Vier
Am Samstagmorgen öffnete Laurel
gegen Sonnenaufgang blinzelnd die Augen. Das machte ihr nichts aus
– sie war ein Morgenmensch, war es immer schon gewesen.
Normalerweise erwachte sie eine Stunde vor ihren Eltern, was es ihr
ermöglichte, allein spazieren zu gehen, die Sonne im Rücken und den
Wind auf den Wangen, bevor sie stundenlang in der Schule hocken
musste.
Nachdem sie einen Sommerrock und ein Top angezogen
hatte, holte sie die alte Gitarre ihrer Mutter aus der
Gitarrentasche an der Hintertür und schlüpfte leise hinaus in die
kühle Stille des frühen Morgens. Jetzt, Ende September, war es
vorbei mit dem strahlend klaren Wetter, stattdessen waberte der
Nebel vom Meer her über die Stadt, wo er bis zum frühen Nachmittag
hängen blieb.
Laurel nahm einen schmalen Pfad, der sich bis an
ihren Hinterhof heran schlängelte. Für so ein kleines Haus war das
Grundstück erstaunlich groß, und Laurels Eltern hatten vor, später
eventuell noch anzubauen. Im Hof spendeten mehrere Bäume Schatten
und Laurel hatte fast einen Monat lang mit ihrer Mutter Blumen und
Ranken vor und an die Hauswände gepflanzt.
Es war ein Reihenhaus mit Nachbarhäusern an beiden
Seiten, aber wie viele Häuser in Crescent City lag es direkt an
einem naturbelassenen Waldstück. Obwohl ihr Grundstück also
eigentlich nur bis zum Waldrand reichte, wanderte Laurel immer
weiter über verschlungene Pfade bis zu einer kleinen Schlucht.
Mitten hindurch lief ein Bach, parallel zu den Häusern.
An diesem Morgen ging sie zum Bach hinunter und
setzte sich ans Ufer. Sie steckte die Füße hinein, denn morgens,
bevor die Käfer und Schnaken auf Nahrungssuche wie Pünktchen auf
dem Wasser hockten, war es noch schön klar und kalt.
Sie legte sich die Gitarre auf die Knie und zupfte
einige Akkorde, die sich allmählich zu einer Melodie verdichteten.
Es machte Spaß, die Weite mit Musik zu erfüllen. Laurel hatte vor
drei Jahren angefangen zu spielen, als sie die alte Gitarre ihrer
Mutter auf dem Speicher gefunden hatte. Sie brauchte dringend neue
Saiten und musste gestimmt werden, doch dazu konnte Laurel ihre
Mutter überreden. Sie hatte ihr das Instrument geschenkt, aber
Laurel fand es noch immer schöner, sich vorzustellen, es gehöre
ihrer Mutter; das war romantischer, wie alter Familienbesitz.
Ein Insekt landete auf ihrer Schulter und lief
ihren Rücken hinunter. Als Laurel danach schlug, fühlte sie etwas
auf ihrer Haut. Sie streckte den Arm noch weiter aus und suchte. Es
war noch da, ein runder Knubbel, knapp groß genug, um ihn unter der
Haut zu erspüren. Sie verrenkte sich den Kopf, konnte aber nicht
weit
genug über ihre Schulter gucken. Sie berührte den Knubbel noch
mal, um herauszufinden, was es sein konnte. Schließlich stand sie
frustriert auf und ging nach Hause, um in den Spiegel zu
sehen.
Nachdem sie die Badezimmertür abgeschlossen hatte,
setzte Laurel sich auf die Toilette und drehte sich so, dass sie
ihren Rücken im Spiegel sehen konnte. Endlich entdeckte sie den
Knubbel direkt zwischen ihren Schulterblättern: einen kleinen
leicht erhabenen Kreis, kaum wahrnehmbar. Versuchsweise drückte sie
ein wenig darauf herum, was nicht wehtat, aber irgendwie kribbelte.
Es sah aus wie ein Pickel. Wie tröstlich, dachte Laurel
genervt. Auf eine total untröstliche Art.
Laurel hörte die leisen Schritte ihrer Mutter auf
den knarrenden Dielen im Flur und streckte den Kopf aus der
Badezimmertür. »Mom?«
»Küche«, rief ihre Mutter gähnend zurück.
