Siebzehn
Am Donnerstag schnappte sich Laurel nach der Schule ihre blaue Schürze und ging die Straße hinunter zu Marks Bücherregal. Jen, Brent und Maddie – die Angestellten ihres Vaters – hatten schon Extraschichten übernommen, aber wenn es so weiterging, wären sie bis Freitag alle bei über vierzig Stunden. Laurel wollte wenigstens Brent und Jen für den Rest des Tages freigeben und mit Maddie den Laden schmeißen. Maddie hatte als Einzige bereits für den alten Inhaber gearbeitet und war jetzt zehn Jahre im Geschäft. Deshalb kam sie zum Glück auch alleine klar. Doch um die Buchhandlung machte sich Laurel auf dem Weg dorthin die geringsten Sorgen. Als sie ins Schlafzimmer ihrer Eltern gegangen war, um sich letzte Anweisungen von ihrem Vater zu holen, war sie bei seinem Anblick erschrocken. Er war immer schon dünn gewesen, aber jetzt war sein Gesicht eingefallen und grau und er hatte dunkle Ringe unter den Augen. Sein Mund war blass und seine Stirn glänzte unter einem dünnen Schweißfilm. Laurels Mutter hatte alles gegeben. Salben aus Lavendel und Rosmarin auf die Brust, Fencheltee für den Magen, jede Menge Vitamin C zur Stärkung seines Immunsystems. Es half alles nichts. Nachts gab sie ihm Brandy, damit er besser schlief, und träufelte Pfefferminzöl in den Luftbefeuchter. Immer noch keine Besserung. Sie schob ihren Stolz beiseite und versuchte es mit einigen gebräuchlichen Medikamenten – fiebersenkende Grippetabletten und extrastarke Schmerzmittel -, doch es ging ihm immer noch nicht besser. Was alle Welt für eine fiese Grippe gehalten hatte, wurde so rasch zu einer ernsteren Erkrankung, als Laurels Mutter sich hätte vorstellen können.
Als Laurel sich erbot, an diesem Nachmittag in den Buchladen zu gehen, damit ihre Mutter bei ihrem Vater bleiben konnte, umarmte sie Laurel und flüsterte ihr ein Dankeschön ins Ohr. Ihr Vater war kaum wiederzuerkennen, er sah aus wie eine Karikatur des Mannes, der er noch vor wenigen Tagen gewesen war. Er hatte versucht, wie immer zu lächeln und Witze zu machen, aber selbst das überforderte ihn.
Als Laurel die Tür der Buchhandlung öffnete, begrüßte sie ein fröhliches Klangspiel.
Maddie schaute auf und lächelte. »Laurel? Jedes Mal wenn ich dich sehe, bist du noch hübscher geworden.« Sie umarmte sie und Laurel verweilte in dieser Umarmung und fühlte sich gleich ein wenig besser. Maddie duftete immer nach Plätzchen und Gewürzen und etwas anderem, das Laurel nicht identifizieren konnte.
»Wie geht es deinem Dad?«, fragte Maddie, deren Arm noch immer über Laurels Schulter lag.
Bei allen anderen hatte sie bisher behauptet, es ginge ihm ganz gut. Doch Maddies Frage konnte sie nicht so einfach abbürsten. »Er sieht schrecklich aus, Maddie. Nur Haut und Knochen. Meine Mom kann ihm nicht helfen. Nichts wirkt, wie es soll.«
»Nicht einmal ihr Ysop-Süßholz-Medikament?«
Laurel lächelte traurig. »Das habe ich auch schon gefragt.«
»Wenn du meine Meinung hören willst, ist es das Wundermittel überhaupt.«
»Nicht für Dad, jedenfalls nicht diesmal.«
»Ich zünde jeden Abend eine Kerze für ihn an.« Wenn ihre Mutter auf Ysop und Süßholz schwor, baute Maddie fest auf Kerzen. Als gläubige Katholikin hatte sie einen großen Kerzenhalter im Fenster stehen und zündete bei jeder Gelegenheit eine Kerze an – sei es für ein krebskrankes Gemeindemitglied oder eine vermisste Katze aus der Nachbarschaft. Laurel war ihr trotzdem dankbar.
»Dad hat mir den Plan für nächste Woche mitgegeben.«
Maddie lachte. »Krank im Bett, aber weiter Pläne machen – so nah am Tod kann er nun auch nicht sein.« Sie streckte die Hand aus. »Dann gib mal her.« Maddie studierte die handgeschriebene Stundenverteilung. »Er hat unsere Öffnungszeiten zusammengestrichen, wie ich sehe.«
Laurel nickte. »Es gibt einfach nicht genug Leute, um das Geschäft so aufrechtzuhalten.«
»Das ist gut so. Ich liege ihm schon seit Monaten damit in den Ohren, dass es Blödsinn ist, um acht Uhr morgens zu öffnen. Wer will schon so früh ein Buch kaufen?« Sie beugte sich vor, als wollte sie Laurel ein Geheimnis verraten. »Ehrlich gesagt liege ich um acht Uhr morgens am liebsten noch im Bett.«
In den nächsten Stunden arbeiteten sie fröhlich nebeneinander her, wobei sie es tunlichst mieden, über Laurels Vater zu sprechen. Doch Laurel dachte die ganze Zeit an ihn. Schließlich überließ sie Maddie den abendlichen Papierkram und hängte ein Schild an die Tür, um die unangekündigte Schließung der Buchhandlung am Wochenende zu entschuldigen.
