Drei
Die nächsten Wochen flogen in der
Schule nur so dahin, etwas, das Laurel sich in den ersten,
unsicheren Tagen nicht hatte vorstellen können. Sie war froh über
die Begegnung mit David, sie waren in der Schule viel zusammen, und
einen Kurs hatte sie auch mit Chelsea. Mittags war sie nie allein
und hatte bald das Gefühl, dass Chelsea und David richtige Freunde
geworden waren. Auch die Schule war okay, obwohl sie sich erst
daran gewöhnen musste, im selben Tempo wie die anderen zu
lernen.
Laurel gewöhnte sich auch in Crescent City ein. Es
war größer als Orick, klar, aber es gab genügend Platz und die
Gebäude waren nirgends mehr als zwei Stockwerke hoch. Überall,
sogar vor dem Supermarkt, wuchsen hohe Kiefern und Laubbäume mit
breiten Blättern. Auf den Rasenflächen spross grünes Gras, und die
Ranken, die auf den meisten Gebäuden sprossen, blühten.
An einem Freitag im September prallte Laurel mit
David zusammen, als sie den Klassenraum verließ. Sie hatte gerade
ihren letzten Kurs, Spanisch, gehabt.
»Entschuldigung«, sagte David und hielt sie an der
Schulter fest, damit sie nicht hinfiel.
»Schon gut, ich habe nicht aufgepasst.«
Im nächsten Augenblick sahen sie sich an. Laurel
lächelte schüchtern, bis sie merkte, dass sie ihm im Weg
stand.
»Oh, bitte schön«, sagte sie und machte den Weg
frei.
»Äh … also, ich habe eigentlich auf dich
gewartet.«
Er machte einen nervösen Eindruck.
»Ja, gut, ich muss nur eben …« Sie hielt das Buch
hoch. »… das hier in mein Schließfach legen.«
»Ich komme mit.«
»Super.«
Sie gingen zu Laurels Schließfach, sie verstaute
ihr Spanischbuch, holte ihr Geschichtsbuch heraus und schloss ab.
Dann lächelte sie und sah David erwartungsvoll an.
»Ich wollte nur fragen, hast du vielleicht Lust,
nach der Schule was mit mir zu unternehmen?«
Sie lächelte weiter, aber in ihrem Magen flatterte
es, sie war jetzt auch nervös. Bisher hatten sie sich nur in der
Schule getroffen, und Laurel merkte in diesem Moment, dass sie
nicht wusste, was David gerne machte, wenn er nicht gerade
Mittagspause hatte oder mitschrieb, was die Lehrer sagten. Doch es
reizte sie auch, es herauszufinden. »Was hast du denn vor?«
»Hinter unserem Haus fängt gleich der Wald an – und
da du so gerne draußen bist, dachte ich, wir könnten spazieren
gehen. Da steht ein toller Baum, den ich dir gerne zeigen würde.
Also, eigentlich sogar zwei –
das verstehst du, wenn du es siehst. Wenn du überhaupt willst,
natürlich.«
»Gerne.«
»Echt?«
Laurel lächelte. »Ja, klar.«
»Schön.« Er schaute durch den Flur zum
Hinterausgang. »Es ist einfacher, wenn wir hinten rausgehen.«
Laurel folgte David durch die überfüllten Flure hinaus in die
frische Septemberluft. Die Sonne kämpfte sich mühsam durch den
Nebel, und die Luft war kühl und schwer, so feucht war es. Laurel
streifte die Jacke über und war froh, dass sie statt der Shorts
eine Caprihose angezogen hatte. »Es fühlt sich an, als wäre der
Sommer vorbei. Jetzt kommt wohl der Herbst.«
David zog den Reißverschluss seiner Jacke zu.
»Sieht ganz so aus.«
Sie überquerten den Fußballplatz hinter der Schule
bis zur Grant Street und bogen in die Small Avenue ein. »Wie weit
ist es zu dir?«, fragte Laurel.
»Wir sind gleich da.«
Der kühle Westwind brachte den salzigen Hauch des
Ozeans mit. Laurel holte tief Luft und genoss die Herbstluft. Bald
kamen sie in ein ruhiges Wohnviertel, das ungefähr einen Kilometer
südlich von Laurels Haus lag. »Du wohnst also bei deiner Mutter?«,
fragte sie.