Laurel folgte der Stimme. »Ich habe einen Knubbel
am Rücken. Kannst du mal gucken?«, fragte sie und drehte ihrer
Mutter den Rücken zu. Ihre Mutter drückte sanft auf die Stelle und
kam zu dem Schluss: »Nur ein Pickel.«
»Habe ich mir schon gedacht«, sagte Laurel und ließ
ihr Top wieder runter.
»Aber du hast nie Pickel.« Ihre Mutter zögerte.
»Geht es etwa los … mit … du weißt schon?«
Laurel schüttelte heftig den Kopf. »Kommt halt
vor«, sagte sie matt mit einem kleinen Lächeln. »Das gehört zur
Pubertät, sagst du doch selbst immer.« Sie drehte
sich um und verschwand, bevor ihre Mutter noch mehr Fragen stellen
konnte.
Als sie wieder in ihrem Zimmer war, befühlte sie
den Knubbel. Sie kam sich seltsam normal vor, weil sie nun ihren
ersten Pickel bekam; es war wie ein Übergangsritual, das zum
Erwachsenwerden dazugehörte. Ihre Pubertät war bisher nicht wie
allgemein beschrieben verlaufen. Pickel bekam sie gar nicht, aber
ihre Brüste und Hüften hatten sich normal entwickelt – vielleicht
sogar eher früh. Nur ihre Periode hatte sie mit fünfzehneinhalb
immer noch nicht. Ihre Mutter kümmerte das nicht groß, sie sagte,
da keiner die medizinische Vorgeschichte ihrer leiblichen Mutter
kenne, könnte es auch einfach in der Familie liegen. Aber Laurel
merkte auch, dass sie sich allmählich doch Gedanken machte.
Sie zog wie üblich Jeans und Tanktop an und band
ihr Haar zu einem Pferdeschwanz. Dann fielen ihr die Kratzer auf
den Rücken anderer Mädchen ein, die in der Umkleide nicht zu
verbergen waren, und sie ließ ihre Haare offen. Womöglich wurde der
Knubbel im Laufe des Tages noch scheußlicher.
Und das bei David. Das wäre echt blöd.
Laurel nahm einen Apfel, ging raus und rief ihrer
Mutter einen Abschiedsgruß zu. Sie war schon fast bei David
angekommen, als Chelsea ihr entgegenjoggte. Laurel winkte und rief
ihren Namen.
»Hallo!«, sagte Chelsea lächelnd, während die
Locken um ihr Gesicht tanzten.
»Hallo!«, antwortete Laurel. »Ich wusste gar nicht,
dass du läufst.«
»Cross-Country. Normalerweise trainiere ich mit dem
Team, aber samstags sind wir auf uns allein gestellt. Was hast du
vor?«
»Ich will zu David«, erwiderte Laurel. »Wir wollen
lernen.«
Chelsea lachte. »Willkommen im
David-Lawson-Fanclub. Ich bin schon Präsidentin, aber du kannst
Schatzmeisterin werden.«
»Es ist nicht, wie du denkst«, sagte Laurel, die
sich selbst nicht sicher war, ob das so stimmte. »Wir lernen, echt.
Montag schreibe ich einen Biotest, den ich ohne intensive Nachhilfe
vergessen kann.«
»Er wohnt direkt um die Ecke, ich begleite
dich.«
Als sie um die Ecke bogen, hörten sie einen
Rasenmäher. Da David sie nicht bemerkte, blieben sie stehen und
schauten ihm zu.
Nur in Jeans und alten Tennisschuhen, schob er
einen Rasenmäher durch das hohe Gras. Brust und Arme waren lang und
drahtig, mit schlanken Muskeln – die Haut war sonnengebräunt und
glänzte unter einem leichten Schweißfilm, während er sich anmutig
im sanften Morgenlicht bewegte.
Laurel konnte ihn nur anstarren.
Sie hatte schon tausendmal Jungs mit nacktem
Oberkörper gesehen, aber diesmal war es irgendwie anders. Sie
schaute zu, wie er die Armmuskeln anspannte, um mit einem besonders
dicht bewachsenen
Rasenstück fertig zu werden und den Rasenmäher weiterzuschieben.
Ihr wurde ein wenig eng um die Brust.
