Fünf
Als am Samstag die Sonne aufging,
war es kühl, doch sie würde den leichten Nebel wahrscheinlich bis
Mittag vertrieben haben. Laurel sah voraus, dass die Chancen
hundert zu eins standen, dass jemand in den kalten Pazifik sprang,
freiwillig oder auch nicht, und war doppelt froh, dass sie von
vornherein abgesagt hatte. Sie blieb noch ein paar Minuten im Bett
liegen und schaute dem Sonnenaufgang zu – schichtweise gingen Rosa
und Orange in ein weiches diesiges Blau über. Die meisten Leute
sahen sich hin und wieder einen Sonnenuntergang an, aber Laurel
fand den Sonnenaufgang viel atemberaubender. Sie reckte und
streckte sich und setzte sich im Bett auf, noch immer mit Blick aus
dem Fenster. Sie stellte sich vor, wie hoch der Prozentsatz der
Menschen war, die in ihrem Städtchen diesen unglaublichen Anblick
verschliefen. Zum Beispiel ihr Vater. Dieser Langschläfer stand
samstags – oder schlaftags, wie er es nannte – fast nie vor zwölf
Uhr auf.
Bei der Vorstellung musste sie lächeln, aber die
Wirklichkeit drängte bald wieder in den Vordergrund. Sie ließ die
Finger über ihre Schulter wandern und riss vor
Schreck die Augen weit auf. Sie musste einen Schrei unterdrücken,
als die andere Hand zur ersten stieß, um deren Wahrnehmung zu
überprüfen.
Der Knubbel war weg.
Doch etwas war da, etwas Langes, Kaltes – das viel
größer war, als der Knubbel jemals gewesen war.
Laurel fluchte, weil sie nicht zu den Mädchen
gehörte, die einen Spiegel in ihrem Zimmer hatten, und verrenkte
sich den Kopf. Doch sie konnte nur abgerundete Ecken von etwas
Weißem sehen, worauf ihr die Sicht versperrt war. Sie warf die
dünne Bettdecke ab und lief zur Tür. Dann drehte sie lautlos den
Türknauf und öffnete die Tür einen winzigen Spalt breit. Sie hörte,
wie ihr Vater schnarchte, doch ihre Mutter stand manchmal sehr früh
auf und verhielt sich dann sehr leise. Laurel machte die Tür weit
auf – zum ersten Mal war sie dankbar für geölte Scharniere – und
schlich mit dem Rücken zur Wand durch den Flur zum Badezimmer. Als
ob das was nützte.
Mit zitternden Händen stieß sie die Badezimmertür
auf und machte sich am Schloss zu schaffen. Sie konnte erst wieder
richtig atmen, als endlich abgeschlossen war, und lehnte den Kopf
an das raue unbearbeitete Holz der Tür, bis ihr Atem ruhiger ging.
Mit den Fingern ertastete sie den Lichtschalter, holte tief Luft,
blinzelte die schwarzen Punkte vor ihren Augen fort und ging zum
Spiegel.
Sie musste sich noch nicht mal umdrehen, um die
neueste Entwicklung zu begutachten. Über beiden
Schultern waren lange blauweiße Teile zu sehen. Einen Augenblick
lang starrte Laurel die blassen Dinger wie verzaubert an. Sie waren
erschreckend schön, fast zu schön, um sie zu beschreiben.
Langsam drehte sie sich um, damit sie sie besser
sehen konnte. Eine Art Blütenblätter spross dort, wo der Knubbel
gewesen war, und bildete einen sanft geschwungenen Stern auf ihrem
Rücken. Die längsten Blätter, die sich über ihre Schultern
fächerten und um ihre Taille lugten, waren über fünfunddreißig
Zentimeter lang und so breit wie ihre Hand. Kleinere Blütenblätter,
die vielleicht fünfundzwanzig bis dreißig Zentimeter lang waren,
rankten sich um die Mitte und breiteten sich da aus, wo noch Platz
war. Wo die Riesenblume aus ihrer Haut spross, wuchsen sogar einige
grüne Blättchen.
Die Blütenblätter waren im Ursprung dunkelblau und
verblassten zur Mitte zu einem weichen Himmelblau, das an den
Spitzen in Weiß überging. Die Ränder waren gekräuselt und sahen den
Usambaraveilchen, die ihre Mutter mit viel Mühe in der Küche zog,
unheimlich ähnlich. Es waren bestimmt zwanzig weiche,
blütenblättermäßige Teile – wenn nicht mehr.
