Elf
Laurel zitterte am ganzen Körper. Sie spürte Davids Arme warm und schwer, die sie hielten, aber es fühlte sich an, als könnte sie nur noch das spüren. Er war ein Rettungsanker, und sie war nicht sicher, ob sie die nächsten Sekunden überleben würde, falls er losließ. »Was soll ich bloß tun, David?«
»Du musst nichts tun.«
»Das stimmt«, sagte sie bedrückt. »Ich muss nur warten, bis der Rest meines Körpers kapiert, dass er tot ist.«
David zog sie an sich und strich ihr über die Haare. Sie klammerte sich an sein Hemd, als die Tränen wie eine Sturzflut kamen und sie nach Luft rang.
»Nein«, murmelte David nah an ihrem Ohr. »Du wirst nicht sterben.« Er rieb seine Wange an ihrer, die Haut ein wenig rau von Bartstoppeln. Er wanderte mit der Nasenspitze über ihr Gesicht, und ihre Tränen versiegten, als sie sich darauf konzentrierte, sein Gesicht so nah an ihrem zu spüren. Er war so warm an ihrer immer kalten Haut. Als er mit den Lippen ihre Stirn streifte, lief ihr ein Schauer über das Rückgrat. Dann legte er seine Stirn an ihre, woraufhin sie wie von selbst die Lider aufschlug und sich im Meer seiner blauen Augen verlor. Als er ganz sanft mit den Lippen ihren Mund berührte, strömte eine ungekannte überwältigende Hitze von ihren Lippen.
Als sie sich nicht wehrte, küsste er sie wieder, zuversichtlicher. Innerhalb eines Augenblicks zog es ihn in den Sturm, der in ihr wütete, ihre Arme legten sich wie von selbst um seinen Hals, und sie zog ihn näher, enger heran, wie um diese unglaubliche Wärme aufzusaugen. Dauerte es Sekunden, Minuten, Stunden – die Zeit spielte keine Rolle mehr, als er seinen warmen Körper an sie drückte und diese Hitze sie umschloss.
Als David sich fast mit Gewalt von ihr losriss und nach Luft rang, begriff Laurel, was geschehen war.
Was habe ich getan?
»Es tut mir so leid«, flüsterte er. »Ich wollte nicht …«
»Psst.« Laurel legte ihre Finger auf seine Lippen. »Das war okay.« Sie ließ ihn nicht los, und da sie nichts dagegen zu haben schien, beugte David sich wieder vor.
Erst im letzten Augenblick legte Laurel eine Hand auf seine Brust und wehrte ihn ab. Sie schüttelte den Kopf und holte tief Luft. »Ich kann nicht sagen, ob das, was ich fühle, nur meine Panik ist oder …« Sie machte eine Pause. »Ich kann das so nicht, David. Nicht bei diesem ganzen Durcheinander.«
Er zog sich langsam zurück und schwieg sehr lange. »Dann werde ich warten«, sagte er kaum hörbar.
Laurel nahm ihren Rucksack und sagte überflüssigerweise: »Ich gehe besser nach Hause.«
Davids Blick folgte ihr durch den Raum.
Sie schaute sich noch einmal um, bevor sie sein Zimmer verließ und die Tür hinter sich zuzog.
 
In Biologie setzte Laurel sich auf ihren angestammten Platz, ohne jedoch die Bücher herauszuholen. Sie saß kerzengerade da und spitzte die Ohren, um Davids vertrauten Gang zu erlauschen. Dennoch fuhr sie zusammen, als er seinen Rucksack auf den Tisch neben ihr legte. Sie zwang sich, zu ihm hochzublicken, doch statt des erwarteten verkrampften Misstrauens fand sie ein strahlendes Lächeln und vor Aufregung gerötete Wangen. »Ich habe gestern noch lange gelesen«, sagte er anstelle einer Begrüßung. »Ich habe da so eine Theorie.«
Theorie? Wollte sie die wirklich hören? Im Gegenteil, irgendwas in seiner Miene ließ sie ziemlich sicher sein, dass sie nichts davon wissen wollte.
