Dreiundzwanzig
In Laurels Kopf gellte ein
schriller, ohrenbetäubender Schrei, als der Schuss durch den Raum
dröhnte, doch irgendwie kam nur ein leises Wimmern aus ihrem Mund.
Als der Geruch von Schießpulver ihre Nase verbrannte, drang ein
erstickter Schrei in ihr Bewusstsein. Laurel machte die Augen
wieder auf und ihr Blick flog zu Tamani. Sein Gesicht war
schmerzverzerrt und er stöhnte weiter durch zusammengebissene
Zähne. Wo er sein Bein umklammerte, drang Zellsaft durch seine
Finger, und er sah den ihn überragenden Ork böse an. Als Barnes
erneut zielte und auf das andere Bein schoss, konnte Tamani einen
Schmerzensschrei nicht unterdrücken. Laurel zitterte am ganzen
Körper, als Tamanis Schrei in jede gut organisierte, symmetrische
Zelle ihres Körpers eindrang und sie alle ins Chaos stürzte. Sie
schlich vorwärts, aber Tamani befahl ihr mit einem raschen Blick
stehen zu bleiben. Kaum hatten sich ihre Blicke getroffen, sah er
schon wieder Barnes an. Tamanis Stirn war schweißgebadet, als
Barnes die Pistole mit einem lauten Knall auf den Schreibtisch
legte und auf ihn zuging.
»Jetzt gehst du nirgends mehr hin, was?«
In Tamanis Augen brannte Hass, als er zu dem
riesigen Ork aufblickte.
»Da kommst du an dem Tag hereinspaziert, an dem ich
den Vertrag für das Grundstück unterzeichnen will, auf dem ihr eure
kostbare Pforte versteckt. Ich bin nicht so blöd, das für einen
Zufall zu halten. Wieso wusstet ihr Bescheid?«
Tamani presste die Lippen aufeinander und
schwieg.
Barnes trat gegen Tamanis Fuß und knurrte leise.
»Wieso?«, schrie er. Tamani sagte immer noch nichts, und Laurel
fragte sich, wie lange sie es noch aushielt, nur zuzuschauen.
Tamani hatte die Augen fest geschlossen, doch als er sie öffnete,
sah er sie einen Augenblick lang direkt an. Sie wusste, was er
wollte. Sie sollte ihr Versprechen halten. Er wollte, dass sie ihn
zurückließ, allein die Treppe hinunterging und zum Grundstück
zurückfuhr, um Shar zu holen.
Sie hatte ihm ihr Wort gegeben.
Doch Laurel wusste, dass sie das nicht tun konnte.
Sie konnte ihn nicht verlassen. In einem grellen Augenblick
erkannte sie, dass sie lieber mit ihm sterben wollte, als ihn
allein krepieren zu lassen.
In diesem Augenblick fiel ihr Blick auf die
Pistole.
Barnes hatte sie auf dem Schreibtisch gelassen und
schenkte ihr keinerlei Beachtung mehr. Mit halb zusammengekniffenen
Augen folgte Tamani ihrem Blick. Er sah sie wieder an und
schüttelte so sachte den Kopf, dass sie es kaum wahrnahm. Dann
zuckte er zusammen, als Barnes wieder gegen sein Bein trat.
»Wieso?«
Barnes ging vor Tamani in die Hocke. Eine bessere
Chance würde Laurel nicht bekommen, das war ihr klar. Sie schlich
ins Zimmer und versuchte, so geschickt zu sein wie Tamani.
»In zehn Sekunden nehme ich mir deinen Fuß vor und
breche dir jeden Stängel in deinem Bein.«
Laurel legte die Hände um den kalten Stahl und
versuchte krampfhaft, sich zu erinnern, was ihr Vater ihr vor ein
paar Jahren über Pistolen beigebracht hatte. Diese war schwer und
klobig und sah wie eine schwarze Wasserpistole aus. Sie suchte nach
einer Sicherung oder einem Hahn, fand aber nichts. Dann schloss sie
kurz die Augen und hoffte inständig, dass es sich um eine Waffe
handelte, bei der man nur zielen und abdrücken musste.
»Ich gebe dir noch eine Chance, mir zu antworten,
Elf. Eins, zwei …«
»Drei«, schloss Laurel für ihn und zielte mit der
Pistole auf seinen Kopf.
Barnes erstarrte.