»Ich glaube, ich bin gestorben und im Himmel wieder
aufgewacht«, sagte Chelsea, die sich keine Mühe gab, ihre
Begeisterung zu verbergen.
Als hätte er gemerkt, dass sie ihm zusahen, schaute
David plötzlich hoch und sah Laurel direkt an. Sie senkte das Kinn
und betrachtete ihre Füße.
Chelsea blinzelte nicht einmal.
Als Laurel wieder hochsah, zog David gerade ein
Hemd an. »Hey, Leute, ihr seid früh auf.«
»Ist es noch früh?«, fragte Laurel. Es war
schließlich schon fast neun Uhr. »Oh«, sagte sie zerknirscht, »ich
habe vergessen, dich anzurufen.«
David zuckte grinsend die Achseln. »Passt schon.«
Er zeigte auf den Rasenmäher. »Ich bin wach.«
»Gut, ich muss weiter«, sagte Chelsea, die auf
einmal wieder außer Atem war. »Im wahrsten Sinne des Wortes.« Sie
drehte sich so, dass nur Laurel ihr Gesicht sehen konnte, und sagte
lautlos: »Wow!« Dann winkte sie ihnen beiden und sprintete auf die
Straße.
David schüttelte bei ihrem Anblick den Kopf. Dann
wandte er sich Laurel zu und zeigte auf das Haus. »Sollen wir? Bio
lernt sich nicht von allein.«
Nachdem sie am Montag den Test abgeben mussten,
drehte David sich zu Laurel um. »Und, war es wirklich so
schlimm?«
Laurel grinste. »Nein, ehrlich gesagt nicht, aber
nur, weil du mir geholfen hast.« Sie hatten am Samstag drei Stunden
zusammen gelernt und Sonntagabend noch eine weitere Stunde
telefoniert. Das hatte zwar zugegebenermaßen nichts mit Biologie zu
tun gehabt, aber möglicherweise hatte sie etwas über Osmose
gelernt. Osmose per Telefon. Oha.
David schlug vor: »Wir könnten das regelmäßig
machen. Zusammen lernen, meine ich.«
»Gerne«, erwiderte Laurel, der die Vorstellung
weiterer »Nachhilfestunden« mit ihm gut gefiel. »Komm doch nächstes
Mal zu mir.«
»Super.«
Da es an diesem Tag regnete, kamen in der
Mittagspause nur David, Chelsea und ein Junge namens Ryan mit nach
draußen. Die kleine Gruppe versammelte sich unter einem Pavillon.
Die meisten verzichteten aufs Essen, weil es keine Tische oder
Ablagemöglichkeiten gab, aber Laurel mochte dieses kleine
Rasenstück, das scheinbar nie richtig trocken wurde – obwohl es
überdacht war.
David und Ryan bewarfen sich mit Brotbröckchen, mit
Chelsea als Kommentatorin, die ihre Zielsicherheit, Wurfform und
Unfähigkeit, die Zuschauer nicht zu belästigen, kritisierte.
»Schon verstanden, das war Absicht«, sagte Chelsea
und schnipste einen Krümel zurück, der sie platsch auf die Brust
getroffen hatte.
»Nö, das war aus Versehen«, sagte Ryan. »Du hast
mir doch gerade selber bescheinigt, dass ich nichts treffen
könnte, was ich mir vornehme.«
»Dann ziel doch bitte auf mich, damit ich sicher
sein kann, nicht getroffen zu werden«, schoss Chelsea zurück.
Seufzend drehte sie sich zu Laurel um. »Ich bin nicht dafür
geboren, in Nordkalifornien zu leben«, sagte sie, indem sie sich
die Haare aus dem Gesicht strich. »Im Sommer sind meine Haare ja
ganz schön, aber mit ein bisschen Regen: Bamm! Sieht es so aus.«
Chelsea hatte lange braune Haare mit einem leichten Rotstich, die
in Löckchen über ihren Rücken fielen. In weichen seidigen Löckchen,
wenn die Sonne schien, und in strohigen Korkenzieherlocken, die wie
wild um ihr Gesicht hüpften, sobald die Luft kalt und feucht wurde
– was oft genug passierte. Sie hatte hellgraue Augen, bei denen
Laurel an das Meer denken musste, wie es bei Sonnenaufgang aussah,
wenn die Wellen im verhangenen Halbdunkel geradezu endlos
aussahen.