Er schlug das Buch auf und schob es zu ihr rüber.
»Eine Venusfliegenfalle? Also du weißt wirklich, wie man nett zu Mädchen ist.« Sie wollte ihm das Buch zurückschieben, aber er legte beide Hände darauf und hielt es fest.
»Hör mir nur eine Sekunde zu. Ich behaupte nicht, dass du eine Venusfliegenfalle bist. Aber lies mal den Abschnitt über ihre Essgewohnheiten.«
»Sie ist fleischfressend, David.«
»Technisch gesehen, ja, aber du musst lesen, warum.« Er schwenkte die Finger über die Abschnitte, die er mit grünem Textmarker markiert hatte. »Fliegenfallen wachsen am besten in nährstoffarmem Boden – normalerweise enthält dieser Boden nur wenig Stickstoff. Sie fressen Fliegen, weil Fliegenkörper viel Stickstoff, aber kein Fett und Cholesterin enthalten. Es geht nicht um das Fleisch, sondern um die Nährstoffe, die sie braucht.« Er blätterte um. »Guck hier, da steht, wie man eine Venusfliegenfalle ernährt, die man als Zimmerpflanze hält. Viele Leute füttern sie mit kleinen Brocken von Hamburgern oder Steaks, weil sie, genau wie du eben, denken: ›Ach, die ist ja fleischfressend.‹ In Wirklichkeit bringt man eine Venusfliegenfalle mit Hamburgern eher um, weil Hamburger viel Fett und Cholesterin enthalten, was von der Pflanze gar nicht verdaut werden kann.«
Laurel starrte nur entsetzt auf das Bild der monstermäßig schrecklich aussehenden Pflanze und fragte sich, wie in aller Welt David annehmen konnte, sie wäre ihr ähnlich. »Ich kann dir nicht folgen«, sagte sie geradeheraus.
»Die Nährstoffe, Laurel. Du trinkst keine Milch, oder?«
»Nein.«
»Und warum nicht?«
»Weil mir davon schlecht wird.«
»Wetten, dass dir davon schlecht wird, weil sie Fett und Cholesterin enthält? Was trinkst du denn stattdessen?«
»Wasser. Limo.« Sie dachte nach. »Und den Sirup in den Dosenpfirsichen meiner Mom. Das war’s aber auch.«
»Wasser und Zucker. Gibst du auch manchmal ein bisschen Zucker zum Blumenwasser, damit sie länger halten? Blumen lieben das, sie saugen ihn direkt auf.«
Davids Erklärung war nur allzu schlüssig. Laurel bekam Kopfschmerzen. »Und warum esse ich dann keine Fliegen?«, fragte sie beißend, während sie sich die Schläfen rieb.
»Die sind wahrscheinlich zu klein, um viel zu bringen. Jetzt denke mal darüber nach, was du so isst. Rohes Obst und Gemüse. Pflanzen, die in der Erde gewachsen sind und all die Nährstoffe mit ihren Wurzeln aufgesaugt haben. Wenn du sie dann isst, bekommst du die gleichen Nährstoffe, wie wenn du selbst Wurzeln hättest.« Laurel schwieg und dann rief Mr James die Klasse zur Ordnung. »Du glaubst also immer noch, dass ich eine Pflanze bin?«, flüsterte Laurel.
»Eine unglaublich hoch entwickelte, fortschrittliche Pflanze«, erwiderte David. »Aber ja, eine Pflanze.«
»Scheiße.«
»Finde ich nicht«, sagte David grinsend. »Im Gegenteil: irgendwie cool.«
»Das passt; du stehst ja auch auf Bio. Mir würde es schon reichen, beim Sport nicht angestarrt zu werden.«
»Bestens.« David beharrte auf seinem Standpunkt. »Dann finde ich es eben für uns beide cool.«
Laurel machte ein schnaubendes Geräusch und zog damit Mr James’ Aufmerksamkeit auf sich.