»Jep. Mein Dad ging, als ich neun war. Dann hat
meine Mom ihren Schulabschluss nachgemacht und ist mit mir
hierhergezogen.«
»Als was arbeitet sie denn?«
»Als Apothekerin.«
»Oh«, sagte Laurel. »Das ist witzig.«
»Wieso?«
»Meine Mutter ist Heilpraktikerin.«
»Was macht sie genau?«
»Sie stellt alle Arzneimittel aus Kräutern her und
baut sogar einige Pflanzen selbst an. Ich habe noch nie Medizin
bekommen, nicht mal Betaisodona.«
David starrte sie an. »Du machst Witze!«
»Nö. Meine Mom macht alles selbst, was wir
brauchen.«
»Da würde meine Mom ausflippen. Sie glaubt, Pillen
helfen gegen alles.«
»Meine Mom ist fest davon überzeugt, dass
Ärzte einen umbringen.«
»Das klingt, als könnten unsere Mütter einiges
voneinander lernen.«
Laurel lachte. »Wahrscheinlich.«
»Heißt das, deine Mom geht nie zum Arzt?«
»Nein, nie.«
»Dann hat sie dich zu Hause bekommen, oder
was?«
»Ich bin adoptiert.«
»Ach, echt?« David schwieg kurz. »Und, kennst du
deine wirklichen Eltern?«
Laurel musste fast lachen. »Nö.«
»Was ist daran so lustig?«
Sie biss sich auf die Unterlippe. »Versprichst du
mir, nicht zu lachen?«
In gespieltem Ernst hob David die Hand. »Ich
schwöre.«
»Man hat mich in einem Körbchen bei meinen Eltern
vor die Haustür gelegt.«
»Das glaube ich nicht! Du machst dich über mich
lustig!«
Laurel sah ihn mit hochgezogener Augenbraue
an.
David fragte fassungslos: »Ehrlich?«
Laurel nickte. »Ich bin ein Findelkind. Allerdings
war ich kein kleines Baby mehr, sondern ungefähr drei. Meine Mom
sagt, ich hätte um mich getreten, um aus dem Körbchen zu kommen,
als sie die Tür aufmachten.«
»Du warst schon ein Kleinkind. Dann konntest du
auch sprechen?«
»Oh ja, angeblich hatte ich einen komischen Akzent,
den ich erst nach einem Jahr verloren habe.«
»Huh. Wusstest du denn nicht, wo du
herkamst?«
»Mom sagt, ich kannte meinen Namen, das war alles.
Ich wusste nicht, woher ich stammte oder was passiert war, rein gar
nichts.«
»So was Verrücktes habe ich noch nie gehört.«
»Juristisch war es auch kein Zuckerschlecken. Als
meine Eltern beschlossen, mich zu adoptieren, beauftragten sie
einen Privatdetektiv, der meine leibliche Mutter finden sollte, und
dann ging es ewig um Pflegeelternschaft und so weiter. Es hat über
zwei Jahre gedauert, bis die Sache unter Dach und Fach war.«
»Musstest du so lange in ein Kinderheim oder zu
Pflegeeltern?«
»Nein, der Richter, mit dem meine Eltern es zu tun
hatten, war recht kooperativ und erlaubte, dass ich die ganze Zeit
bei ihnen bleiben durfte. Jede Woche bekamen wir Besuch von einer
Sozialarbeiterin, und meine Eltern durften den Bundesstaat nicht
mit mir verlassen, bis ich sieben war.«
»Irre. Fragst du dich denn manchmal, wo du
herkommst?«
»Früher dauernd, aber da es keine Lösung gibt,
bringt das Nachdenken auf die Dauer nichts.«
»Und wenn du herausfinden könntest, wer deine
leibliche Mutter ist, würdest du es tun?«
»Keine Ahnung«, sagte sie und steckte die Hände in
die Taschen. »Wahrscheinlich. Aber ich mag mein Leben, ich bedaure
es nicht, dass ich bei meinen Eltern gelandet bin.«
»Das ist total cool.« David zeigte auf eine
Einfahrt. »Hier lang.« Er warf einen prüfenden Blick zum Himmel.
»Es sieht nach Regen aus. Am besten stellen wir nur schnell unsere
Taschen ab und sehen uns erst den Baum an.«
»Ist das euer Haus? Das ist aber hübsch.« Sie
gingen auf ein weißes Häuschen mit einer hellroten Tür zu; bunte
Zinnien blühten in einem langen Beet vor dem Eingang.