»Aufstehen«, befahl Laurel, die genau eine
Armeslänge Abstand hielt.
Langsam stand Barnes auf und drehte sich zu ihr
um.
»An die Wand«, sagte sie. »Weg von ihm.«
Barnes lachte. »Glaubst du echt, du könntest mich
erschießen? Du winziges Mäuschen, du?«
Laurel schreckte vor ihm zurück, während sie den
Abzug drückte. Sie hätte vor Erleichterung beinahe geweint,
als tatsächlich eine Kugel in der Wand landete. Dann zielte sie
wieder auf Barnes.
»Gut«, sagte er und ging ein paar Schritte zurück,
wobei er sich voll zu ihr umdrehte. Sein Blick weitete sich, als er
sie erkannte. »Ich dachte, ich hätte dafür gesorgt, dass du
umgebracht wirst.«
»Falsch gedacht«, sagte Laurel, die stolz darauf
war, dass ihre Stimme nicht halb so zitterte wie ihre Beine.
»Haben meine Jungs vergessen … Moment mal, nein.«
Er witterte misstrauisch. »Du – ich dachte …« Er brach ab, drehte
sich zu Tamani um und schmunzelte. »Jetzt verstehe ich. Ihr Elfen
seid dazu übergegangen, Wechselbälger zu verteilen. Wechselbälger!«
Er schaute auf Tamani hinunter und sagte beiläufig: »Wann kapiert
ihr endlich, dass wir Orks immer die besseren Ideen haben?«
Als Laurel wieder eine Kugel in die Wand setzte,
zuckte Barnes zusammen. »Schluss mit dem Gequatsche«, sagte
sie.
Die beiden Gegner standen einander gegenüber,
verbunden in einer irgendwie ausweglosen Situation. Barnes war sich
fast sicher, dass sie nicht auf ihn schießen würde, und Laurel war
sich ebenso fast sicher, dass sie es nicht fertigbringen würde.
Doch das durfte Barnes nicht merken. Leider konnte sie ihren
Zweifeln nur ein Ende bereiten, wenn sie wirklich auf ihn schoss.
Ihre Finger am Abzug fühlten sich schwitzig an, als sie die Waffe
hochriss, bis der Lauf sein Gesicht verbarg.
Weiter konnte sie nicht gehen.
»Denk daran, was ich dir gesagt habe. Laurel«,
sagte Tamani sehr ruhig. »Er hat den Befehl gegeben, dich
umzubringen, er hat deinen Vater vergiftet, deine Mutter
manipuliert … Er wird es wieder tun, wenn du ihn laufen
lässt.«
»Hör auf, du traust mir wirklich zu viel zu«, sagte
Barnes mit einem spöttischen Lächeln.
Laurels Atem kam flach und abgerissen aus ihrem
Mund, während sie sich bemühte, die Finger zu krümmen. Doch ihr Arm
sackte ein wenig ab und Barnes zog einen Mundwinkel hoch.
»Wusste ich’s doch, dass du es nicht schaffst!«,
höhnte er. Er ging in die Hocke und warf sich auf sie. Laurel sah
nur noch rot geränderte, mörderische Augen und ausgestreckte
Finger, die wie Krallen aussahen. Sie spürte die Pistole gar nicht
mehr richtig, als ihre Finger sich verkrampften und ein brüllender
Schuss in ihren Ohren dröhnte. Barnes wurde zurückgeworfen, als die
Kugel sich in seine Schulter bohrte. Laurel schrie und ließ die
Waffe fallen.
Stöhnend robbte Tamani vorwärts und umklammerte die
Pistole. Barnes brüllte vor Schmerz auf, richtete den Blick aber
wieder auf Laurel.
»Lass sie in Ruhe, Barnes!«, schrie Tamani und
zielte.
Der Ork nahm gerade noch wahr, dass die Waffe auf
seinen Kopf gerichtet war, denn als Tamani abdrückte, war er schon
zum Fenster gesprungen. Er warf sich durch die klirrende Scheibe
und ließ sich fallen. Tamanis Schuss ging in die Wand, ohne Schaden
anzurichten.
Laurel rannte zum Fenstersims und erhaschte einen letzten Blick
auf Barnes, der zum Fluss flüchtete. Dann verschwand seine blutende
Gestalt über einen Hügel.
Tamani ließ die schwere Pistole klirrend zu Boden
fallen. Laurel warf sich neben ihm auf die Knie und in seine Arme.