»Ich finde sie hübsch«, sagte Laurel.
»Es sind ja auch nicht deine. Ich muss immer
besonderes Shampoo und Spülungen benutzen, nur um mit der Bürste
durchzukommen.« Sie schaute Laurel an und berührte kurz ihre
glatten, weichen Haare. »Deine fühlen sich gut an; was nimmst du
denn?«
»Ach, nichts Besonderes.«
»Hmm.« Chelsea strich noch mal über Laurels Schopf.
»Benutzt du eine Spülung, die man drinlässt? Bei meinen
funktioniert das noch am besten.«
Laurel holte Luft und atmete laut aus. »Also,
eigentlich
… benutze ich gar nichts. Von Spülungen werden meine Haare total
glitschig und irgendwie fettig. Und wenn ich Shampoo nehme, werden
sie trocken, total trocken – auch bei den
Feuchtigkeitsshampoos.«
»Soll das heißen, du wäschst sie überhaupt nicht?«
Das konnte Chelsea sich offenbar überhaupt nicht vorstellen.
»Ich lasse richtig viel Wasser drüberlaufen. Ich
meine, sie sind sauber und so.«
»Ohne Shampoo?«
Laurel erwartete einen skeptischen Kommentar, aber
Chelsea murmelte nur »Du Glückliche« und widmete sich wieder ihrem
Mittagessen.
An diesem Abend untersuchte Laurel ihre Haare sehr
genau. Sollte sie sie waschen? Sie sahen genauso aus wie immer und
fühlten sich auch so an. Sie ging zum Spiegel zurück und drückte
und quetschte an dem Knubbel herum. Am Samstagmorgen war er winzig
gewesen, aber über das Wochenende war er ganz schön gewachsen.
»Muss es gleich ein Riesenpickel sein?«, moserte Laurel an ihrem
Spiegelbild herum.
Als Laurel am nächsten Morgen aufwachte, kribbelte
es dumpf zwischen ihren Schulterblättern. Sie unterdrückte die
aufsteigende Panik, eilte ins Badezimmer und verdrehte den Hals, um
ihren Rücken im Spiegel zu betrachten. Der Knubbel war größer als
eine 25-Cent-Münze!
Das war kein Pickel. Sie berührte die Stelle
vorsichtig
und ein seltsames Kitzeln blieb. Panisch raffte sie ihr Nachthemd
an sich und lief durch den Flur zum Schlafzimmer ihrer Eltern. Sie
wollte schon klopfen, riss sich dann aber so weit zusammen, erstmal
durchzuatmen.
Laurel sah an sich hinunter und kam sich plötzlich
kindisch vor. Was dachte sie sich bloß dabei? In wenig mehr als
ihrer Unterwäsche stand sie dort im Flur. Verlegen trat sie von der
Schlafzimmertür ihrer Eltern zurück und schlich wieder ins
Badezimmer, wo sie so rasch und leise wie möglich abschloss. Dann
ging sie zum Spiegel und untersuchte den Knubbel. Sie wand sich so,
dass sie ihn aus verschiedenen Winkeln betrachten konnte, und
überzeugte sich schließlich, dass er doch kleiner war als
befürchtet. Laurel war in dem Glauben erzogen worden, dass der
menschliche Körper sich um sich selbst kümmerte. Die meisten Dinge
erledigten sich von allein – vorausgesetzt, man mischte sich nicht
ein. Ihre Eltern lebten beide nach dieser Maxime. Sie gingen nie
zum Arzt und holten sich nicht einmal Antibiotika.
»Das ist einfach nur ein Mega-Pickel. Der geht
schon von allein weg«, erklärte Laurel ihrem Spiegelbild in genau
dem gleichen Tonfall wie ihre Mutter.
Sie kramte in der Schublade ihrer Mutter und holte
eine Tube mit Salbe hervor, die ihre Mutter jedes Jahr herstellte.
Sie enthielt unter anderem Rosmarin, Lavendel und Teebaumöl und
ihre Mutter tat sie auf alles. Schaden konnte sie jedenfalls
nicht.