»Das will ich hoffen«, sagte David, »ich habe im
Sommer zwei Wochen damit verbracht, es anzustreichen.« Er holte
einen Schlüssel aus der Tasche und schloss auf. »Vorher war es so
eklig grünbraun.«
Sie stellten die Taschen an der Eingangstür ab und
gingen in eine ordentliche, schlicht ausgestattete Küche. »Möchtest
du etwas trinken?«, fragte David und öffnete den Kühlschrank. Er
holte eine Limodose heraus und fischte eine Packung Twinkies vom
Schrank. Laurel zwang sich, nicht die Nase über die Twinkies zu
rümpfen, sondern stattdessen die Küche zu begutachten. Ihr Blick
fiel auf eine Schale Obst. »Kann ich eine haben?«, fragte sie und
zeigte auf eine frische grüne Birne.
»Klar, nimm eine mit.« Er zeigte auf die
Wasserflasche. »Und Wasser?«
Sie grinste. »Genau.«
Als sie ihr Picknick eingesteckt hatten, zeigte
David auf die Hintertür. »Da lang.« Er hielt ihr die Schiebetür auf
und Laurel betrat einen aufgeräumten, umzäunten Hinterhof. »Sieht
nach Sackgasse aus.«
David lachte. »Aber nur, wenn man sich nicht
auskennt.«
Er ging zu dem Betonzaun, zog sich mit einem
schnellen Sprung hinauf und ging in die Hocke.
»Komm«, sagte er und streckte die Hand aus. »Ich
helfe dir.«
Laurel sah ihn skeptisch an, gab ihm aber die Hand.
Überraschend leicht sprangen sie über den Zaun.
Der Wald begann direkt dahinter. Feuchtes, welkes
Laub bildete einen dicken Teppich unter ihren Füßen. Die dichten
Baumkronen dämpften die Autogeräusche
aus der Ferne. Laurel sah sich anerkennend um und sagte: »Hier ist
es schön.«
David stützte die Hände in die Hüften und schaute
nach oben. »Stimmt. Ich war noch nie besonders gerne draußen, aber
hier finde ich viele Pflanzen, die ich unterm Mikroskop untersuchen
kann.«
Blinzelnd sah Laurel zu ihm auf. »Du hast ein
Mikroskop?« Sie kicherte. »Du bist echt der totale
Bio-Freak.«
David musste lachen. »Tja, aber Clark Kent war auch
als Streber verschrien, und guck dir an, was aus dem geworden
ist.«
»Willst du damit sagen, du wärst Superman?«, fragte
Laurel.
»Man kann nie wissen«, antwortete David
neckend.
Laurel lachte, bis sie auf einmal schüchtern die
Augen senkte. Als sie wieder aufschaute, starrte David sie an. Als
sich ihre Blicke trafen, wirkte die Lichtung noch stiller als
zuvor. Es gefiel Laurel, wie er sie ansah, so sanft und forschend.
Als könnte er mehr über sie erfahren, einfach indem er sie
anschaute. Der Augenblick zog sich noch ein wenig, bevor er etwas
verlegen lächelte und mit dem Kopf auf einen schmalen Weg wies. »Da
geht es zu dem Baum.«
Er führte sie scheinbar ziellos über einen
gewundenen Pfad, aber bereits nach wenigen Minuten zeigte er auf
einen großen Baum, der direkt am Wegesrand stand.
»Wow«, sagte Laurel, »der ist ja toll.«
Es handelte sich genau genommen um zwei Bäume, eine
Tanne und eine Erle, die in nächster Nähe gesprossen waren. Ihre
Stämme waren ineinander verflochten zu einem einzigen Baum
gewachsen, mit Tannennadeln auf der einen und großen Blättern auf
der anderen Seite.
»Ich habe ihn entdeckt, als wir hierhergezogen
sind.«
»Wo wohnt dein Dad denn eigentlich?«, fragte
Laurel. Sie ließ sich an einem Baumstamm nach unten gleiten und
setzte sich auf einen weichen Laubhaufen. Dann holte sie die Birne
heraus.
David lachte leise und dunkel. »San Francisco. Er
ist Strafverteidiger in einer großen Kanzlei.«
»Seht ihr euch oft?«
David setzte sich zu ihr auf den Erdboden und
lehnte sein Knie leicht an ihren Oberschenkel. Sie rückte nicht ab.