Er stöhnte ihr ins Ohr, aber als sie sich von ihm lösen wollte, zog
er sie fest an seine Brust.
»Mach mir nie, nie wieder solche Angst.«
»Ich?«, protestierte Laurel. »Hat er auf dich oder
mich geschossen?« Sie schlang die Arme um seinen Hals und zitterte
am ganzen Körper.
Ihr Kopf schoss hoch, als sie erneut Schritte auf
der Treppe hörte. Tamani schob sie ein wenig zur Seite, packte die
Pistole und zielte auf den Eingang.
Davids blasses Gesicht tauchte am Treppenabsatz
auf. Tamani seufzte und ließ die Waffe mit schlaffen Armen wieder
fallen.
»Ich habe die Schüsse gehört und Barnes wegrennen
sehen«, sagte er mit bebender Stimme. »Seid ihr zwei okay?«
»Beim Blick der Hekate, seid ihr beide nicht in der
Lage, Befehle zu befolgen?«, knurrte Tamani.
»Anscheinend nicht«, konterte Laurel trocken.
»Was war hier los?«, fragte David, der mit
aufgerissenen Augen das Ausmaß der Zerstörung betrachtete.
»Lass uns im Wagen weiterreden. Schnell, David,
Tamani braucht Hilfe.« Sie legten sich jeder einen seiner Arme über
die Schulter und hoben ihn hoch. Tamani wollte tapfer sein, aber
Laurel zuckte jedes
Mal zusammen, wenn ein ersticktes Stöhnen über seine Lippen kam.
Halb zogen, halb trugen sie ihn zur Tür, als Laurel plötzlich
stehen blieb. »Moment«, sagte sie und verlagerte Tamanis Gewicht
ganz auf David. Sie eilte zum Schreibtisch zurück und betrachtete
die Dokumente. Die oberste Schicht war mit Blut bespritzt.
Orkblut, dachte Laurel und schnitt eine Grimasse. Doch sie
holte tief Luft und legte sie beiseite. Sie nahm alles mit, worin
ihre Mutter oder die Adresse des Grundstücks erwähnt wurden. Zum
Glück war es nur ein kleiner Stapel.
»Jetzt aber los«, sagte sie und half David wieder
beim Tragen.
Als sie an den Leichen der toten Orks vorbeikamen,
schwiegen sie. Die Sonne war mittlerweile richtig herausgekommen,
und Laurel konnte nur hoffen, dass niemand sie dabei beobachtete,
wie sie diese offensichtlich verletzte Person zum Auto schleppten.
Mit Verspätung fragte sie sich, ob außer David vielleicht noch
jemand die Schüsse gehört hatte. Sie ließ den Blick über die
anderen schäbigen Häuser in der Straße schweifen. Wahrscheinlich
spielte es ohnehin keine Rolle. Es hätte sie nicht gewundert, wenn
Schüsse in diesem Viertel an der Tagesordnung waren.
David legte Tamani auf den Rücksitz und versuchte,
es ihm bequem zu machen, aber Tamani schüttelte seine Hände ab.
»Bringt mich nur zu Shar. Beeilt euch.«
David hielt Laurel die Tür auf, aber sie schüttelte
den Kopf und setzte sich, ohne David anzusehen, nach hinten neben
Tamani.
Sie zog seinen Kopf und seine Brust auf ihren Schoß
und er klammerte sich an sie wie ein Kind. Jedes Mal wenn David
über einen Hubbel fuhr, stöhnte Tamani auf. Er war bleich und seine
schwarzen Haare waren schweißnass. Als Laurel wollte, dass er die
Augen öffnete, weigerte er sich. Sein Atem wurde immer flacher, und
Laurel sah zu David hoch, der sie im Rückspiegel beobachtete.
»Kannst du nicht schneller fahren?«, flehte sie.
David verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf.
»Schneller geht es wirklich nicht, Laurel. Stell dir vor, die
Bullen winken uns raus und sehen Tamani! Das Risiko ist einfach zu
hoch!« Ihre Blicke trafen sich im Rückspiegel.
»Ich fahre, so schnell es eben geht –
versprochen.«
Laurel kamen die Tränen, aber sie gab sich damit
zufrieden und verdrängte das Gefühl, dass Tamani sich weniger stark
an sie klammerte.
