Fünfzehn
Es war bereits vier Uhr, als Laurel
ihr Fahrrad in die Garage stellte, viel später als dass sie
glaubhaft erzählen könnte, sie hätten so lange gelernt. Sie
wappnete sich gegen etwaige Vorwürfe und drückte die Haustür
auf.
Ihr Vater machte auf dem Sofa ein Nickerchen und
schnarchte in einem friedlichen vertrauten Rhythmus. Von ihm ging
schon mal keine Gefahr aus. Sie lauschte und hörte Flaschen in der
Küche klirren. »Mom?«, rief sie und bog um die Ecke.
»Da bist du ja. Die letzte Seite habt ihr aber
schnell geschafft, du und David. Ich habe doch erst vor einer
halben Stunde angerufen.«
»Äh, ja. War dann doch einfacher, als ich dachte«,
sagte Laurel rasch.
»Hattet ihr es nett? Er ist wirklich
freundlich.«
Laurel nickte, obwohl sie in Gedanken meilenweit
weg war, vierzig Meilen, um genau zu sein.
»Seid ihr beiden …«
»Was?« Laurel riss sich zusammen, um ihrer Mutter
zuzuhören.
»Ja, also, du verbringst sehr viel Zeit bei ihm; da
habe
ich mir gedacht, ob ihr zwei … vielleicht zusammenkommt.«
»Weiß ich nicht«, antwortete Laurel ehrlich.
»Vielleicht.«
»Ich will nur sagen – ich weiß, dass Davids Mutter
sehr viel arbeitet, sodass ihr beide lange dort allein seid. Die
Dinge geraten nun mal eher außer Kontrolle, wenn ihr in diesem
leeren Haus zusammen seid.«
»Ich passe auf, Mom«, sagte sie süßsauer.
»Darauf verlasse ich mich, aber ich bin deine Mom
und muss sagen, was gesagt werden muss«, erwiderte ihre Mutter
lächelnd. »Und denk dran«, fügte sie hinzu, »nur weil du deine
Periode noch nicht hast, heißt das nicht, dass du nicht schwanger
werden kannst.«
»Mom!«
»Ich meine ja nur.«
Laurel dachte daran, was Tamani ihr gerade erzählt
hatte. Die Fortpflanzung erfolgt durch Bestäubung, Sex macht
einfach nur Spaß. Was würde ihre Mutter wohl sagen, wenn sie
ihr erzählte, dass sie gar nicht schwanger werden konnte und
nie ihre Periode bekommen würde? Dass Sex für sie nur Sex
sein würde ohne all das, was sonst damit zusammenhing? Wenn es
irgendetwas gab, womit Laurel ihre Mutter ernsthaft
durcheinanderbringen könnte, wäre es das. Du meine Güte, sie hatte
es selbst noch nicht verinnerlicht.
»Mom«, sagte sie langsam, »ich möchte mit dir über
das Grundstück reden. Es war so lange in der Hand
unserer Familie. Und wir haben mein Leben lang dort gewohnt.« Sie
ließ den Kopf hängen, als sie an ihre echten Wurzeln dachte, ihr
wirkliches Zuhause. »Jedenfalls solang ich mich erinnern kann.«
Unerwartete Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie ihre Mutter
ansah. »Magischer kann es nirgends sein. Ich wünschte, du würdest
es nicht verkaufen.«
Ihre Mutter sah sie lange an. »Mr Barnes bietet uns
eine Menge Geld, Laurel. Wir könnten wieder all die Dinge kaufen,
die du gerne hättest und die wir uns in letzter Zeit nicht leisten
konnten.«
»Und wenn du nicht verkaufen würdest? Kämen wir
klar?«
Ihre Mutter seufzte und dachte kurz nach. »Das
Geschäft deines Vaters läuft gut, aber es gibt keine Garantie
darauf, dass es so weitergeht.« Sie stützte sich mit den Ellbogen
auf den Küchentisch.