»Alle paar Monate. Er fliegt dann mit seinem Privatjet am McNamara
Field ein und holt mich fürs Wochenende zu sich.«
»Ist doch cool.«
»Na ja.«
»Magst du ihn nicht?«
David zuckte die Achseln. »Schon, aber er hat uns
verlassen und seitdem nie versucht, mehr Zeit mit mir zu
verbringen. Ich habe nicht gerade das Gefühl, ganz oben auf seiner
Liste zu stehen.«
Laurel nickte. »Das tut mir leid für dich.«
»Schon gut. Wir haben Spaß. Es ist nur, na ja,
manchmal ist es etwas seltsam.«
Sie blieben kurz einvernehmlich schweigend sitzen
und entspannten sich auf der stillen Lichtung. Doch als es auf
einmal kräftig donnerte, schauten sie gleichzeitig zum
Himmel.
»Ich bringe dich besser nach Hause. Gleich
schüttet’s.«
Laurel stand auf und schnipste die Blätter von
ihrer Caprihose. »Danke, dass du mich hergebracht hast«, sagte sie
und zeigte auf den Baum. »Echt schön hier.«
»Ich freue mich, dass er dir gefällt.« David mied
ihren Blick. »Obwohl es nicht … darum ging.«
»Oh.« Laurel nahm es als Kompliment und fühlte sich
komisch.
»Hier lang«, sagte David mit leicht gerötetem
Gesicht und drehte sich um.
Als sie gerade wieder über den Zaun kletterten,
fielen die ersten Tropfen. »Willst du deine Mom anrufen, damit sie
dich abholt?«, fragte David, als sie wieder in der Küche
standen.
»Nein, das geht auch so.«
»Aber es regnet. Soll ich dich nicht
bringen?«
»Nein, das ist wirklich in Ordnung. Ich gehe gern
durch den Regen.«
David sagte einen Augenblick nichts und sprudelte
dann heraus: »Also, darf ich dich anrufen? Morgen
vielleicht?«
Laurel lächelte. »Natürlich. Aber jetzt gehe ich
lieber, sonst macht sich meine Mom noch Sorgen.«
»Selbstverständlich.« Doch er versperrte weiterhin
die Küchentür.
»Hier geht es raus, oder?« Sie war kurz davor,
unhöflich zu werden.
»Ja, nur, ohne Telefonnummer kann ich dich nicht
anrufen.«
»Oh, sorry.« Sie holte einen Stift und kritzelte
ihre Nummer auf einen Block neben dem Telefon.
»Darf ich dir auch meine geben?«
»Klar.«
Laurel wollte ihren Rucksack schon wieder
aufmachen, aber David hielt sie davon ab. »Nicht nötig«, sagte er.
»Hier.« Er nahm ihre Hand und schrieb seine Nummer auf ihre
Handfläche.
»So kannst du sie nicht verlieren«, sagte er
schüchtern.
»Super. Bis später.« Sie schenkte ihm ein warmes
Lächeln und ging in den dichten Nieselregen hinaus.
Sobald das Haus außer Sichtweite war, nahm Laurel
die Kapuze ab und hob das Gesicht gen Himmel. Sie streckte die Arme
aus, aber dann fiel ihr die Telefonnummer wieder ein und sie
steckte die Hände in die Taschen. Lächelnd ging sie weiter, während
es sanft auf ihre Haare regnete.
Als sie gerade zu Hause angekommen war, klingelte
das Telefon. Da ihre Mutter offenbar nicht zu Hause war, nahm
Laurel schnell die letzten Stufen, um zu verhindern, dass der
Anrufbeantworter ansprang. »Hallo?«, sagte sie außer Atem.
»Oh, hey, du bist schon zu Hause. Ich wollte
eigentlich eine Nachricht hinterlassen.«
»David?«
»Ja, hallo, entschuldige, dass ich so schnell
anrufe«, sagte David, »aber eben ist mir der Biotest eingefallen,
den wir nächste Woche schreiben, und ich dachte, vielleicht hast du
Lust, morgen rüberzukommen und mit mir zu lernen.«
»Ernsthaft?«, fragte Laurel. »Das wäre großartig!
Ich bin voll gestresst deswegen. Ich habe das Gefühl, ich kann
höchstens die Hälfte.«
»Super.« Er schwieg einen Moment lang. »Also nicht
super, dass du so gestresst bist, aber super, dass – ach,
egal.«
Laurel musste grinsen, weil er sich so wand. »Um
wie viel Uhr?«
»Egal, wann du willst. Ich muss morgen nur ein paar
Sachen für meine Mom erledigen, sonst habe ich nichts vor.«
»Gut, ich rufe vorher an.«
»Okay, dann bis morgen.«
Laurel verabschiedete sich und legte auf. Sie
lächelte noch, als sie die Treppe, immer zwei Stufen auf einmal
nehmend, hochhüpfte.