Einundzwanzig
Zu Davids Gunsten musste gesagt
werden, dass er gut mit der Begegnung umging, zumal er von einem
Fremden wachgerüttelt wurde, der ihn beinahe böse ansah, während
Laurel sie stammelnd vorstellte. Ihm erschien es weniger seltsam
als Laurel, dass die Männer Orks gewesen waren, und Laurel
überlegte, ob er wirklich schon wach war oder etwa unter Schock
stand. Wie auch immer, er war gerne bereit, den Chauffeur zu
spielen.
Tamani setzte sich nach hinten, ließ die Tür offen
und lud Laurel mit Blicken ein, sich neben ihn zu setzen. Sie warf
David einen Blick zu – seine Sachen waren zerknittert und schmutzig
von ihrem Flussabenteuer, und sein Gesicht war geschwollen, wo sie
ihn geohrfeigt hatte -, lächelte entschuldigend und nahm auf dem
Beifahrersitz Platz. Tamani gab sich allerdings nicht so leicht
geschlagen, und während David auf die Autobahn auffuhr, beugte
Tamani sich vor und schlang einen Arm um die Kopfstütze, sodass er
ihn Laurel auf die Schulter legen konnte.
Falls David das im Dämmerlicht sah, sagte er nichts
dazu.
Laurel sah auf die Uhr. Es war fast vier. Sie
seufzte. »Meine Mom dreht durch. Und was ist mit deiner?«, fragte
sie David.
»Das hoffe ich nicht. Ich habe ihr gesagt, dass ich
vielleicht die ganze Nacht mit dir dableibe, und sie hat gesagt, es
wäre nicht so schlimm, wenn ich morgen nicht zur Schule ginge. Aber
ich rufe sie an, wenn es spät genug ist, und sage ihr, dass ich
noch bei dir bin.«
»Wenn sie wüsste …« Laurel verstummte.
David wechselte das Thema. »Wie lautet der
Plan?«
Tamani antwortete: »Ihr bringt mich zu diesem Haus.
Ich erledige die Orks und ihr bringt mich zurück. Ganz
einfach.«
»Erzähl mir mehr über diese Orks«, bat David. »So
was Schreckliches habe ich noch nie gesehen.«
»Hoffentlich bleibt es dabei.«
David erschauerte. »Das hoffe ich auch. Dort am
Fluss … hat mich dieser Ork hochgehoben, als wäre ich leicht wie
eine Feder. So klein bin ich nun auch wieder nicht.«
»Du bist größer als ich, wie ich zugeben muss.« Als
Tamani sich an Laurel wandte, war es mit dem verträglichen Ton
vorbei. »Orks sind … nun ja, eine Art Panne in der
Entwicklungsgeschichte. Es sind Tiere wie du, David, sogar
Primaten. Aber besonders menschlich sind sie nicht. Sie sind
stärker als Menschen, wie du gemerkt hast, und leider heilen ihre
Wunden auch schneller. Als hätte die Evolution einen Übermenschen
schaffen wollen, es aber irgendwie vermasselt.«
»Nur weil sie so hässlich sind?«, fragte
David.
»Die Hässlichkeit ist Nebensache. Das Problem ist,
dass sie nicht zusammenpassen.«
»Was meinst du damit, sie passen nicht zusammen?«,
fragte Laurel.
»Das unterscheidet sie von Elfen: Wir sind
symmetrisch. Die Menschen sind fast symmetrisch – soweit Tiere mit
ihren chaotischen Zellen dazu in der Lage sind. Zwei Augen, zwei
Arme, zwei Beine. In derselben Länge mit den gleichen Proportionen
– mehr oder weniger. Eigentlich echt beeindruckend.«
»Wieso eigentlich?«, fragte David erregt.
»Weil eure Zellen eigentlich so unregelmäßig sind.
Das kannst du nicht bestreiten, jedenfalls nicht, wenn du so schlau
bist, wie Laurel immer behauptet.« Der Unterton dieser Bemerkung
war nicht zu überhören, aber David war anscheinend
besänftigt.
»Laurel und ich« – Tamani streichelte ihren Nacken
– »sind absolut symmetrisch. Wenn du uns längs teilen könntest,
würde alles genau zusammenpassen. Deshalb sieht Laurel euren Models
so ähnlich, wegen der Symmetrie.«
»Und die Orks sind nicht so?« Laurel wollte
unbedingt von sich selbst ablenken.
Tamani schüttelte den Kopf. »Kein bisschen. Du hast
gesagt, Barnes’ Auge hinge herab und seine Nase wäre nicht in der
Mitte. Das ist die körperliche Asymmetrie, wobei sie bei ihm noch
harmlos ist. Normalerweise ist es schlimmer. Ich habe Orkbabys
gesehen, die so missgestaltet
waren, dass nicht mal ihre Mütter sie behalten wollten. Denen
wuchsen Beine aus den Köpfen und Hälse seitlich in die Schultern.