Die Straße war fast leer, aber Laurel wagte die
ganze Strecke durch Crescent City und Klamath über kaum zu atmen,
wenn sie andere Autos überholten. Einmal schaute ein Mann zu ihr
rüber, und sofort fragte sie sich, ob er unter der Sonnenbrille
unterschiedliche Augen verbarg. Als sie sich schon beinahe sicher
war, dass er ein Ork war, der sie endgültig beseitigen sollte,
wandte er den Blick ab und fuhr links ab.
Endlich bogen sie auf die Zufahrtsstraße zu ihrem
Grundstück ab. Die Schotterpiste war zwar voller Schlaglöcher,
aber von Tamani kam kein Protest mehr. Als David schließlich
anhielt, konnte Laurel nur noch flüstern: »Bitte beeil dich,
David.«
David rannte um das Auto herum und half ihr, Tamani
zu bergen. Sie zogen ihn hinters Haus und den mittlerweile
vertrauten Pfad entlang. Kaum hatten sie den Waldrand passiert,
rief Laurel schluchzend: »Shar! Shar! Hilfe! Hilfe!«
Beinahe augenblicklich erschien Shar hinter einem
Baum. Falls er geschockt war, konnte man es ihm zumindest nicht
ansehen. »Ich übernehme ihn«, sagte er ruhig. Er nahm Laurel und
David die reglose Gestalt ab und legte Tamani sanft über die
Schulter. »Du darfst nicht weitergehen«, sagte Shar zu David.
»Heute nicht.«
David runzelte die Stirn; er sah Laurel an. Sie
warf sich in seine Arme, flüsterte: »Es tut mir leid« und wandte
sich zum Gehen.
David langte nach ihrer Hand. »Du kommst doch
zurück?«, fragte er.
Laurel nickte. »Das verspreche ich dir.« Dann zog
sie ihre Hand weg und eilte hinter Tamanis schlaffer Gestalt
her.
Als David nicht mehr in Sichtweite war, traten
weitere Elfen hervor und verteilten Tamanis Gewicht auf ihre
Schultern – eine Parade unglaublich schöner Männer, einige darunter
in Tarnrüstung. Je mehr Elfen erschienen, umso besser ging es
Laurel. Tamani war
nicht mehr allein, die anderen würden einen Weg finden, ihm zu
helfen. An diesem Glauben hielt sie fest. Die Elfen trugen ihn über
einen gewundenen Pfad, der ihr seltsam unbekannt vorkam, bis sie an
einem uralten Baum stehen blieben. Seine Blätter hatten sich trotz
der eiskalten Spätherbstluft nicht verfärbt.
Einige Elfen legten abwechselnd eine Hand in eine
Mulde in der Rinde, bis Shar endlich Tamanis Hand an den Stamm
legte. Sekundenlang bewegte sich niemand, nichts geschah. Doch dann
schwankte der Baum auf einmal, und Laurel holte überrascht Luft,
als sich knapp über dem Boden ein Riss zeigte. Der Spalt
verbreiterte sich und wandelte den Stamm in eine Art Torbogen. Die
Luft flimmerte und funkelte, bald strahlte alles so, dass Laurel
kaum noch hinsehen konnte. Dann zuckte ein Blitz so grell, dass sie
blinzeln musste. In dem kurzen Augenblick, in dem sie die Augen
geschlossen und wieder geöffnet hatte, war die schimmernde Luft zu
einem goldenen Tor geworden, geschmückt mit strahlend weißen Blüten
und unendlich vielen glitzernden Edelsteinen.
»Ist das etwa das Tor von Avalon?«, fragte Laurel
atemlos.
Shar beachtete sie kaum. »Haltet sie zurück;
Jamison kommt rüber.«
Erst als verschränkte Speere Laurel den Weg
versperrten, fiel ihr auf, dass sie auf den Baum zugegangen war.
Der Wunsch, die Speere beiseitezuschieben und zu dem funkelnden Tor
zu laufen, war überwältigend,
aber sie zwang sich, an Ort und Stelle stehen zu bleiben. Das Tor
bewegte sich und schwang in einem Bogen langsam nach außen, während
die Elfen zurücktraten und Platz machten. Obwohl Laurel nach
Kräften durch die Speere lugte, konnte sie nicht viel erkennen.