Dann ging sie langsam nach Hause. Nachdem sie zwei Stunden lang ein Paket Bücher nach dem anderen einsortiert hatte, tat ihr alles weh. Als sie um die letzte Ecke bog, entdeckte sie einen großen rotweißen Wagen in ihrer Einfahrt. Es dauerte ein wenig, aber als sie begriff, dass es ein Krankenwagen war, rannte sie sofort los. Sie stürmte in dem Moment durch die Haustür, als die Sanitäter die Treppe hinunterkamen. Sie trugen ihren Vater auf einer Bahre, ihre Mutter war direkt hinter ihnen.
»Was hat er denn?«, fragte Laurel, die den Blick nicht von ihrem Vater löste.
Mit Tränenspuren im Gesicht antwortete ihre Mutter: »Er hat Blut gespuckt. Ich musste den Notarzt rufen.«
Als die Treppe endlich frei war, nahm Laurel ihre Mutter in den Arm. »Das war genau richtig, Mom. Er wird froh sein, dass du das gemacht hast.«
»Er traut den Ärzten nicht«, sagte ihre Mutter geistesabwesend.
»Das ist egal. Er braucht sie jetzt.«
Ihre Mutter nickte, aber Laurel war sich nicht sicher, ob sie überhaupt zugehört hatte. »Ich muss ihn begleiten«, sagte sie. »Im Krankenwagen darf nur einer mitfahren. Ich rufe dich an, wenn er gut angekommen ist.«
Laurel nickte. »Geh ruhig. Ich komme alleine klar.«
Sie hängte ihrer Mutter noch die Handtasche über den Arm, während sie weiter zum Krankenwagen ging, ohne Laurel überhaupt noch wahrzunehmen. Sie sah sich nicht einmal mehr um, als die Türen geschlossen wurden. Als Laurel den Notarztwagen abfahren sah, krampfte sich ihr Magen zusammen. Sie fühlte sich schrecklich. Soweit sie sich erinnern konnte, waren weder ihre Mutter noch ihr Vater jemals im Krankenhaus gewesen, außer zu einem Krankenbesuch. Laurel hatte es nicht wahrhaben wollen, dass es sich bei der Krankheit ihres Vaters um etwas anderes als eine akute Virusinfektion handelte, die von selbst vergehen würde. Aber offensichtlich war das nicht der Fall.
Sie ging ins Haus zurück und drückte die Tür mit beiden Händen zu. Das Geräusch des einrastenden Schlosses hallte durch den Flur. Ohne ihre Eltern wirkte das Haus riesig und leer. In den letzten fünf Monaten seit ihrem Umzug war sie oft allein hier gewesen, aber an diesem Abend fühlte es sich anders an. Unheimlich. Ihre Hände zitterten, als sie den Schlüssel im Schloss umdrehte. Sie glitt an der Tür entlang und saß lange auf dem Fußboden, während das letzte Licht des Sonnenuntergangs verblasste und Laurel in unergründlicher Düsternis zurückließ.
Laurel empfand den Einbruch der Dunkelheit als unausgesprochene Erlaubnis, auch dunklen Gedanken nachhängen zu dürfen. Aber dann stand sie auf und ging in die Küche, wo sie alle Lampen anmachte, bevor sie sich an den Esstisch setzte. Sie holte ihre Englischhausaufgabe heraus und versuchte zu lernen, aber schon beim ersten Satz verschwammen die Buchstaben vor ihren Augen – unsinniges Zeug.
Sie legte den Kopf auf das Buch und ließ die Gedanken von der Buchhandlung über Tamani zu David schweifen, dann wieder zurück zu ihren Eltern im Krankenhaus und immer weiter im Kreis, bis ihr langsam die Augen zufielen.
Ein lautes Klingeln riss sie aus ihren wirren, sinnlosen Träumen. Endlich gelang es ihr, auf den grünen Knopf auf dem Telefon zu drücken und sich mit einem verschlafenen »Hallo?« zu melden.