»Laurel, David? Möchtet ihr den Witz mit dem Rest der Klasse teilen?«, fragte er und stützte eine Hand in seine magere Hüfte.
»Nein, danke, Sir«, erwiderte David. »Aber nett, dass Sie fragen.« Die übrigen Schüler lachten, aber Mr James fand das nicht lustig. Laurel lehnte sich zurück und grinste. Eins zu null für David gegen den Lehrer, der wünschte, er wäre genauso schlagfertig.
 
Am Samstag trafen Laurel und David sich bei ihm, um zu »lernen«. David zeigte ihr einen Artikel, den er im Internet gefunden hatte. Er beschrieb, wie Pflanzen durch ihre Blätter Kohlendioxid aufnehmen. »Wie ist das bei dir?«, fragte er. Sie saß auf seinem Bett und wandte ihre Blütenblätter seinem Westfenster zu, wo sie von der Sonne beschienen wurden. Das war nur einer der vielen Vorteile, die es hatte, beinahe jeden Tag nach der Schule in Davids leerem Haus zu »lernen«. David bemühte sich sogar aufrichtig, sie nicht anzustarren – obwohl Laurel nicht wusste, ob seine flüchtigen Blicke sich auf ihre Blütenblätter richteten oder auf ihre nackte Taille.
Eigentlich war es ihr aber egal.
»Nun, ich habe keine richtigen Blätter, außer den winzig kleinen unter den Blütenblättern. Noch nicht«, sagte sie hintergründig.
»Technisch gesehen nicht, aber ich glaube, deine Haut zählt in diesem Fall mit.«
»Wieso? Sieht sie mittlerweile grün aus?«, fragte sie, hielt dann aber abrupt den Mund. Die Vorstellung, grün zu werden, erinnerte sie an Tamani und seine grünen Haare. Sie wollte nicht an ihn denken. Es verwirrte sie nur. Außerdem kam es ihr unfair vor, an ihn zu denken, wenn sie mit David zusammen war. Irgendwie illoyal. Diese Gedanken sparte sie sich für die Nächte auf, kurz vor dem Einschlafen.
»Blätter müssen nicht unbedingt grün sein«, dozierte David weiter, ohne etwas zu merken. »Bei den meisten Pflanzen stellen die Blätter die größte äußerliche Oberfläche dar, das müsste bei dir dann die Haut sein. Vielleicht nimmst du also durch deine Haut Kohlendioxid auf.« Er wurde rot. »Du ziehst ja sogar Tanktops an, wenn es kalt ist.«
Laurel rührte mit dem Strohhalm in ihrer Sprite. »Und warum atme ich dann? Ich atme nämlich, echt«, sagte sie spitz.
»Musst du es denn?«
»Was meinst du damit? Natürlich muss ich atmen.«
»Glaube ich nicht. Jedenfalls nicht so wie ich. Oder zumindest nicht so oft. Wie lange kannst du die Luft anhalten?«
Sie zuckte die Achseln. »Lange genug.«
»Na, komm, du warst doch schon mal schwimmen, da musst du doch eine ungefähre Ahnung haben. Schätz mal«, drängte er, als sie den Kopf schüttelte.
»Ich komme einfach hoch, wenn ich unter Wasser fertig bin. Ich tauche sowieso nicht oft. Nur um die Haare nass zu machen, also, woher soll ich das wissen?«
David grinste und zeigte auf seine Uhr. »Wie wär’s, wenn wir es herausfinden?«
Laurel sah ihn kurz an, schob dann ihr Getränk weg, beugte sich vor und piekte David in die Brust. »Ich habe es satt, dass immer an mir rumexperimentiert wird. Lass uns doch messen, wie lange du die Luft anhalten kannst.«
»Meinetwegen, aber danach bist du dran.«
»Einverstanden.«
David holte mehrmals tief Luft, und als Laurel »jetzt« sagte, saugte er die Lungen voll Luft und lehnte sich im Stuhl zurück. Er schaffte zweiundfünfzig Sekunden, bevor er mit knallrotem Gesicht ausatmete. Nun war Laurel an der Reihe.