Doch sie sah einen smaragdgrünen Baum unter einem Streifen
Himmelblau, Sonnenstrahlen, die wie Diamanten glitzerten. Ein Duft
nach frischer Erde umhüllte sie, gemischt mit einem berauschenden
Geruch, den sie nicht zuordnen konnte. Auf der anderen Seite des
funkelnden Tores wartete ein weißhaariger Mann in einer lang
wallenden silbernen Robe. Als er auf Tamani zuging, starrte Laurel
ihn sprachlos an. Er strich Tamani über das Gesicht und sah sich zu
den Elfen um, die hinter ihm mit einer Krankenbahre standen.
»Legt ihn rasch darauf«, ordnete er an. »Er welkt
dahin.«
Tamani wurde auf die weiche weiße Bahre gelegt, und
Laurel musste zusehen, wie er in das strahlende Licht gebracht
wurde, das aus dem Tor strömte. Sie konnte nur hoffen, dass es ihm
jetzt besser ginge und sie ihn wieder sehen würde. Wer in eine
solch wundervolle Welt eintrat, musste doch wieder gesund werden.
Als sie aufschaute, ruhte der Blick des alten Elfs auf ihr. »Ich
nehme an, das ist sie«, sagte er. Seine Stimme war so lieblich, so
melodisch wie nicht von dieser Welt. Er ging auf sie zu, als
schwebte er, und sie sah in sein Gesicht, das nicht schöner hätte
sein können. Der Elf schien von innen zu leuchten, seine Augen
waren blau
und sanft, mit Falten in den Augenwinkeln, die nicht in
unregelmäßigen Dellen verliefen, wie bei Maddie, sondern säuberlich
geordnet wie Plissees aussahen. Als der Elf Laurel ein sanftes
Lächeln schenkte, schwanden die Schmerzen der letzten
vierundzwanzig Stunden dahin.
»Du warst sehr tapfer«, sagte Jamison mit seiner
lieblichen Engelsstimme. »Wir hätten nicht erwartet, dass du so
früh gebraucht wirst. Aber was läuft schon nach Plan, nicht
wahr?«
Laurel warf einen Blick durch das Tor, wo sie
gerade noch Tamanis Scheitel erkennen konnte. »Wird er … wird er
wieder gesund?«
»Mach dir keine Sorgen. Tamani war schon immer
stärker, als alle dachten. Vor allem wenn es um dich ging. Wir
werden ihn gut pflegen.« Er legte ihr eine Hand auf die Schulter
und wies auf den ihr unbekannten Weg. »Gehen wir ein Stück
zusammen?«
Obwohl sie den Blick nicht vom Tor nach Avalon
losreißen konnte, antwortete sie automatisch: »Sehr gerne.«
Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her,
bis Jamison stehen blieb und sie bat, sich mit ihm auf einen
Baumstamm zu setzen. Ihre Schultern berührten sich beinahe.
»Erzähle mir von den Orks«, sagte er. »Es hat offenbar Probleme
gegeben.«
Laurel berichtete, wie überaus vorsichtig und mutig
Tamani zu Werke gegangen war. Respekt blitzte in Jamisons Augen
auf, als sie beschrieb, dass Tamani
nichts verraten hatte, obwohl er angeschossen war. Erst wollte sie
ihm gar nichts von ihrer Rolle in dem Ganzen erzählen, aber auf
einmal berichtete sie, wie sie die Pistole in der Hand gehabt
hatte, aber erst auf das Ungeheuer schießen konnte, als es um Leben
und Tod ging. Und wie es selbst in dem Moment eher Zufall als
Absicht gewesen war.
»Er ist also entkommen?« In der Frage lag keine
Verurteilung.
Laurel nickte.
»Daran bist nicht du schuld, glaub mir. Tamani ist
ein ausgebildeter Wachtposten, der seine Arbeit sehr ernst nimmt.
Doch du bist dazu da, um zu heilen, nicht um zu töten. Ich wäre
sehr enttäuscht von dir gewesen, wenn du es geschafft hättest,
jemanden umzubringen, selbst wenn es ein Ork gewesen wäre.«
»Aber er weiß jetzt Bescheid. Er kennt mich.«
Jamison nickte. »Er weiß sogar, wo du wohnst. Du
musst auf der Hut sein. Zum Wohle deiner Eltern wie auch zu deinem
eigenen. Ich ernenne dich zu ihrer Beschützerin. Nur du kennst die
Geheimnisse, die ihr Überleben sichern.«
Laurel dachte an ihren Vater, der sterbend im
Krankenhaus lag und vielleicht gerade den letzten Zug tat. »Mein
Vater liegt im Sterben, in wenigen Tagen sind nur noch meine Mutter
und ich da. Ich kann nicht erfüllen, was Ihr von mir wünscht«,
sagte sie mit bebender Stimme. Sie ließ den Kopf in ihre Hände
sinken und gab sich ihrer Verzweiflung hin.