Laurel verteilte eine kleine Menge der süß
duftenden Salbe auf dem Knubbel. Durch das Gekitzel ihrer Finger,
das den Knubbel rötete, und das reizende Teebaumöl brannte ihr
Rücken, als sie ihr Nachthemd über den Kopf zog und mit den
Schultern an der Wand schnell in ihr Zimmer schlich.
Laurel zog ein weites Baseball-T-Shirt mit
Flügelärmeln an, das den Rücken voll bedeckte. Die meisten Tanktops
reichten wahrscheinlich auch über den Knubbel, aber Laurel wollte
kein Risiko eingehen. Wenn das Ding weiterwuchs, konnte es nur
eklig werden, und dann war es Laurel entschieden lieber, wenn sie
es unter dem T-Shirt verstecken konnte. Es kitzelte bei der
kleinsten Berührung, durch ihre Haare oder das T-Shirt, das sie
über den Kopf zog, und natürlich jedes Mal, wenn sie es berührte,
um sich von seiner Echtheit zu überzeugen. Als sie endlich nach
unten ging, war sie sicher, dass all ihre Nerven mit dem Knubbel
verbunden waren.
Am Donnerstag konnte Laurel nicht länger leugnen,
dass das Ding auf ihrem Rücken kein Pickel war. Es war in den
letzten beiden Tagen nicht nur gewachsen, sondern es schien
schneller zu wachsen. An diesem Morgen war es so groß wie
ein Golfball.
Als Laurel zum Frühstück nach unten ging, war sie
entschlossen, ihren Eltern von dem merkwürdigen Knubbel zu
erzählen. Sie hatte sogar schon tief Luft geholt und den Mund
aufgemacht, um ihre Sorgen loszuwerden. Aber in der letzten Sekunde
hatte sie doch gekniffen
und ihren Dad einfach nur gebeten, die Melone
weiterzureichen.
Da sie in den letzten Tagen knubbelsichere T-Shirts
und ihr langes Haar offen getragen hatte, war bisher niemandem
etwas aufgefallen, aber das war nur eine Frage der Zeit – vor allem
falls er weiterwuchs. Falls, sagte Laurel sich immer wieder,
falls er weiterwächst. Vielleicht wirkt Moms Zeug ja doch.
Seit drei Tagen schmierte sie nunmehr die Salbe auf die Stelle,
aber es schien nicht viel zu helfen. Ja nun, konnte man erwarten,
dass etwas, was so schnell so groß wurde, sich von ein wenig
Teebaumöl abhalten ließ? Vielleicht war es ein Tumor. Laurel
glaubte, sich an Artikel über Leute mit Wirbelsäulentumor erinnern
zu können. Sie holte scharf Luft. Ein Tumor war allzu
schlüssig.
»Hallo? Hörst du mir überhaupt zu?« Chelseas Stimme
drang in Laurels Gedanken und sie wandte sich ihrer Freundin
zu.
»Was?«
Chelsea lachte nur. »Habe ich mir doch gedacht.«
Dann leiser: »Geht es dir gut? Du warst echt weit weg.«
Laurel schaute hoch und konnte sich einen
Augenblick lang nicht einmal daran erinnern, welchen Kurs sie
gleich hatte. »Alles bestens«, murmelte sie verärgert. »War nur in
Gedanken.«
Chelsea musterte kurz ihr Gesicht und hob dann
skeptisch eine Augenbraue. »Na dann.«
David gesellte sich zu ihnen, und als Chelsea sich
von ihnen trennte, um zu ihrem Klassenraum zu gehen,
wollte Laurel schnell weiter. Doch er hielt sie zurück. »Wieso so
eilig, Laury? Es schellt erst in drei Minuten.«
»Nenn mich nicht so«, fauchte sie fast gegen ihren
Willen.
David schloss den Mund wie eine Auster und sagte
nichts mehr, während die anderen Schüler an ihnen
vorbeigingen.
Laurel suchte nach den passenden Worten, um sich zu
entschuldigen, aber was sollte sie denn sagen? Sorry, David, ich
bin schlecht drauf, weil ich vielleicht einen Tumor habe?