»Wir müssten noch lange so knapp leben, Laurel, und
ich finde es nicht schön, mit so wenig Geld auskommen zu müssen. Du
bist nicht die Einzige, die hier Opfer bringen musste.«
Laurel schwieg. Ihre Aufgabe war zu schwer für eine
Fünfzehnjährige. Andererseits, dachte sie, bin ich kein
normales Mädchen. Der Gedanke munterte sie wieder auf, sodass
sie beharrlich bat: »Kannst du nicht wenigstens noch mal darüber
nachdenken? Sagen wir mal, eine Woche?«
Ihre Mutter verzog das Gesicht. »Mittwoch soll der
Vertrag unterschrieben werden.«
»Eine Woche? Bitte! Sag Mr Barnes doch einfach,
dass du noch eine Woche brauchst. Und wenn du wirklich eine Woche
darüber nachgedacht hast, gehe ich dir damit auch nie wieder auf
die Nerven.«
Ihre Mutter sah sie skeptisch an.
»Bitte?«
Ihre Züge wurden weicher. »Ich denke, Mr Barnes
wird sein Angebot nicht gleich zurückziehen, nur weil ich noch eine
Woche länger brauche.«
Laurel hüpfte um den Küchentisch und umarmte ihre
Mutter. »Danke«, flüsterte sie. »Das war mir sehr wichtig.«
»Besonders viel hat er dir ja nicht erzählt.«
David saß auf einem Barhocker in seiner Küche. Seine Mutter war
verabredet, sodass er und Laurel den Abend allein verbringen
konnten. Er aß Reste aus der Mikrowelle, und Laurel kritzelte etwas
auf einen Notizblock, um sich von dem Geruch abzulenken.
»Er hat mir genug erzählt«, sagte Laurel abwehrend.
»Ich hatte das Gefühl, er hätte mir gerne mehr erzählt, wenn er
gedurft hätte. Ich habe gemerkt, wie ihn das geärgert hat.«
»Er klingt irgendwie komisch.«
»Er ist eindeutig anders – und nicht nur vom
Aussehen.« Sie hielt mitten in einer Spirale inne und schaute auf,
während sie sich erinnerte. »Er ist sehr intensiv. Alles, was er
fühlt – ob gut oder schlecht -, scheint er verstärkt zu empfinden.
Das wirkt ansteckend.« Sie
kritzelte weiter. »Man möchte so fühlen wie er, aber man kommt
nicht mit, weil seine Gefühle so schnell wechseln. So viel
Leidenschaft muss anstrengend sein.« Sie erschauerte, als sie das
richtige Wort für ihn gefunden hatte. Leidenschaftlich,
dauernd und immer.
»Und habt ihr euch jetzt angefreundet?«
»Keine Ahnung.« In Wirklichkeit wusste sie sehr
genau, dass er sie wollte, dass er sie mit jeder Faser seines
Wesens wollte. Sie wusste auch, dass sie, obwohl es ihr
widerstrebte, für ihn dasselbe empfand. Es erschien ihr schon fast
illoyal, nach diesem Tag mit Tamani den Abend mit David zu
verbringen. Vielleicht fühlte es sich aber auch illoyal an, den Tag
mit Tamani verbracht zu haben. Das war schwer zu sagen.
Sie streckte die Hand zu dem Ring aus, den er ihr
gegeben und den sie sich an einer dünnen Kette um den Hals gehängt
hatte. Sie hatte ihn schon mindestens hundertmal an diesem Tag
berührt. Sofort hatte sie wieder das Gefühl, das sie hatte, als sie
mit ihm zusammen gewesen war. Bei diesem kurzen Besuch waren sie
mehr als Freunde geworden, nicht mehr, sondern etwas ganz anderes.
Das Wort Freund war zu belanglos, um ihre Verbindung zu
beschreiben. Es war wie ein Versprechen und das konnte sie David
nicht sagen. Es würde schwer genug sein, es einem unbeteiligten
Zuschauer zu erklären, und David war keineswegs unbeteiligt. Wenn
er auch nur eine Ahnung von den stürmischen Gefühlen hätte,
die sie für Tamani hegte, wäre er schrecklich eifersüchtig.
