Zwei
Als es nach Bio schellte, packte Laurel das blöde Biobuch so tief wie möglich in ihren Rucksack.
»Und, wie war dein zweiter Tag?«
David saß verkehrt herum auf einem Stuhl ihr gegenüber. »Ganz okay.« Jedenfalls hatte sie immer sofort reagiert, wenn man sie aufgerufen hatte.
»Bist du so weit?«
Laurel wollte lächeln, aber ihr Mund gehorchte ihr nicht. Als sie zugestimmt hatte, sich zum Mittagessen mit David und seinen Freunden zu treffen, hatte sie die Idee gut gefunden. Aber jetzt wurde ihr eng um die Brust vor lauter Angst, so viele Unbekannte treffen zu müssen. »Ja.« Überzeugend klang sie nicht, das hörte sie auch.
»Bist du sicher? Du musst nicht, das weißt du.«
»Doch, ich bin sicher«, antwortete sie rasch. »Ich packe nur schnell zusammen.« Langsam stopfte sie ihren Notizblock und die Stifte in den Rucksack. Als sie einen Bleistift fallen ließ, hob David ihn auf und reichte ihn ihr. Sie zog daran, aber er ließ nicht los, bis sie ihn ansah. »Sie beißen nicht«, sagte er ernst. »Versprochen.«
Im Flur bestritt David die Unterhaltung allein und redete über alles und nichts, bis sie die Cafeteria betraten. Er winkte einer Gruppe zu, die am Ende eines langen schmalen Tisches saß. »Komm«, sagte er und legte ihr die Hand auf den Rücken.
Die Berührung fühlte sich ein bisschen komisch an, aber auch tröstlich. David führte sie durch den wuseligen Gang und ließ die Hand sinken, sobald sie am richtigen Tisch angekommen waren.
»Hey, Leute, das ist Laurel.«
David zeigte auf jeden Einzelnen und nannte den Namen, aber fünf Sekunden später hatte Laurel sie alle wieder vergessen. Sie setzte sich auf einen leeren Stuhl neben David und versuchte, hier und da etwas von der Unterhaltung aufzuschnappen. Geistesabwesend holte sie eine Dose Limo, einen Erdbeer-Spinat-Salat und einen in Saft eingelegten Pfirsich heraus – das Mittagessen, das ihre Mutter ihr eingepackt hatte.
»Salat? Heute ist Lasagne-Tag und du isst Salat?«
Laurel schaute zu einem Mädchen mit braunen Locken, vor dem ein voll beladenes Tablett mit dem Schulkantinenessen stand. Bevor Laurel antworten konnte, schaltete David sich ein. »Laurel ist Veganerin – eine ziemlich strenge.«
Das Mädchen musterte den kleinen Pfirsich mit hochgezogener Augenbraue. »Sieht nicht besonders vegan aus. Essen Veganer nicht auch Brot?«
Mit angespanntem Lächeln antwortete Laurel: »Wenig.«
David verdrehte die Augen. »Die Person, die dich gerade verhört, heißt übrigens Chelsea. Hi, Chelse.«
»Du siehst aus, als wärst du auf irgendeiner Mega-Diät«, fuhr Chelsea unbeeindruckt fort.
»Nö, ich esse eben das, was ich mag.«
Laurel merkte, dass Chelsea wieder auf ihren Salat schaute und gleich noch mehr Fragen ausspucken würde. Wahrscheinlich war es besser, gleich auszupacken, als zwanzig Fragen zu beantworten. »Mein Verdauungstrakt kommt mit normalem Essen nicht so gut klar«, erklärte sie. »Ich vertrage nur Obst und Gemüse.«
»Komisch. Wer kann denn nur von Grünzeug leben? Warst du damit beim Arzt? Weil …«
»Chelsea?« Davids Tonfall war deutlich, aber leise. Laurel bezweifelte, dass die anderen am Tisch überhaupt etwas gehört hatten.
Chelseas dunkelbraune Augen weiteten sich ein wenig. »Oh, entschuldige.« Als sie lächelte, strahlte sie plötzlich über das ganze Gesicht. Laurel musste einfach zurücklächeln. »Schön, dich kennenzulernen«, sagte Chelsea. Dann wandte sie sich ihrem Essen zu und schenkte Laurels Salat keinerlei Beachtung mehr.
Die Mittagspause dauerte nur achtundzwanzig Minuten – das fanden alle zu kurz -, aber an diesem Tag zog sie sich für Laurel ewig hin. Die Cafeteria war ziemlich klein und die Stimmen prallten wie Tischtennisbälle von den Wänden ab und taten ihren Ohren weh. Laurel hatte das Gefühl, als würden alle gleichzeitig auf sie einbrüllen. Mehrere Freunde von David versuchten, sie ins Gespräch zu ziehen, aber Laurel konnte sich nicht konzentrieren, da es minütlich heißer zu werden schien. Wieso merkte das denn keiner?
An diesem Morgen hatte sie statt eines Tanktops ein normales T-Shirt angezogen, weil sie sich am Vortag so merkwürdig vorgekommen war. Aber jetzt kam es ihr so hochgeschlossen vor, als trüge sie einen Rollkragen. Einen engen Rollkragen. Als es endlich schellte, verabschiedete sie sich lächelnd, war aber bereits durch die Tür, bevor David sie einholen konnte.