»Lach mich bloß nicht aus«, warnte sie ihn. »Wahrscheinlich bist du um Längen besser.«
»Das bezweifle ich sehr.« Er grinste auf eine gewisse zuversichtliche Art und Weise, die er immer an den Tag legte, wenn er sich ganz sicher war.
Laurel holte tief Luft und legte sich auf Davids Bett. Er schaltete die Stoppuhr an, die leise piepte.
Sein selbstsicherer Blick nervte sie so, dass sie sich nach wenigen Sekunden zum Fenster drehte und einem Vogel zusah, der in den blassblauen Himmel flog, bis er über einen Hügel außer Sichtweite flatterte.
Da es sonst nichts Interessantes zu sehen gab, lenkte sie ihre Aufmerksamkeit auf ihre Brust. Allmählich wurde es unangenehm. Sie wartete noch ein bisschen, entschied, das Gefühl nicht zu mögen, und atmete aus. »So. Wie lautet das Urteil?«
David schaute auf die Uhr. »Hast du die Luft so lange angehalten, wie du konntest?«
»So lange ich wollte.«
»Das ist nicht dasselbe. Hättest du noch länger aushalten können?«
»Wahrscheinlich, aber es wurde unangenehm.«
»Wie viel länger?«
»Keine Ahnung«, sagte sie nervös. »Wie lange habe ich denn geschafft?«
»Drei Minuten und achtundzwanzig Sekunden.«
Es dauerte etwas, bis die Zahlen richtig bei ihr angekommen waren. Sie setzte sich auf. »Hast du mich gewinnen lassen?«
»Nö. Aber das beweist meine Theorie.«
Laurel schaute auf ihren Arm. »Ein Blatt? Echt?«
David nahm ihren Arm und legte seinen daneben. »Wenn du genau hinschaust, sehen unsere Arme nicht gleich aus. Siehst du das hier?«, fragte er und zeigte auf die Adern, die auf seinen Armen verliefen. »Richtig, Adern stehen bei Typen eher hervor, aber bei deiner hellen Haut sollte man doch wenigstens hellblaue Linien sehen können. Da sind aber keine.«
Laurel betrachtete ihren Arm und fragte dann: »Wann hast du das gemerkt?«
Er zuckte schuldbewusst mit den Schultern. »Als ich deinen Puls gesucht habe, aber das hat dich schon so fertiggemacht, dass ich lieber ein bisschen warten wollte. Außerdem wollte ich mich erst noch besser informieren.«
»Danke.« Laurel verfiel in minutenlanges Schweigen, ihr schoss alles Mögliche durch den Kopf. Doch sie kam immer wieder zu demselben Schluss. »Ich bin wirklich eine Pflanze, stimmt’s?«
David sah zu ihr hoch und nickte feierlich. »Ich glaube schon.«
Laurel wusste nicht, warum ihr die Tränen kamen. So überraschend war es doch gar nicht. Aber sie hatte es vorher nicht wahrhaben wollen. Jetzt da sie es wohl oder übel akzeptierte, wurde sie von einer Mischung aus Angst, Erleichterung, Staunen und einer seltsamen Traurigkeit überwältigt.
David kletterte zu ihr aufs Bett. Wortlos lehnte er sich ans Kopfende und zog sie an seine Brust. Sie schmiegte sich an ihn und genoss das Gefühl der Sicherheit in seinen Armen. Er strich ihr tröstend über die Arme und den Rücken, wobei er die Blütenblätter sorgfältig ausnahm.
Sie lauschte dem regelmäßigen Rhythmus seines Herzens, der ihr sagte, dass doch einiges normal geblieben war. Verlässlich.
Seine Körperwärme ging auf sie über und wärmte sie erstaunlicherweise fast so, wie es die Sonne tat. Lächelnd kuschelte sie sich an ihn.