Das hieß aber nicht, dass sie David nicht gern
hatte. Er war ihr bester Freund und manchmal auch mehr. David war
das genaue Gegenteil von Tamani: Er ruhte in sich, dachte logisch
und konnte wunderbar trösten. Für ihn empfand sie kein wildes
Chaos, sondern spürte eine stille, starke Anziehung. Er war so
beständig in ihrem Leben, wie es Tamani nie sein konnte.
Als David endlich aufgegessen hatte, legte Laurel
das Notizbuch weg und sah ihn an. »Übrigens, vielen Dank für das
Alibi. Ich hätte nie gedacht, dass meine Mutter hier anruft.«
David zuckte die Achseln. »Du warst sehr lange weg,
und sie weiß, wie scharf du auf Biologie bist.«
»Ich habe heute Nachmittag etwas nachgelesen«,
sagte Laurel. »Du weißt doch, dass Pflanzen Kohlendioxid aus der
Luft aufnehmen und Sauerstoff wieder abgeben?«
»Ja, deshalb sollen wir die Bäume retten und
so.«
»Ich schließe daraus, dass ich keinen Sauerstoff
atmen sollte.«
»Das heißt … du glaubst, du atmest Kohlendioxid
ein?«
»Und Sauerstoff wieder aus, ja.«
»Das klingt logisch.«
»Und da habe ich mir gedacht«, setzte Laurel
langsam an, »dass wir vielleicht noch ein Experiment machen
könnten.«
David sah sie verwirrt an. »Bitte, aber welches
Experiment schwebt dir denn vor?«
Ȁh, Luft kann man sich nicht unter dem Mikroskop
ansehen, deshalb sehe ich die einzige Möglichkeit herauszufinden,
ob ich Sauerstoff ausatme, darin zu prüfen, ob du ihn problemlos
einatmen könntest.«
Allmählich dämmerte David, worauf das Ganze
hinauslaufen sollte. »Was schlägst du also vor?«, fragte er mit der
Andeutung eines Lächelns in den Mundwinkeln.
»Na ja, ich stelle mir etwas Ähnliches vor wie
Mund-zu-Mund-Beatmung. Nur musst du erst in meinen Mund ausatmen
und dann, ohne noch mal Luft zu holen, atme ich in den deinen aus.«
Sie warf ihm einen kurzen Blick zu und platzte heraus: »Aber du
musst das nicht tun, wenn du nicht willst. War nur so eine Idee von
mir.«
»Ich bin beeindruckt«, sagte David. »Du hast deine
eigenen Biologiestudien betrieben.«
Laurel verdrehte die Augen, musste aber auch
grinsen. »Mein Freund heißt Google.«
David schnaubte und versuchte, es hustend zu
kaschieren.
Laurel sah ihn böse an.
»Es klingt einleuchtend«, sagte er. »Also
los.«
Er drehte sich zu ihr, sodass sich ihre Knie
berührten.
»Du musst erst Luft holen und zehn Sekunden
anhalten, damit deine Lungen den Sauerstoff in Kohlendioxid
umwandeln können. Dann pustest du das in
meinen Mund und ich atme es ein. Danach warte ich zehn Sekunden
und atme es in deinen Mund wieder aus. Okay?«
David nickte.
Es klang ganz einfach. Außer dass es Mund-zu-Mund
sein musste. Aber das würde sie hinkriegen.
Oder?
Davids Brust weitete sich, als er die Lungen voller
Luft sog, und sein Gesicht lief rot an, während er die Luft
anhielt.
Jetzt gab es kein Zurück mehr.
Nach ungefähr zehn Sekunden gab er ihr ein Zeichen
und beugte sich vor, den Blick fest auf ihren Mund gerichtet. Sie
konzentrierte sich, als sie ihm entgegenkam. Ihre Lippen berührten
sich sanft, und Laurel kam so durcheinander, dass sie nervös nach
Luft schnappte. Dann drückte David seinen Mund fester auf ihren und
atmete in ihren Mund aus. Sie ließ die Luft in ihre Lungen.