Stattdessen platzte sie heraus: »Ich mag Spitznamen nicht.« David
hatte bereits sein tapferes Lächeln aufgelegt. »Das wusste ich
nicht. Entschuldige.« Er strich sich durchs Haar. »Hast du …« Er
brach ab, anscheinend hatte er seine Meinung geändert. »Komm, ich
bringe dich zu deinem Klassenraum.« Jetzt fühlte es sich komisch
an, neben ihm zu gehen. Als sie angekommen waren, wandte sie sich
ihm zu und sagte: »Bis später.«
»Laurel?«
Sie drehte sich um.
»Was machst du am Samstag?«
Sie zögerte, weil sie darauf gehofft hatte, etwas
mit ihm zu unternehmen. Sie hatte auch schon darüber nachgedacht,
den einen oder anderen Vorschlag zu machen, aber vielleicht war das
doch keine gute Idee.
»Ich habe mir gedacht, dass wir zu mehreren ein
Picknick und vielleicht ein Feuerwerk machen könnten. Ich kenne da
einen ganz tollen Platz am Strand.
Chelsea hat gesagt, sie würde kommen, und Ryan, Molly und Joe
auch. Und ein paar andere haben gesagt, vielleicht.«
Essen, Sand und ein rauchendes Feuer. Das klang
alles nicht nach Spaß.
»Es ist kalt geworden, mit dem Schwimmen wird es
wohl nichts, aber … na ja, irgendwer wird immer reingeworfen. Voll
witzig.«
Laurels falsches Lächeln verblasste. Das Gefühl von
Salz auf ihrer Haut konnte sie nicht ausstehen. Sie spürte es sogar
noch nach dem Duschen – als wäre das Salz von ihren Poren
aufgenommen worden. Als sie vor Jahren das letzte Mal im Meer
geschwommen war, war sie noch Tage danach lasch und müde gewesen.
Abgesehen davon könnte sie ihren Knubbel – oder was immer es war –
dabei nie verbergen, schon gar nicht im Badeanzug!
Es schauderte sie bei der Vorstellung, wie groß er
in zwei Tagen sein würde. Sie konnte da nicht hingehen, selbst wenn
sie wollte. »David, ich …« Sie fand es schrecklich, ihn zu
enttäuschen. »Ich kann nicht.«
»Und warum nicht?«, fragte David.
Sie könnte sagen, dass sie in der Buchhandlung
aushelfen musste – in den letzten Wochen hatte sie ihrem Dad
beinahe jeden Samstag geholfen -, aber sie brachte es nicht über
sich, ihn anzulügen. Nicht David. »Ich kann einfach nicht«,
murmelte sie und ging, ohne sich zu verabschieden, in den
Klassenraum.
Am Freitagmorgen war der Knubbel so groß wie ein
Softball. Es war eindeutig ein Tumor. Laurel machte sich nicht
einmal die Mühe, ins Badezimmer zu gehen, um nachzusehen. Sie
spürte es.
Kein T-Shirt konnte das mehr verbergen.
Laurel musste die hintersten Sachen aus ihrem
Schrank räumen, bis sie ein bauschiges Ballontop fand, womit sie
die Schwellung wenigstens überspielen konnte. Sie wartete in ihrem
Zimmer, bis es fast so weit war, dass sie zur Schule musste, und
rannte dann nach unten und aus der Tür, wobei sie ihren Eltern nur
ein eiliges »Guten Morgen« und »Tschüs« zurief.
Der Tag zog sich ewig hin. Die Beule kribbelte
jetzt die ganze Zeit, nicht mehr nur bei Berührung. Laurel konnte
an nichts anderes mehr denken, es war wie ein ständiges Summen in
ihrem Kopf. In der Mittagspause war sie nicht ansprechbar und
schämte sich dafür, aber sie konnte sich auf nichts und niemanden
konzentrieren, solange ihr Rücken so kribbelte.
Als die letzte Stunde endlich vorbei war, hatte sie
viermal falsch geantwortet. Die Fragen waren immer einfacher
geworden, als wollte Señora Martinez ihr die Chance geben, sich zu
verbessern, aber die Lehrerin hätte genauso gut Swahili sprechen
können. Kaum hatte es geläutet, schoss Laurel hoch und rannte vor
allen anderen zur Tür. Señora Martinez hatte keine Chance, sie
wegen ihrer unterirdischen Leistung zu löchern.