»Was hast du am Samstag vor?«, fragte David. Seine Stimme hallte in seiner Brust nach, dort wo ihr Ohr lag.
»Weiß nicht. Und du?«
»Das kommt auf dich an. Ich habe darüber nachgedacht, was Tamani dir erzählt hat.«
Sie hob den Kopf. »Ich will nicht darüber reden.«
»Warum denn nicht? Er hatte recht damit, dass du eine Pflanze bist. Vielleicht hatte er ja auch recht damit, dass du … eine Elfe bist.«
»Wie kannst du so was sagen, wenn dein Mikroskop dich hören kann?«, fragte Laurel lachend, weil sie den Ball flach halten wollte. »Womöglich stellt es seinen Dienst ein, wenn es kapiert, wie unwissenschaftlich sein Besitzer ist.«
»Es ist ziemlich unwissenschaftlich, eine Pflanze zur Freundin zu haben.« David ging auf ihren humorvollen Ton nicht ein.
Laurel seufzte, legte den Kopf jedoch wieder auf seine Brust. »Alle kleinen Mädchen wären lieber Prinzessinnen, Elfen oder Meerjungfrauen. Vor allem natürlich Mädchen, die ihre leibliche Mutter nicht kennen. Aber dieser Traum löst sich auf, wenn man, sagen wir mal sechs ist. Mit fünfzehn denkt man da nicht mehr dran.« Sie schob stur das Kinn vor. »Es gibt keine Elfen.«
»Möglich, aber du musst ja nicht unbedingt eine echte Elfe sein.«
»Was soll das denn heißen?«
David sah nachdenklich ihre Blüte an. »Nächsten Samstag steigt ein Kostümfest in der Schule. Ich hatte die Idee, dass du als Elfe gehen und die Rolle mal ausprobieren könntest. Ich meine, so zu tun, als wäre es ein Kostüm und sich dabei daran gewöhnen, bevor du weiter darüber nachdenkst, ob es stimmt.«
»Wie? Ich soll mir Flügel anziehen und ein Glitzerkleid?«
»Ich würde sagen, du hast schon Flügel«, sagte David mit ernster Stimme.
Allmählich fiel bei Laurel der Groschen. Sie sah ihn ungläubig an. »Du willst, dass ich so dahin gehe? So, dass jeder meine Blüte sehen kann? Du bist verrückt geworden! Nein!«
»Hör doch mal zu«, sagte David und streckte den Rücken. »Ich stelle mir das folgendermaßen vor: Du kennst doch diese Rauschgoldgirlanden. Wenn wir so was unten um die Blüte wickeln und dann um deine Schulter binden, merkt keiner, dass es kein Kostüm ist. Alle würden es einfach nur toll finden.«
»Damit komme ich doch nicht durch, das als Kostüm auszugeben, David. Es ist zu gut.«
Er zuckte die Schultern. »Normalerweise glauben die Leute, was man ihnen erzählt.« Er grinste. »Und glaubst du wirklich, dass irgendwer dich anguckt und sagt ›Hmmm, ich glaube, das Mädchen ist eine Pflanze‹?«
Was für eine Idee! Laurels Gedanken schweiften zu dem schimmernden himmelblauen Kleid ab, das sie im vergangenen Sommer bei der Hochzeit einer Cousine ihrer Mutter getragen hatte. »Ich denke darüber nach«, versprach sie.
Als David am Mittwoch nach der Schule arbeiten musste, beschloss Laurel, in die Bibliothek zu gehen. Sie wandte sich zur Informationstheke, wo die Bibliothekarin einem Kind die Dewey-Dezimal-Klassikfikation erklärte, das nichts verstand oder auch nur verstehen wollte. Nach einigen Minuten zuckte der Junge die Schultern und ging weg.
Mit einem frustrierten Seufzer wandte sich die Bibliothekarin Laurel zu. »Ja, bitte?«
»Kann ich ins Internet?«, fragte Laurel.