Laurel drehte sich wieder zum Spiegel und starrte
auf die schwebenden Blütenblätter neben ihrem Kopf. Sie sahen fast
wie Flügel aus.
Ein lautes Klopfen riss Laurel aus ihrer Trance.
»Bist du bald fertig?«, fragte ihre Mutter verschlafen. Laurel grub
die Fingernägel in ihre Handflächen, während sie
weiter entsetzt die riesigen weißen Dinger musterte. Hübsch waren
sie ja, aber wem wuchs schon eine Riesenblume auf dem Rücken? Das
war zehn- nein hundert Mal schlimmer als der Knubbel. Wie
sollte sie das noch verstecken? Vielleicht konnte sie die Blüten
einfach ausrupfen. Sie griff sich eins der länglichen Dinger und
zog. Der Schmerz schoss durch ihre Wirbelsäule, und sie musste sich
fest in die Wange beißen, um nicht zu schreien. Doch ein Wimmern
konnte sie nicht unterdrücken.
Ihre Mutter klopfte noch mal. »Laurel, ist alles
okay?«
Laurel atmete mehrmals tief ein, bis der Schmerz
nur noch leise pochte und sie wieder sprechen konnte. »Alles in
Ordnung«, sagte sie mit einem leisen Beben in der Stimme. »Bin
gleich fertig.« Verzweifelt suchte sie das Badezimmer nach etwas
Brauchbarem ab. Das dünne Trägernachthemd konnte sie vergessen. Sie
nahm ihr großes Badehandtuch, warf es sich um die Schultern und zog
es eng an den Körper. Mit einem schnellen Blick in den Spiegel
vergewisserte sie sich, dass keine gigantischen Blütenblätter in
Sicht waren, und öffnete die Tür mit einem gezwungenen Lächeln.
»Entschuldige, dass ich so lange gebraucht habe.«
Sarah blinzelte. »Hast du geduscht? Ich habe das
Wasser gar nicht laufen hören.«
»Nur kurz.« Sie zögerte. »Ich hatte keine Lust, mir
die Haare zu waschen«, ergänzte sie.
Doch ihre Mutter war noch gar nicht richtig wach.
»Komm runter, wenn du angezogen bist, dann mache
ich dir Frühstück«, sagte sie gähnend. »Scheint ein schöner Tag zu
werden.« Laurel zischte hinter ihrer Mutter her bis in ihr Zimmer.
Da sie es nicht abschließen konnte, sperrte sie einen Stuhl unter
die Klinke, wie sie es in Filmen gesehen hatte. Nicht dass die
Konstruktion besonders stabil aussah. Wahrscheinlich würde sie
sofort nachgeben, aber mehr war im Moment nicht drin.
Laurel ließ das Handtuch fallen und untersuchte die
zusammengedrückten Blätter. Sie waren ein bisschen verwuschelt,
taten aber nicht weh. Sie zog ein langes Stück über eine Schulter
und schaute genau hin. Der große Knubbel war eine Sache gewesen,
aber was sollte sie hiermit anfangen?
Sie beschnüffelte das weiße Ding, ließ es wieder
los und roch noch mal daran. Es roch wie eine Fruchtblüte, nur
stärker. Viel stärker. Der betäubende Duft parfümierte
bereits das Zimmer. Wenigstens stank das Riesenteil nicht. Sie
würde ihrer Mutter etwas von einem neuen Parfüm erzählen müssen.
Laurel sog noch einmal den Duft ein und wünschte, etwas so
Wohlriechendes könnte man wirklich in der Parfümerie kaufen.
Als ihr das unglaubliche Ausmaß ihrer Situation
klar wurde, drehte sich alles um Laurel. Es schnürte ihr die Brust
zu, während sie überlegte, was zu tun war.
Erst mal das Wichtigste: Sie musste es
verstecken.
Laurel öffnete den Schrank und stellte sich davor,
auf der Suche nach etwas, womit sie eine Riesenblume verstecken
konnte, die auf ihrem Rücken blühte. Doch das hatte sie nicht im
Sinn gehabt, als sie im August einkaufen war. Laurel stöhnte
angesichts der vielen dünnen Blusen und Kleider. Die waren kaum
dazu geeignet, irgendwas zu verbergen.