Ein grässlicher Anblick. Vor langer, langer Zeit versuchten die
Elfen noch, sie aufzunehmen, aber wenn die Evolution einen aufgibt,
ist der Tod unvermeidlich. Außerdem ist es nicht nur körperlich. Je
dümmer sie sind – je schlimmer ihnen die Evolution mitgespielt hat
-, desto weniger symmetrisch sind sie.«
»Warum sterben die Orks dann nicht aus?«, fragte
David.
»Leider haben sie auch hier und da Erfolg; Orks wie
Barnes werden in der Welt der Menschen nicht auffällig. Einige
können sogar eine gewisse Kontrolle über Menschen ausüben. Wie
viele, wissen wir nicht, aber sie können überall sein.«
»Wie kann man sie von Menschen
unterscheiden?«
»Genau hier liegt das Problem – so einfach ist das
nämlich nicht, manchmal sogar fast unmöglich. Für uns Wachtposten
allerdings nicht, Orks sprechen einfach nicht auf unsere Magie
an.«
»Überhaupt nicht?«, fragte Laurel.
»Jedenfalls nicht auf Frühlingsmagie. Eine Schande
ist das, sonst wäre meine Arbeit wesentlich einfacher zu erledigen.
Es gibt mehrere Merkmale, durch die Orks sich von Menschen
unterscheiden, aber viele von ihnen kann man verbergen.«
»Welche Merkmale sind das denn?«, fragte
Laurel.
»Früher lebten Orks unter der Erde, weil ihre Haut
keinen Sonnenschein ertrug. Mithilfe moderner Erfindungen wie
Sunblocker und Sonnenschutzmittel können sie mehr aushalten,
trotzdem haben sie selten gesunde Haut.«
Bei der Erinnerung daran, wie Bess’ Haut geplatzt
war und sich rund um ihr Halsband geschält hatte, zuckte Laurel
zusammen.
»Neben der Symmetrie haben die Augen oft eine
unterschiedliche Farbe, aber das kann man mit Kontaktlinsen auch
gut überdecken. Die einzigen sicheren Anzeichen sind ihre Stärke
oder wenn man sie dabei erwischt, wie sie große Batzen rohen
Fleisches essen.«
»Barnes war fasziniert von dem Blut auf meinem
Arm«, sagte Laurel.
»Du blutest nicht«, erwiderte Tamani.
»Ja, es war auch nicht mein Blut, sondern
Davids.«
»Auf deinem Arm?«
Laurel nickte. »Er schnitt sich am Arm, als Barnes
uns durchs Fenster zog. Als ich mir den Rücken verletzte.«
»So richtig viel Blut?«, fragte Tamani.
»Genug, um Barnes’ Hand zu bedecken, als er mich
packte.«
Tamani schmunzelte. »Das erklärt, warum er dich in
den Fluss geworfen hat. Kein Ork, der bei Verstand ist, versucht,
eine Elfe zu ertränken. Er hatte keine Ahnung, dass du eine
bist.«
»Woher sollte er das wissen?«
Tamani seufzte. »Leider fällt es Orks leicht,
Menschen
von Elfen zu unterscheiden. Orks riechen Blut sofort und Elfen
haben bekanntlich keins. Wenn du nicht gerade blühst, können Orks
dich überhaupt nicht riechen. Wenn sie etwas Menschenähnlichem
begegnen, das nicht nach Blut riecht, wissen sie sofort
Bescheid.«
»Und weil Davids Blut auf mir war, roch Barnes
genug Blut, um keinen Verdacht zu schöpfen?«
»Das ist die einzige logische Erklärung.«
»Und wie war das im Krankenhaus?«
»Krankenhäuser riechen für Orks grundsätzlich nach
Blut. Nicht einmal starke Putzmittel dämpfen diesen Geruch. Im
Krankenhaus hätte er auch zehn Elfen nicht wahrgenommen.«
»Bei euch zu Hause«, sagte David, »habe ich nach
dem Rauch des Lagerfeuers gerochen.«
»Er ist zu euch nach Hause gekommen?«, fragte
Tamani und grub seine Finger in Laurels Schulter. »Das hast du
nicht erwähnt.«
»Das ist schon länger her. Da wusste ich noch
nicht, dass er kein Mensch ist.«
»Du hast unglaubliches Glück gehabt. Wenn er früher
gemerkt hätte, dass du eine Elfe bist, wärst du wahrscheinlich
längst tot.«
Laurel drehte sich der Kopf und sie lehnte sich
zurück – direkt an Tamanis Wange. Sie beließ es dabei.