Die Frau lächelte, wahrscheinlich freute sie sich, zur Abwechslung eine einfache Frage beantworten zu dürfen. »Mit dem Computer dahinten«, erklärte sie mit einer Geste. »Du kannst dich mit der Nummer deines Bibliotheksausweises einloggen und eine Stunde im Netz bleiben.«
»Nur eine?«
Die Bibliothekarin lehnte sich verschwörerisch vor. »Diese Regel mussten wir vor ein paar Monaten einführen, weil ständig eine alte Dame kam, die den ganzen Tag Internet-Hearts gespielt hat.« Sie richtete sich achselzuckend wieder auf. »Du weißt ja, wie das läuft, ein paar Idioten machen den anderen alles kaputt. Wenigstens läuft unser Internet mit Hochgeschwindigkeit«, fügte sie noch hinzu, während sie sich bereits zum Einscannen einem Bücherstapel zuwandte. Laurel ging zu der Kabine mit dem einzigen internetfähigen Computer. Im Vergleich mit der verschwenderisch ausgestatteten Bibliothek in Eureka, wo sie mit ihrem Vater oft gewesen war, war die Bibliothek von Crescent City kaum größer als ein normales Haus. Es gab ein Regal mit Bilderbüchern, eins mit Belletristik und ansonsten nur Fachbücher und Nachschlagewerke. Nicht einmal davon gab es viele. Laurel setzte sich an den Computer und loggte sich ein. Nach einem kurzen Blick auf die Uhr fing sie an zu googeln. Eine Dreiviertelstunde später hatte sie Bilder von Elfen gefunden, die in Blumen lebten, Anziehsachen aus Blumenmaterial trugen und Tee aus winzigen Blütenkelchen tranken. Doch nirgends wurden Elfen erwähnt, die selbst Blumen waren. Oder Pflanzen oder irgendwas in der Richtung. Blöd, dachte sie gereizt.
Sie arbeitete sich langsam durch einen langen Wikipedia-Artikel, musste aber alle zwei bis drei Sätze irgendetwas nachschlagen, was sie nicht verstand. Deshalb hatte sie erst wenige Abschnitte geschafft. Doch sie holte tief Luft und machte sich daran, den Rest zu lesen.
»Ich liebe Elfen!« Laurel fiel fast vom Stuhl, als Chelsea ihr so ins Ohr schrie.
Sie ließ sich auf einen Stuhl neben Laurel plumpsen. »Ich hatte vor einem Jahr so eine Phase, da habe ich mich nur mit Elfen beschäftigt. Ich habe mindestens zehn Bücher über Elfen und die passenden Poster dazu. Irgendwo habe ich ein Pamphlet mit einer Verschwörungstheorie gefunden, das behauptet, Irland würde vom Seligen Hof regiert. Obwohl das etwas weit hergeholt klang, hatte der Autor in vielen Punkten recht.«
Laurel schloss den Browser, so schnell sie konnte – besser spät als nie, dachte sie.
»Im Mittelalter dachten die Leute immer, wenn etwas Schlimmes passierte, dass die Elfen dran schuld waren«, fuhr Chelsea fort, die gar nicht zu merken schien, dass Laurel noch kein Wort gesagt hatte. »Natürlich machten sie die Elfen auch für die guten Dinge verantwortlich, also glich sich das wahrscheinlich aus.« Sie grinste. »Und warum recherchierst du über Elfen?«
Laurel bekam einen trockenen Mund. Sie dachte fieberhaft über eine Ausrede nach, aber nachdem sie sich eben mit Dutzenden widersprüchlicher Elfengeschichten herumgeschlagen hatte, fiel ihr nichts ein. »Äh, ich wollte nur was rausfinden für …« Ihr fiel gerade noch ein, dass Chelsea in ihrem Englischkurs war, bevor sie ihn als Ausrede anführte.
Dann fiel ihr Davids Vorschlag ein.
