Sieben
Laurel lungerte auf dem Sofa herum,
als es klingelte. »Ich gehe schon«, rief sie und öffnete die Tür.
Sie lächelte David an, der ein schwarzes T-Shirt zu knallgelben
Shorts trug. »Hey«, sagte sie, ging auf die Veranda hinaus und zog
die Tür zu. »Wie war die Party?«
David zuckte die Schultern. »Mit dir wär’s netter
gewesen.« Er hielt inne. »Wie geht es dir?«
Laurel schaute zu Boden. »Ganz gut. So wie heute
Morgen.«
»Tut es weh oder so?«
Sie schüttelte den Kopf.
Er strich ihr über den Arm. »Alles wird gut«, sagte
er leise.
»Wie soll das gehen, David? Eine Blume wächst auf
meinem Rücken. Das ist nicht gut.«
»Ich meinte, wir lassen uns was einfallen.«
Sie lächelte traurig. »Tut mir leid. Du warst so
nett zu kommen und ich bin so …« Ihre Stimme brach ab, als helle
Scheinwerfer über ihr Gesicht glitten. Sie hob die Hand gegen das
grelle Licht und sah, wie ein Auto in ihre Einfahrt einbog. Ein
großer breitschultriger Mann stieg aus und ging auf sie zu.
»Wohnen hier die Sewells?« Er hatte eine raue,
tiefe Stimme.
»Ja«, antwortete Laurel, als er in den Lichtschein
der Veranda trat. Unwillkürlich rümpfte sie die Nase. Irgendwas
stimmte mit seinem Gesicht nicht. Die Schädelknochen waren grob und
schroff und sein linkes Auge hing herab. Seine lange Nase sah aus
wie mehrfach gebrochen und nicht richtig wieder zusammengefügt, und
auch wenn er nicht wirklich abfällig wirkte, strahlte seine
Mundpartie grundsätzlich Missbilligung aus. Er hatte unglaublich
breite Schultern und der Anzug hing unförmig an seiner
grobschlächtigen Figur.
»Sind deine Eltern zu Hause?«, fragte der
Mann.
»Ja, einen Augenblick.« Sie drehte sich langsam um.
»Äh, kommen Sie doch rein.«
Sie hielt die Tür auf und der Mann und David gingen
ins Haus. Als sie zu dritt im Eingang standen, schnüffelte der Mann
und räusperte sich. »Waren Sie heute am Lagerfeuer oder so was?«,
fragte er mit kritischem Blick auf David.
»Stimmt«, antwortete David. »Unten am Strand. Ich
sollte es anzünden, und sagen wir mal so, es qualmte ganz schön,
bis es endlich brannte.« Er lachte auf, schwieg aber, als der Mann
nicht einmal lächelte.
»Ich hole sie«, sagte Laurel rasch.
»Ich komme mit«, sagte David und lief hinter ihr
her.
Sie gingen in die Küche, wo Laurels Eltern Tee
tranken.
»Da ist ein Mann, der zu euch will«, sagte
Laurel.
»Oh.« Ihr Vater stellte seine Teetasse ab und
machte ein Eselsohr in sein Buch. »Entschuldigt mich.«
Laurel blieb in der Tür stehen und beobachtete
ihren Vater. Davids Hand lag immer noch auf ihrem Rücken, und sie
hoffte, er würde sie nicht wegnehmen. Sie fürchtete sich zwar
nicht, konnte aber eine dumpfe Ahnung, dass irgendetwas nicht
stimmte, nicht abschütteln.
»Sarah«, rief ihr Vater. »Jeremiah Barnes ist
hier.«
Laurels Mutter stellte scheppernd ihre Tasse ab und
lief an David und Laurel vorbei zur Haustür.
»Wer ist Jeremiah Barnes?«, fragte David
flüsternd.
»Ein Immobilienmakler«, erwiderte Laurel. Sie sah
sich um und nahm Davids Hand. »Komm.« Sie zog ihn zu der Treppe
hinter dem Sofa, auf dem Mr Barnes jetzt Platz nahm. Auf
Zehenspitzen ging sie ein paar Stufen hinauf, sodass sie außer
Sicht war. Sie ließ Davids Hand los, aber als sie sich setzten,
legte er den Arm hinter ihr auf die Treppe. Sie lehnte sich ein
wenig dagegen und genoss das Gefühl, dass er neben ihr saß. Das
milderte die Unruhe, die sich seit Mr Barnes’ Erscheinen in ihr
aufbaute.
»Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, dass ich
einfach so vorbeigekommen bin.«
»Aber überhaupt nicht«, sagte Laurels Mutter.
»Dürfen wir Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten? Oder Tee?«
»Nein, danke«, antwortete Mr Barnes.
Seine tiefe Stimme bereitete Laurel körperliches
Unbehagen.
»Ich habe noch ein paar Fragen zur Vorgeschichte
des Besitzes, bevor wir unser offizielles Angebot vorlegen«, sagte
Mr Barnes. »Soweit ich informiert bin, haben Sie das Grundstück
geerbt. Wie lange ist es bereits im Besitz Ihrer Familie?«
»Seit der Zeit des Goldrausches«, antwortete
Laurels Mutter. »Mein Urgroßvater oder jemand aus der nahen
Verwandtschaft besetzte das Land und baute dort die erste Hütte.
Ist allerdings nicht fündig geworden. Seitdem haben alle aus meiner
Familie zumindest eine Zeit lang dort gelebt.«
»Hat noch nie jemand versucht, es zu
verkaufen?«
»Nein, ich bin die Erste. Meine Mutter dreht sich
wahrscheinlich im Grab um, aber …« Sie zuckte mit den Achseln.
»Sosehr es uns leidtut, es zu verkaufen, so gibt es doch wichtigere
Dinge.«
»Wohl wahr. Gibt es irgendwelche Unwägbarkeiten im
Zusammenhang mit dem Grundstück?«
Laurels Eltern sahen sich an und schüttelten den
Kopf. »Ich denke nicht«, erwiderte ihr Vater.
Barnes nickte. »Gab es Probleme mit unbefugten
Besuchern? Mit Fremden, die versuchten, dort zu hausen? Irgendetwas
in der Art?«
»Eigentlich nicht«, sagte Laurels Vater. »Ab und an
wandern welche über das Land und hier und da sehen wir auch Leute.
Aber es liegt nun mal direkt am Redwood Nationalpark und wir haben
keinen Zaun oder Warnschilder aufgestellt. Ich bin sicher, Sie
würden niemanden mehr sehen, wenn Sie das täten.«
»Ich konnte nirgends eine Preisvorstellung von
Ihnen finden.« Barnes ließ die unausgesprochene Frage in der Luft
hängen.
Laurels Vater räusperte sich. »Es war schwierig,
ein anständiges Gutachten über das Grundstück zu bekommen. Die
beiden Gutachter, die wir bestellt haben, brachten es nacheinander
fertig, unsere Akte zu verlieren. Das hat uns sehr zurückgeworfen.
Deshalb wäre es uns lieber, Sie nennen uns einen Preis, und dann
sehen wir weiter.«
»Verständlich.« Barnes stand auf. »Ich denke, ich
werde Ihnen binnen einer Woche ein Angebot machen können.«
Er schüttelte Laurels Eltern die Hand und
ging.
Sie hielt den Atem an, bis sie hörte, wie er den
Wagen anließ und aus der Einfahrt fuhr. David nahm seinen Arm weg
und Laurel sauste die Treppe hinunter.
»Endlich, Sarah«, sagte ihr Vater aufgeregt. »Es
ist jetzt schon fast ein halbes Jahr her, seit er mich erstmals
angesprochen hat. Ich dachte schon, ich hätte mir das Ganze nur
eingebildet.«
»Alles wäre viel einfacher, wenn es klappen würde«,
stimmte Laurels Mutter zu. »Aber noch haben wir keinen
Vertrag.«
»Ich weiß, aber wir sind kurz davor.«
»Wir waren schon mal kurz davor. Mit dem Pärchen,
das im Frühsommer so begeistert von dem Haus war.«
»Allerdings, total begeistert, und als wir sie dann
anriefen, um uns zu erkundigen, sagte sie, Zitat: ›Welches Haus?‹
Sie konnte sich an nichts mehr erinnern.«
»Stimmt. So toll fanden sie es dann wohl doch
nicht.«
»Denkt ihr etwa im Ernst darüber nach, dem unser
Land zu verkaufen?«, fragte Laurel heftig.