Als sie David und Chelsea an Chelseas Schließfach
in eine Unterhaltung vertieft entdeckte, lief sie in die
andere Richtung. Sie hoffte, dass sich gerade keiner umdrehen und
sie von hinten erkennen würde. Kaum war sie der Schule entronnen,
ging sie zum Fußballplatz, weil sie nicht wusste, wo sie in dieser
noch unbekannten Stadt hinsollte. Unterwegs konnte sie die
Beklemmung jedoch auch nicht abschütteln. Und wenn es Krebs ist?
Krebs geht nicht einfach weg. Vielleicht sollte ich es doch Mom
sagen.
»Montag«, flüsterte Laurel halb zu sich selbst,
während der kalte Wind ihre Haare zerzauste. »Wenn es Montag nicht
weg ist, sage ich es meinen Eltern.«
Sie stieg auf der Tribüne bis ganz nach oben, ihre
Schritte hallten auf den Metallstufen. Sie lehnte sich ans Geländer
und schaute über die Baumkronen zum westlichen Horizont. So hoch
über ihrer Umgebung fühlte sie sich ausgeschlossen und allein. Das
passte.
Ihr Kopf schoss hoch, als sie Schritte hörte. Als
sie sich umdrehte, sah sie Davids verlegenes Gesicht. »Hallo«,
sagte er.
Laurel schwieg – Erleichterung und Ärger kämpften
um die Oberhand. Die Erleichterung überwog. David deutete auf die
Bank, auf der sie stand. »Was dagegen, wenn ich mich setze?«
Laurel stand einen Augenblick reglos da, setzte
sich dann auf die Bank und klopfte mit einem leisen Lächeln auf den
Platz neben sich.
David setzte sich behutsam neben sie, als traute er
ihrer Einladung nicht recht. »Ich wollte dir nicht nachspionieren«,
sagte er, beugte sich vor und legte die Ellbogen
auf die Knie. »Ich wollte unten auf dich warten, aber …« Er zuckte
die Achseln. »Was soll ich sagen. Ich bin ungeduldig
geworden.«
Laurel schwieg.
Lange saßen sie da und sagten nichts. »Geht es dir
gut?«, fragte David schließlich. Seine Stimme klang unnatürlich
laut inmitten der leeren Metallbänke.
Laurel schossen die Tränen in die Augen, aber sie
hielt sie zurück. »Alles okay.«
»Es ist nur so, dass du die ganze Woche so still
warst.«
»Entschuldigung.«
»Habe … habe ich irgendwas falsch gemacht?«
Laurel hob abrupt den Kopf. »Du? Nein, David. Du …
du bist toll zu mir.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Ich hatte
nur einen schlechten Tag, das ist alles. Nur noch dieses
Wochenende, dann ist das vorbei. Montag geht es mir besser,
versprochen.«
David nickte und der Rest war wieder Schweigen,
lastend und unangenehm. Dann räusperte David sich: »Soll ich dich
nach Hause bringen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich bleibe noch ein
bisschen hier. Ich komme schon klar«, fügte sie hinzu.
»Aber …« Er brach ab, nickte nur, stand auf und
ging langsam weg. Dann drehte er sich noch einmal um. »Falls du
etwas brauchst, hast du ja meine Telefonnummer, oder?«
Laurel nickte. Sie hatte sie direkt nach ihrer
Rückkehr auf die Familienpinnwand geschrieben und konnte sie
mittlerweile auswendig.
»Gut«, sagte er. Er verlagerte das Gewicht von
rechts nach links. »Ich gehe jetzt.«
Als er schon fast außer Sichtweite war, rief
Laurel: »David?«
Doch als er sich zu ihr umdrehte, so offen und
aufrichtig, verließ sie der Mut. »Viel Spaß morgen«, sagte sie
lahm.
Er wirkte enttäuscht, nickte aber und ging
weiter.
An diesem Abend saß Laurel auf dem Toilettensitz im
Badezimmer und starrte ihren Rücken an. Die Tränen strömten ihr
über die Wangen, während sie wieder Salbe auf den Knubbel
schmierte. Es hatte zwar noch nichts genutzt, und sie wusste, dass
es logischerweise wieder nichts nutzen würde, aber irgendetwas
musste sie tun.