Sie durchwühlte ihre Sachen und wählte mehrere Tops
aus. Nachdem sie geprüft hatte, ob die Luft rein war, rannte sie
ins Badezimmer zurück. Sie schwor sich, noch am gleichen Tag einen
Spiegel für ihr Zimmer zu kaufen. Die Tür knallte lauter zu als
beabsichtigt, aber als sie ihr Ohr an das kühle Holz legte, war von
ihrer Mutter nichts zu hören.
Das erste Top passte erst gar nicht über die
Riesenblume. Sie starrte sie im Spiegel an. Das musste irgendwie
anders gehen.
Sie nahm so viele lange weiße Blütenblätter wie
möglich und versuchte, sie sich um die Schultern zu binden. Das
ging auch nicht besonders gut. Außerdem wollte sie nicht den Rest
ihres Lebens – wie lang das auch dauern mochte – Sachen mit Ärmeln
anziehen.
Stattdessen zog sie die Blätter unter ihre Arme und
wickelte sie sich um den Bauch. Das klappte besser, viel
besser. Dann nahm sie einen langen Seidenschal, schlang ihn sich um
die Taille und band die Blätter damit fest. Schließlich knöpfte sie
die Jeans über dem Schal zu. Es tat immer noch nicht weh, aber sie
fühlte sich eingeengt und halb erstickt. Trotzdem, das war besser
als nichts. Sie zog eine leichte Rüschenbluse über das Ganze und
schaute verzagt in den Spiegel.
Gar nicht schlecht. Der Stoff der Bluse bauschte
sich ohnehin, sodass niemand ahnen konnte, was sich darunter
verbarg. Nicht einmal von der Seite fiel die leichte Wölbung auf,
und wenn sie ihre Haare noch darüber bürstete, würde niemand etwas
merken. Ein kleines Problem gelöst.
Blieben noch hundert große.
Das ging weit über irgendein seltsames
Pubertätssymptom hinaus. Stimmungsschwankungen, entstellende Akne,
selbst Blutungen, die monatelang andauerten, lagen im Bereich des
Normalen. Aber dass man aus einem softballgroßen Pickel riesige
Blütenblätter auf dem Rücken bekam? Das war etwas völlig anderes.
Nur was? So was kam in billigen Horrorfilmen vor! Selbst wenn sie
sich dazu durchrang, es jemandem zu erzählen, wer würde ihr
glauben? Niemals, nicht in ihren schlimmsten Albträumen, hätte sie
sich vorstellen können, dass ihr so etwas zustoßen könnte.
Das würde alles zerstören. Ihr Leben, ihre Zukunft.
Als wäre das alles in einem Augenblick weggeschwemmt.
Im Badezimmer war es ihr plötzlich zu warm. Zu eng,
zu dunkel … zu alles. In dem verzweifelten Wunsch, sich so weit wie
möglich vom Haus zu entfernen, flitzte Laurel durch die Küche, nahm
eine Dose Limo und öffnete die Hintertür.
»Gehst du spazieren?«
»Ja, Mom«, antwortete sie, ohne sich
umzudrehen.
»Viel Spaß.«
Laurel gab leise ein unverbindliches Geräusch von
sich.
Sie stapfte in den Wald, ohne auf die taubedeckte
Landschaft zu achten. Dort wo der westliche Horizont ins Meer
überging, waberte immer noch letzter Nebel, aber oben am Himmel war
es blau und klar, und die Sonne wanderte stetig zum Zenit. Es wurde
wirklich schön. Typisch. Sie hatte das Gefühl, Mutter Natur
machte sich über sie lustig. Ihr Leben brach zusammen, und doch war
alles um sie herum wunderschön, wie um ihr den Rest zu geben. Sie
versteckte sich hinter einer Ansammlung von Bäumen außer Sichtweite
ihres Hauses und der Straße; doch das reichte nicht und sie ging
weiter.
Nach einigen Minuten blieb sie stehen und lauschte,
ob irgendwer oder irgendwas in der Nähe war. Als sie sich sicher
fühlte, schob sie ihre Rüschchenbluse hinten hoch und löste den
beengenden Schal. Laurel seufzte erleichtert, als die Blütenblätter
in ihre normale Position auf ihrem Rücken zurückschnellten. Es
fühlte sich wie die Befreiung aus einem winzigen Kästchen an.
