auf ihre Tochter. »Ich bleibe bei ihm und sehe, was ich für ihn tun kann.«
»Kein Problem. Ich habe ja meine Dosenpfirsiche und ein Haufen Hausaufgaben.«
»Da haben wir ja beide eine schöne Nacht vor uns.«
»Jep«, sagte Laurel seufzend mit Blick auf den Bücherstapel, der auf ihrem Schreibtisch auf sie wartete.