Ihre Eltern drehten sich mit fragendem Blick zu ihr
um. »Laurel?«, sagte ihre Mutter. »Was ist los?«
»Also wirklich. So ein unheimlicher Typ.«
Laurels Mutter seufzte. »Man verweigert niemandem
einen Hausverkauf, der unser Leben verändern würde, nur weil er
nicht sonderlich charismatisch ist.«
»Ich mochte ihn nicht. Er hat mir Angst
gemacht.«
»Er hat dir Angst gemacht?«, fragte ihr Vater. »Was
war denn so Furcht einflößend an ihm?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Laurel, deren ablehnende
Gefühle etwas nachließen, seit Mr Barnes abgefahren war. »Er … er
sah so seltsam aus.«
Ihr Vater lachte. »Kann man wohl sagen.
Wahrscheinlich hat er früher Rugby gespielt und ein paar zu viel
auf die Rübe bekommen. Aber du kannst nicht danach gehen, wie
jemand aussieht. Das sind alles Vorurteile.«
»Du hast recht«, gab Laurel nach, aber überzeugt
war sie nicht. Irgendwas stimmte nicht mit ihm, er hatte so einen
merkwürdigen Blick – der ihr nicht gefallen hatte.
Schließlich machte David sich mit einem Räuspern
bemerkbar. »Ich muss langsam nach Hause«, sagte er. »Eigentlich
wollte ich nur ganz kurz Hallo sagen.«
»Ich bringe dich raus«, sagte Laurel rasch und
brachte ihn zur Haustür.
Bevor sie auf die Veranda hinaustrat, sah sie
vorsichtshalber noch mal nach, ob die Einfahrt wirklich frei
war.
»Fandest du ihn komisch?«, fragte sie, kaum dass
David die Tür hinter sich zugezogen hatte.
»Diesen Barnes?« Er sagte erst mal nichts und
zuckte dann mit den Achseln. »Eigentlich nicht«, gab er dann zu.
»Er sah seltsam aus, aber das lag vor allem an der Nase, denke ich.
Die sieht aus wie die von Owen Wilson. Hat er sich wahrscheinlich
beim Rugby gebrochen, wie dein Dad schon sagte.«
Laurel seufzte. »Wahrscheinlich liegt es an mir.
Ich bin bestimmt überempfindlich wegen …« Sie zeigte auf ihren
Rücken. »Wegen dem da.«
»Genau darüber wollte ich noch mit dir sprechen.«
David steckte die Hände in die Hosentaschen, zog sie wieder heraus
und verschränkte sie vor der Brust. Nach einigen Sekunden änderte
er seine Meinung und steckte sie wieder in die Taschen. »Ich muss
schon sagen, Laurel, das ist das Seltsamste, was ich je erlebt
habe. Ich kann nicht so tun, als wäre es nicht so.«
Laurel nickte. »Ich weiß. Ich bin der letzte
Freak.«
»Nein, bist du nicht. Obwohl … na ja, irgendwie
schon, aber das bist nicht du«, fügte er eilends hinzu. »Du hast da
nur dieses komische Ding. Und ich … ich tue alles, um dir zu
helfen. Okay?«
»Wirklich?«, flüsterte Laurel.
»Versprochen.«
Vor Dankbarkeit stiegen ihr die Tränen in die
Augen, aber sie drängte sie zurück. »Danke.«
»Morgen früh gehe ich mit meiner Mom in die Kirche
und dann essen wir mit meinen Großeltern in Eureka, aber am Abend
bin ich zurück und rufe dich an.«
»Super. Viel Spaß.«
»Ich gebe mir Mühe.« Er zögerte kurz, und es sah so
aus, als würde er sich gleich umdrehen und gehen. Doch im letzten
Augenblick ging er auf sie zu und umarmte sie.
Überrascht schlang Laurel die Arme um ihn.
Sie sah zu, wie David auf seinem Fahrrad in der
trüben Dämmerung verschwand und blickte ihm noch lange nach, als er
längst außer Sicht war. Am Morgen hatte sie sich so gefürchtet, als
sie zu ihm gefahren war, aber jetzt wusste sie, dass sie es dem
Richtigen erzählt hatte. Lächelnd ging sie ins Haus zurück.
Am Montag musste Laurel zum ersten Mal mit der
Riesenblüte auf dem Rücken in die Schule. Sie dachte daran, zu
schwänzen, aber wer wusste schon, wie lange die Blume sich halten
würde? Vielleicht für immer, dachte sie erschauernd. Sie
konnte jetzt nicht dauernd krankmachen. Vor dem Unterricht traf sie
im Innenhof David, der ihr mehrmals versicherte, dass man unter
ihrem T-Shirt nichts erkennen konnte. Sie riss sich zusammen und
ging zur ersten Stunde.