Er lehnte sich zurück, und Laurel machte den
Fehler, ihn anzusehen. Sie lächelte und schaute wieder weg, als sie
bis zehn zählte. Dann beugte er sich wieder vor und zupfte sanft an
ihrer Schulter.
Diesmal traf Laurel ihn ohne Zögern auf der Hälfte
der Strecke. Sein Mund presste sich auf ihren und er öffnete die
Lippen einen kleinen Spalt. Sie pustete all die Luft aus ihren
Lungen in seinen Mund zurück und spürte, wie er einatmete. Er
verweilte noch kurz, zog sich dann zurück und ihre Körper trennten
sich.
»Wow.« David atmete aus und strich sich mit den
Fingern durchs Haar. »Wow, das war unglaublich. Mir dreht sich der
Kopf. Ich glaube, du atmest reinen Sauerstoff aus.«
»Nicht dass du mir vom Stuhl fällst.« Sie legte ihm
die Hände auf die Beine.
»Es geht mir gut«, sagte David und atmete langsam
und regelmäßig. »Gib mir noch ein paar Sekunden.« Er senkte die
Hände und legte sie auf ihre, die noch immer seine Beine hielten.
Als sie zu ihm hochschaute, saugte er an seiner Unterlippe und
grinste dann.
»Was ist denn so komisch?«
»Entschuldigung«, sagte David. »Du schmeckst
einfach so süß.«
»Was meinst du mit süß?«
Er leckte sich noch mal über die Unterlippe. »Du
schmeckst nach Honig.«
»Honig?«
»Ja. Ich dachte neulich schon, ich spinne … an
diesem einen Tag, du weißt schon. Aber heute war es genauso. Du
hast wirklich einen süßen Mund.« Er hielt einen Moment inne und
grinste dann wieder. »Also doch kein Honig – eher Nektar. Das
leuchtet ein.«
»Super. Von jetzt an darf ich das allen erklären,
die ich küsse, es sei denn, du bist es oder … oder ein Elf.«
Beinahe wäre ihr Tamanis Name rausgerutscht. Ihre Hand flog zu dem
Ring um ihren Hals.
David zuckte mit den Schultern. »Dann küss doch
einfach nur noch mich.«
»David …«
»Ich erwähne nur die völlig offensichtliche
Lösung«, sagte er und hob protestierend die Hände.
Sie lachte. »Wenigstens wird mich das davon
abhalten, so wie andere Mädchen zu werden, die jeden küssen.«
David schüttelte den Kopf. »So wärst du sowieso
nicht geworden. Dafür hast du zu viel Gefühl. Du würdest dir Sorgen
machen, ob du jedem Typen, den du küsst, das Herz brichst.«
Sie war sich nicht sicher, ob das ein Kompliment
sein sollte, aber es fühlte sich so an. »Äh, danke.«
»Was ist das denn eigentlich?«, fragte er und
zeigte auf ihre Kette. »Du spielst ständig daran rum.«
Laurel ließ den Ring wieder unter ihr T-Shirt
gleiten. Er wirkte wie ein Talisman, der sie immer an Tamani denken
ließ. Sie überlegte, ob Tamani das wohl gewusst hatte, als er ihr
den Ring schenkte. Es überraschte sie, dass diese Vorstellung sie
nicht aufbrachte. »Ein Ring«, gestand sie David endlich. »Tamani
hat ihn mir geschenkt.«
David warf ihr einen unergründlichen Blick zu.
»Tamani hat dir einen Ring geschenkt?«
»Es ist nicht, wie du denkst. Das ist ein Babyring.
Den bekommen angeblich alle Elfen, wenn sie klein sind.« Entgegen
ihrem Impuls, den Ring wie ihr ganz besonderes Geheimnis zu
behandeln, zog sie die Kette hervor und zeigte David den winzigen
Reif.
»Wirklich sehr hübsch«, grummelte er. »Warum hat er
ihn dir gegeben?«
Laurel tat die Frage lässig ab. »Keine Ahnung. Er
wollte einfach, dass ich ihn habe.«
David betrachtete ihn lange, bevor er ihn auf ihre
Brust zurückfallen ließ.