Als sie sich Brookings näherten, löcherte Tamani
Laurel zu den Raumverhältnissen in dem alten Haus. »Es wäre
einfacher, wenn ich mitkäme«, protestierte
sie, nachdem sie ihm alles erzählt hatte, was sie wusste – und das
war nicht viel, dafür war es viel zu dunkel gewesen.
»Kommt nicht infrage. Ich darf dich da nicht mit
reinziehen – du bist viel zu wichtig.«
»So wichtig bin ich gar nicht«, grummelte Laurel
und rutschte auf ihrem Sitz nach unten.
»Du bist hier, um das Grundstück zu erben, Laurel.
Nimm das nicht auf die leichte Schulter.«
»Ich könnte dir helfen – als Rückendeckung.«
»Ich brauche deine Hilfe nicht.«
»Und warum nicht?«, fauchte Laurel. »Weil ich kein
ausgebildeter Wachtposten bin?«
»Weil es zu gefährlich ist«, bellte Tamani zurück.
Auch er wurde jetzt laut.
Dann lehnte er sich zurück und flüsterte: »Ich will
dich nicht noch mal verlieren.«
Sie kniete sich auf den Beifahrersitz und drehte
sich zu ihm um. Im Leuchten der frühen Morgendämmerung konnte sie
sein Gesicht gerade noch erkennen. »Und wenn ich darauf achte,
außer Sicht zu bleiben? Wenn dir was passiert, müssen wir das
irgendwie erfahren.«
Seine Miene blieb stur.
»Ich werde nicht versuchen, zu kämpfen oder mich
anders einzumischen«, versprach Laurel.
Tamani ließ sich ihren Vorschlag durch den Kopf
gehen. »Wenn ich Nein sage, folgst du mir dann trotzdem?«
»Selbstverständlich.«
Er seufzte und rollte mit den Augen. »Hör gut zu.«
Er beugte sich vor, bis seine Nase beinahe ihre berührte, und
sprach so leise und eindringlich, dass Laurel fast wünschte, sie
hätte nicht damit angefangen. »Wenn es Ärger gibt, müsst ihr mich
im Stich lassen und direkt zu Shar zurückfahren. Ihr müsst ihm
berichten, was passiert ist. Versprichst du mir das?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich könnte dich nicht im
Stich lassen.«
»Ich verlange dein Ehrenwort, Laurel.«
»Das passiert sowieso nicht. Wie du schon zu Shar
sagtest, es wird alles gut gehen.«
»Lenk nicht ab. Dein Wort.«
Laurel biss sich auf die Unterlippe und grübelte
darüber nach, ob es irgendein Schlupfloch für sie gab. Aber Tamani
würde weiter darauf bestehen. »Also gut«, schmollte sie.
»Dann kannst du mitkommen.«
»Und was ist mit mir?«, fragte David.
»Ausgeschlossen.«
»Und warum?«, fragte David und umklammerte das
Lenkrad. »Ich könnte dir besser helfen als Laurel – ohne dich
beleidigen zu wollen«, sagte er lächelnd zu Laurel.
»Meinetwegen kannst du ruhig mitkommen«, sagte
Tamani mit einem fiesen Lächeln. »Wenn du unbedingt den Köder
spielen willst.«
»Tamani!«, protestierte Laurel.
»Es stimmt aber. Er ist nicht nur ein Mensch, er
hat auch offene Wunden. Dieser Mr Barnes würde ihn aus dreißig
Metern Entfernung wittern. Vielleicht sogar eher. Also, entweder er
spielt den Köder oder er kommt nicht mit.« Tamani beugte sich vor
und schlug David leicht auf die Schulter, was jedermann für eine
freundliche Geste gehalten hätte, aber Laurel wusste, wie das
gemeint war. »Nein, Kumpel, ich denke, du fährst lieber den
Fluchtwagen.«
Dagegen kam David nicht an, außer er wollte
wirklich unbedingt als Köder herhalten.
Sie fuhren vom Highway 101 ab, als der Himmel sich
langsam zartrosa verfärbte. Als sie in Maple angekommen waren und
die Strecke zurückfuhren, die David und Laurel am Abend genommen
hatten, wurde sie immer nervöser. Am Abend war sie so
zuversichtlich und arrogant gewesen. Sie hatte sich im Recht
gefühlt, entschlossen, Antworten zu finden. Jetzt da sie genau
wusste, gegen wen es ging, wuchs ihre Furcht.
»Tamani?«, fragte sie, obwohl sie wusste, dass der
Zeitpunkt schlecht gewählt war. »Wie soll eigentlich eine Pflanze
einen superstarken Ork besiegen?«
Diesmal grinste Tamani nicht. Sein Gesicht war wie
aus Stein gemeißelt, sein Blick verschleiert. »Schlau und schnell
muss ich sein. Mehr habe ich nicht zu bieten.«
In Laurels Ohren klang das gar nicht gut.