Ein Sonnenstrahl schien durch einen Spalt zwischen
den Bäumen und zeichnete ihre Silhouette ins Gras. Der Umriss ihres
Schattens sah wie ein Riesenschmetterling mit hauchdünnen Flügeln
aus, und so wie Blasen seltsame Schatten werfen, lag ein Hauch Blau
im Schwarz. Laurel versuchte, die flügelähnlichen Teile zu bewegen,
doch obwohl sie sie spürte, sogar jeden Zentimeter, so wie sie das
Sonnenlicht aufsogen, gehorchten
sie ihr nicht. Etwas, das ihr Leben derart auf den Kopf stellte,
sollte nicht so schön sein.
Sie starrte lange auf ihr Bildnis am Boden und
überlegte. Sollte sie es ihren Eltern erzählen? Sie hatte sich
selbst geschworen, es am Montag zu tun, wenn der Knubbel bis dahin
nicht verschwunden wäre. Also, weg war er immerhin.
Laurel zog einen langen Streifen über ihre Schulter
und strich mit den Fingern darüber. Es war so zart. Und es tat
nicht weh. Vielleicht geht es ja einfach wieder weg, dachte
sie optimistisch. Das sagte ihre Mutter immer. Die meisten Sachen
gehen nach einer Weile weg. Vielleicht … vielleicht würde alles
wieder gut.
Gut? Das Wort dröhnte in ihrem Kopf, hallte
in ihrem Schädel wider. Eine Mega-Blume wächst aus meiner
Wirbelsäule. Wie soll das jemals wieder gut werden?
Während ihre Gefühle wie Wirbelstürme tobten,
konzentrierten sich ihre Gedanken auf einmal auf David. Vielleicht
konnte David sich einen Reim darauf machen. Es musste eine
wissenschaftliche Erklärung geben, und er hatte ein Mikroskop –
sogar ein sehr gutes, wenn sie ihn richtig verstanden hatte.
Vielleicht konnte er sich ein Stück dieser seltsamen Blume ansehen
und ihr erklären, was das war. Selbst wenn auch er daraus nicht
schlau wurde, konnte es nicht schlimmer kommen als in diesem
Moment.
Sie wickelte den Schal wieder um die Blume und ging
schnell nach Hause, wo sie beinahe mit ihrem Vater zusammenstieß,
als er in die Küche schlurfte.
»Dad!«, sagte sie überrascht. Diese Begegnung
zerrte nur noch mehr an ihren ohnehin gereizten Nerven. Er bückte
sich und küsste sie auf den Scheitel. »Guten Morgen, du Schöne.«
Als er ihr den Arm um die Schultern legte, rang Laurel nervös nach
Luft und hoffte, dass er die Blätter nicht durch die Bluse
spürte.
Andererseits merkte ihr Vater vor der zweiten Tasse
Kaffee sowieso nicht viel.
»Warum bist du schon auf?«, fragte sie mit leicht
bebender Stimme.
Er stöhnte. »Ich muss den Laden aufschließen.
Maddie musste sich freinehmen.«
»Stimmt«, sagte Laurel geistesabwesend und
versuchte, diese Störung der normalen Routine nicht als schlechtes
Omen zu deuten.
Ihr Vater wollte den Arm schon wegziehen, als er
innehielt und an ihrer Schulter schnupperte. Laurel erstarrte. »Du
riechst gut. Das Parfüm kannst du öfter nehmen.«
Laurel nickte und betete, dass ihr die Augen nicht
aus dem Kopf fielen. Dann wand sie sich aus der Umarmung, schnappte
sich das schnurlose Telefon und lief die Treppe hinauf.
In ihrem Zimmer starrte sie das Telefon lange an,
bevor sie ihre Finger dazu bewegte, Davids Nummer zu wählen. Er
nahm beim ersten Klingeln ab. »Hallo?«
»Hallo«, sagte sie schnell, damit sie nicht direkt
wieder auflegte.
»Hallo, Laurel! Was ist los?«
Sekunden des Schweigens.
»Laurel?«
»Ja?«
»Du hast mich angerufen.«
Stille.
»Kann ich rüberkommen?«, platzte sie heraus.
»Äh, ja klar. Wann?«
»Sofort?«