»Ich will Samstag als Elfe zum Fest gehen«, platzte sie heraus. »Und da dachte ich, ich informiere mich vorher ein bisschen.«
Chelsea strahlte sie an. »Das ist total cool. Ich möchte auch sehr gern Elfe werden. Vielleicht können wir uns zusammentun.«
Na super. »Also, David bastelt mir Flügel. Soll eine Überraschung werden.«
»Oh.« Chelsea zögerte eine Sekunde. »Kein Problem. Wahrscheinlich sollte ich mich auch besser an Ryan halten.« Ihre Wangen färbten sich rosa. »Er hat mich Freitag gefragt.«
»Wie schön.«
»Ja. Er ist süß. Oder?«
»Klar ist er süß.«
»Gut.« Sie versank einen Augenblick in ihren Gedanken. »Du gehst also mit David?«
Laurel nickte.
Chelsea lächelte, aber es kam leicht gequält. »Tja, du wirst eine wunderschöne Elfe. Du siehst ja eigentlich sowieso schon so aus, das wird bestimmt perfekt.«
»Wirklich? So sehe ich aus?«
Chelsea zuckte mit den Achseln. »Finde ich schon. Vor allem weil deine Haut und deine Haare so hell sind. Früher dachte man, Engel wären Elfen, deshalb müssen Elfen zart und zerbrechlich aussehen.«
Zerbrechlich?, dachte Laurel leicht verblüfft.
»Du wirst wunderbar aussehen«, sagte Chelsea. »Ich werde am Eingang auf dich warten, damit ich dein Kostüm direkt zu sehen bekomme.«
»Einverstanden«, sagte Laurel mit einem gezwungenen Lächeln. Es gefiel ihr nicht, wie sie sich selbst in Davids Idee hineinmanövriert hatte. Doch es war allemal besser, als Chelsea die Wahrheit zu sagen.
»Warum googelst du überhaupt hier?«, fragte Chelsea. »Habt ihr zu Hause kein Internet?«
»Doch, aber völlig veraltet und total langsam«, antwortete Laurel und rollte mit den Augen.
»Echt? Mein Vater ist Computertechniker und hat bei uns zu Hause ein drahtloses Netzwerk eingerichtet. Wir haben sechs Computer mit Hochgeschwindigkeits-Internet. Der krepiert, wenn ich ihm erzähle, was für eine lahme Kiste ihr habt. Komm doch nächstes Mal zu mir. Jede Menge Bandbreite, außerdem kann ich dir Bücher leihen, okay?«
Laurel sagte automatisch okay, obwohl es nicht infrage kam, dass sie bei Chelsea Recherchen betrieb.
Chelsea war zu schlau – die würde das Puzzle zusammensetzen.
Vorausgesetzt, es gab Puzzleteilchen. Laurel hatte keine einzige Quelle gefunden, in der es um Elfen ging, die wie sie waren. Dryaden kamen dem noch am nächsten, dabei waren das nur die Geister von Bäumen.
Sie war sich ziemlich sicher, dass sie kein Geist war.
»Egal, ich muss los«, sagte Chelsea. »Ich muss was Richtiges recherchieren.« Sie hielt ihr Geschichtsbuch hoch.
»Ich muss mindestens drei Quellen finden, die nichts mit dem Internet zu tun haben. Mrs Mitchell ist so was von hinterm Mond, das glaubst du nicht. Dann sehen wir uns morgen?«
»Ja.« Laurel winkte zum Abschied. »Bis morgen.« Dann wandte sie sich wieder dem Computer zu, um eine letzte Suche zu starten. Doch als sie den Internetbrowser anklickte, war ihre Zeit abgelaufen.
Laurel seufzte und sammelte ihre mickrigen Notizen ein. Wenn sie mehr erfahren wollte, musste sie an einem anderen Tag wiederkommen. Sie warf einen letzten Blick auf die Bücherregale, hinter denen Chelseas schwingende Locken hervorlugten.
Bei Chelsea wäre es wirklich bequemer.
Schade nur, dass Bequemlichkeit zurzeit nicht auf ihrer Liste stand.