Sie rannte zur Toilette, stellte ihren Rucksack am Fenster auf den Boden und drängte mit dem Gesicht an die frische Luft. Sie atmete die kühle salzige Luft ein und fächerte sie sich ins T-Shirt, damit ihr Körper so viel wie möglich davon abbekam. Die leichte Übelkeit, die sie beim Mittagessen empfunden hatte, ließ nach, und sie fühlte sich besser, als sie gerade noch rechtzeitig von der Toilette zu ihrem nächsten Klassenraum eilte.
Nach der Schule schlenderte sie langsam nach Hause. Die Sonne und die frische Luft gaben ihr neue Kraft und verscheuchten die letzten Reste des Unwohlseins. Trotzdem griff sie am nächsten Morgen wieder zum Tanktop.
Gleich zu Beginn der Biostunde setzte David sich neben sie. »Einverstanden?«, fragte er, als er bereits dasaß, sodass sie nicht wirklich protestieren konnte. Aber sie hatte sowieso nichts dagegen und schüttelte den Kopf. »Das Mädchen, das sonst hier sitzt, verbringt die ganze Stunde damit, Herzchen für irgendeinen Steve zu malen. Das lenkt mich echt ab.«
David lachte. »Bestimmt für Steve Tanner. Er ist super beliebt.«
»Alle fahren immer auf die gleichen Typen ab«, sagte sie und schlug das Buch auf der Seite auf, die Mr James an die Tafel geschrieben hatte.
»Würdest du wieder mit mir Mittag essen – mit mir und meinen Freunden?«, fragte er noch schnell.
Laurel zögerte. Auf die Frage hatte sie schon gewartet, aber sie hatte noch keine Antwort parat, die seine Gefühle nicht verletzen würde. Sie mochte ihn sehr und fand auch seine Freunde sympathisch, nach dem zu urteilen, was sie so mitbekommen hatte. »Eher nicht«, setzte sie an, »ich …«
»Geht es um Chelsea? Sie wollte dir nicht zu nahe treten, wegen deines Mittagessens. Sie ist einfach immer total ehrlich – wenn man sich dran gewöhnt hat, kann das echt erfrischend sein.«
»Nein, das hat nichts mit ihr zu tun, deine Freunde waren echt nett. Aber ich kann … also, ich kann diese Cafeteria nicht ausstehen. Wenn ich schon den ganzen Tag drinnen sein muss, will ich wenigstens mittags draußen sein können. Ich fürchte, nach zehn Jahren Privatunterricht kann ich mich nicht so schnell umstellen.«
»Aber du fandest sie alle ganz nett?«, flüsterte er, während Mr James für Ruhe sorgte.
Laurel nickte.
»Und wenn wir alle draußen essen würden, was meinst du?«
Laurel schwieg, während sie dem Beginn eines Vortrags über Phyla lauschte. »Das fände ich schön«, flüsterte sie schließlich.
Beim Schellen sagte David: »Wir treffen uns draußen. Ich sage den anderen nur kurz Bescheid, dann können sie mitkommen, wenn sie wollen.«
Laurel ging zu dem Platz, an dem sie und David am Vortag gegessen hatten. Nach drei Tagen kam ihr die Schule schon vertrauter vor; sie kannte sich besser aus, und auch die vielen Menschen, deren schiere Menge sie am Montag so fertiggemacht hatte, waren heute nicht mehr so schlimm.
Als sie ein halbwegs trockenes Rasenplätzchen gefunden hatte, setzte Laurel sich hin und wartete auf David. Kurz darauf kam er mit ungefähr zehn anderen Kids im Schlepptau auf sie zu. Es waren nicht alle mitgekommen, aber ein ansehnliches Grüppchen verteilte sich im Kreis und alle redeten durcheinander, genau wie in der Cafeteria.
Laurel hatte zwar anfangs Zweifel, was Chelsea anging, aber die strahlte sie einfach nur an, als sie sich neben ihr niederließ.
Wie David gesagt hatte, war Chelseas Ehrlichkeit ebenso erfrischend wie unterhaltend. Sie sprach einfach alles aus, was ihr in den Kopf kam. Am Anfang war das nicht besonders angenehm, als sie zum Beispiel Laurel zum Thema Privatunterricht verhörte und kundtat, dass ihrer Meinung nach ein Tanktop und Shorts in der Schule ähnlich passend waren wie ein Badeanzug. Doch gleichzeitig wies sie David an, sich Gel in die Haare zu schmieren, und machte einem gewissen Max klar, dass er in Englisch durchfallen würde, wenn sie ihm nicht zum wiederholten Mal ihre Aufzeichnungen überlassen würde, weshalb Laurel ihre Bemerkungen nicht persönlich nahm.
Nach der Pause kannte Laurel die Namen von immerhin der Hälfte der Leute und hatte in mehreren Unterhaltungen mitgemischt. Chelsea und David gingen mit ihr zu ihrem nächsten Kurs, was sich völlig normal anfühlte, und als David einen Witz über Mr James machte, hallte Laurels Lachen durch den ganzen Flur. Zum ersten Mal, seit sie aus Orick weggezogen waren, hatte Laurel das Gefühl dazuzugehören.