Beim Mittagessen beobachtete Laurel David. Als die
Wolken aufrissen, flackerte ein Sonnenstrahl über die hellen
Stellen in seinen sandbraunen Haaren und zuckte über die Spitzen
seiner Wimpern. Bisher hatte sie nicht richtig darüber nachgedacht,
wie gut er aussah, aber in den letzten Tagen erwischte sie sich
dabei, dass sie ihn dauernd anschaute. Beim Mittagessen hatte er es
schon zweimal gemerkt, als er sich zu ihr umdrehte. So langsam
löste er in ihr dieses Schmetterlingsgefühl im Bauch aus, von dem
sie so viel gelesen hatte.
Als keiner guckte, hielt Laurel ihre eigene Hand
gegen die Sonne. Sie sah irgendwie anders aus. Davids Körper hatte
die Sonne überhaupt nicht durchgelassen, sie schien nur um ihn
herum. Ihre Hand dagegen schien lediglich einen Teil des
Sonnenscheins abzublocken, und das Licht leuchtete, als hätte es
einen Weg durch ihre Haut gefunden. Sie steckte die Hand in die
Hosentasche. Langsam wurde sie paranoid.
Es war ganz schön unbequem mit den Blütenblättern
um ihre Taille – sie hätte sie so gern freigelassen! Es drängte sie
umso mehr, als die Sonne in den kommenden Monaten immer seltener so
hell am Morgen scheinen würde. Aber mit der Unannehmlichkeit konnte
und würde sie fertig werden. Sie hoffte nur, dass die Sonne
nachmittags noch mal hervorkommen würde, wenn sie einen Spaziergang
machen konnte.
Da Chelsea krank war, begleitete nur David sie zum
Englischkurs.
»David?«
»Ja?«
»Hast du Lust, heute Nachmittag einen Ausflug zu
machen? Mit meinen Eltern und mir?«
David machte ein trauriges Gesicht. »Ich kann
nicht.«
»Warum denn nicht?«
»In ein paar Wochen mache ich meinen Führerschein,
und Mom ist der Meinung, dass ich das Geld für Benzin und
Versicherung selbst verdienen soll. Sie hat mir einen Job in der
Drogerie besorgt und da fange ich heute an.«
»Oh. Hast du mir gar nicht erzählt.«
»Sie hat es mir gestern erst gesagt. Außerdem« – er
beugte sich zu ihr – »hast du im Moment größere Probleme als
ich.«
»Na dann, viel Glück«, sagte Laurel.
David seufzte. »Ja, es geht doch nichts über
Vitamin B, wenn man möchte, dass die anderen Mitarbeiter voll auf
einen stehen.« Er lachte kurz auf. »Wo wollt ihr denn hin?«
»Zu unserem alten Haus. Seit zwei Tagen redet meine
Mom nur noch über den Hausverkauf. Sie ist gespannt, andererseits
ist sie noch nicht richtig überzeugt.«
»Wieso nicht? Ich dachte, sie wollten dringend
verkaufen.«
»Dachte ich auch. Aber es macht Mom auch traurig.
Sie ist dort aufgewachsen, und ihre Mutter auch. Und ihre
Großmutter und so weiter. Verstehst du?«
»Das ist schon irre. Ich wünschte, ihr müsstet
nicht verkaufen.«
»Ich auch«, sagte Laurel. »Nicht dass es hier nicht
auch schön wäre«, fügte sie rasch hinzu. »Ich bin froh, dass wir
umgezogen sind, aber es wäre mir lieber, wir könnten ab und zu noch
mal hinfahren.«
»Seid ihr seit dem Umzug mal wieder da
gewesen?«
»Nein. Wir hatten so viel damit zu tun, den Laden
in Gang zu bringen und einzuziehen. Also, wir hatten einfach keine
Zeit. Deshalb will Mom jetzt hinfahren und sich vergewissern, dass
sie wirklich verkaufen will, und wenn wir schon mal da sind, die
Blätter zusammenfegen und solche Sachen. Und Fenster putzen. Dad
will bestimmt die Hecke stutzen.« Sie tat so, als lächelte sie
aufgeregt. »Das wird ja so lustig!«, sagte sie sarkastisch.
David nickte und sah sie dann mit mehr Ernst an.
»Ich wünschte, ich könnte mitkommen«, sagte er. »Echt.«
Laurel senkte den Blick, er sah sie so intensiv an.
»Ein andermal«, sagte sie ernst und gab sich Mühe, nicht allzu
enttäuscht zu klingen.
»Das hoffe ich doch.«