Auf der Stelle nahm der alte Elf sie in den Arm und
drückte sie an seine Robe, die ihr Gesicht so weich umhüllte wie
Daunen. »Vergiss nie, dass du eine von uns bist«, flüsterte er ihr
ins Ohr. »Wir sind da und helfen dir, so gut wir können. Du hast
ein Recht auf unsere Hilfe, so wie auf dein Erbe.« Jamison holte
ein funkelndes Fläschchen aus den Tiefen seiner wallenden Robe, das
eine dunkelblaue Flüssigkeit enthielt. »Für schwierige Zeiten«,
sagte er. »Unsere Herbstelfen haben dieses seltene Elixier vor
vielen Jahren gebraut. Heutzutage stellen wir nur noch sehr wenige
Zaubertränke zum Wohl der Menschen her, aber dir wird es jetzt von
Nutzen sein. Wer weiß, vielleicht brauchst du es auch in Zukunft
noch? Zwei Tropfen in den Mund träufeln, das dürfte reichen.«
Mit zitternden Händen nahm Laurel das winzige
Fläschchen entgegen. Jamison umschloss ihre Hände mit seinen und
sagte mit einem warnenden Unterton: »Pass gut darauf auf. Ich bin
mir nicht sicher, ob unter uns noch eine Herbstelfe weilt, die
stark genug wäre, ein solches Elixier zu brauen. Jedenfalls jetzt
noch nicht.«
Als Laurel nickte, fuhr Jamison fort:
»Wir möchten dir noch bei einer anderen Sache
behilflich sein. Es handelt sich aber«, hier hob er einen langen
Finger, »um ein Angebot, an das sich eine Bedingung knüpft.«
»Was immer Ihr benötigt«, sagte Laurel ernst, »ich
werde es tun.«
»Die Bedingung hängt nicht von dir ab. Bitte nimm.«
Als er seine Hand öffnete, lag ein fast golfballgroßes Teil darauf,
das wie ein ungeschliffener Kristall aussah. »Ich bitte dich, dies
deiner Mutter anzubieten.« Jamison drückte Laurel den Stein in die
Hand. Mit aufgerissenen Augen starrte sie auf das Juwel und fragte:
»Ist das ein Diamant?«
»Ja, mein Kind. In dieser Größe sollte er für all
eure Bedürfnisse aufkommen. So lautet unser Angebot: Du weißt, dass
wir dich nur deshalb bei menschlichen Eltern untergebracht haben,
damit du nach ihrem Tod das Grundstück erhältst.« Als Laurel
nickte, fuhr er fort: »Die jüngsten Ereignisse haben diesen Zweck
noch dringlicher gemacht und die Eigentumsübertragung muss
unbedingt beschleunigt werden. Wenn deine Eltern einwilligen, das
Grundstück in deinem Namen treuhänderisch verwalten zu lassen,
sobald es der gesundheitliche Zustand deines Vaters erlaubt, sollen
sie diesen Edelstein erhalten. Was du ihnen erzählst, wie und wie
viel, kannst nur du entscheiden.« Äußerst entschieden drängte er
Laurel: »Dieses Land muss dir gehören, Laurel. Und wie du siehst,
sind wir mehr als bereit, einen hohen Preis dafür zu
bezahlen.«
Laurel steckte den Edelstein in die Tasche und
versicherte dem alten Elf: »Sie werden zustimmen, da bin ich mir
ganz sicher.«
»Das glaube ich auch«, sagte Jamison. »Jetzt beeil
dich, Laurel. Die Zeit deines Vaters misst sich im Augenblick nur
mehr in Stunden als in Tagen.«
»Vielen Dank«, flüsterte Laurel und wandte sich zum
Gehen.
»Ach, Laurel?«
»Ja?«
»Ich denke, wir sehen uns bald wieder. Sehr bald
sogar.« Seine Augen funkelten, als er sanft und wissend
lächelte.