»Hallo, Liebes, ich bin’s, Mom.«
Laurel wurde ruckartig wach und schaute mit zugekniffenen Augen auf ihr Englischbuch. »Was haben sie gesagt?«
»Sie wollen ihn über Nacht hierbehalten und ihm Antibiotika geben. Wir müssen abwarten, wie es morgen weitergeht.« Sie fuhr langsam fort: »Er ist noch nicht mal auf seinem Zimmer, und es wird sehr spät, bis es so weit ist. Kannst du vielleicht heute Nacht allein bleiben und ihn morgen besuchen?«
Laurel schwankte kurz. Sie hatte die irrationale Vorstellung, etwas bewirken zu können, wenn sie jetzt ins Krankenhaus ging. Aber das war Quatsch. Am nächsten Morgen war es immer noch früh genug. Sie zwang sich, aufmunternd zu klingen: »Mach dir um mich keine Sorgen, Mom. Mir geht es gut.«
»Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch.«
Laurel musste also allein im Haus bleiben. Wie von selbst wählten ihre Finger Davids Nummer. Er meldete sich, bevor ihr überhaupt klar wurde, dass sie ihn angerufen hatte. »David?«, sagte sie blinzelnd. »Hi.« Sie schaute zum Küchenfenster, in dem der Mond aufging. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war. »Kannst du rüberkommen?«
 
Als es klingelte, rannte Laurel zur Haustür, um David reinzulassen. »Es tut mir so leid, dass ich dich angerufen habe. Ich wusste nicht, wie spät es war«, sagte sie.
»Kein Problem«, erwiderte David und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Es ist erst zehn, und meine Mom hat mir erlaubt, nach Hause zu kommen, wann ich will. Das ist schließlich ein Notfall. Was kann ich für dich tun?«
Unsicher antwortete sie: »Meine Mom ist weg und … ich will nicht allein sein.«
David legte ihr die Arme um die Schultern und sie schmiegte sich an ihn. Er hielt sie einige Minuten im Eingangsbereich, während sie sich an seine Brust kuschelte und ihn trostsuchend umklammerte. Er fühlte sich so warm und stark an, dass sie ihn festhielt, bis ihr die Arme wehtaten. In dieser kurzen Zeit fühlte es sich an, als könnte doch noch alles gut werden.
Schließlich ließ sie ihn los. Sie kam sich komisch vor, nachdem David sie so lange im Arm gehalten hatte. Aber er lächelte nur, ging zum Sofa und griff nach der Gitarre. »Wer spielt denn bei euch?«, fragte er und klimperte vor sich hin. »Dein Dad?«
»Nein. Äh … also ich spiele. Ich habe aber nie Gitarrenunterricht gehabt. Das meiste habe ich mir selbst beigebracht.«
»Wieso hast du mir nie davon erzählt?«
Laurel schüttelte den Kopf. »Weil ich es wirklich nicht besonders gut kann.«
»Wie lange spielst du denn schon?«
»Ungefähr drei Jahre.« Sie nahm ihm die Gitarre ab und legte sie auf ein Knie. »Ich habe sie auf dem Speicher gefunden. Früher gehörte sie meiner Mutter. Sie hat mir die Grundlagen beigebracht und jetzt spiele ich einfach nach Gehör.«
»Würdest du mir was vorspielen?«
»Oh nein.« Laurel nahm die Finger von den Saiten.
»Bitte. Das würde dir bestimmt guttun.«
»Wie kommst du darauf?«
Er zuckte die Schultern. »Du hältst sie so locker, als hättest du sie sehr gern.«
Laurel strich über den Gitarrenhals. »Das stimmt. Sie ist schon alt. Ich mag alte Sachen. Sie haben … eine Geschichte, erzählen Geschichten.«
»Dann spiel.« David lehnte sich zurück und verschränkte die Hände am Hinterkopf.
Laurel wollte erst nicht, fing dann aber leise an, die Saiten zu zupfen und das Instrument zu stimmen. Allmählich ging sie von einzelnen Akkorden zu John Lennons Song »Imagine« über. Nach der ersten Strophe sang Laurel ganz langsam mit, sehr langsam. Der Song passte zu diesem Abend. Beim letzten Akkord seufzte sie auf.
»Wow«, sagte David. »Das war total schön.«
Mit einem Schulterzucken legte Laurel die Gitarre in ihren Koffer zurück.
»Dass du singst, hast du mir auch vorenthalten.« David hielt kurz inne. »So etwas wie eben habe ich noch nie gehört. Das war nicht wie bei einem Popstar, es war einfach nur schön und beruhigend.« Er nahm ihre Hand. »Geht es dir besser?«
Sie lächelte. »Ja, danke.«
David räusperte sich und drückte fest ihre Hand. »Und was jetzt?«
Laurel schaute sich um. Viel Unterhaltsames gab es nicht. »Hast du Lust, einen Film zu gucken?«
»Warum nicht?«
Laurel entschied sich für ein altes Musical, in dem keiner krank war oder sterben musste.
»Singin’ in the Rain?« David rümpfte die Nase.
»Wieso nicht? Ist doch lustig.«
»Deine Entscheidung.«
Nach einer Viertelstunde lachte auch David und Laurel schaute ihm dabei zu – sein Umriss wurde vom Bildschirm angestrahlt. Er lächelte die ganze Zeit vor sich hin und warf ab und zu lachend den Kopf zurück. Wenn sie mit ihm zusammen war, fiel es ihr leicht, alles andere zu vergessen. Ohne darüber nachzudenken, rutschte Laurel näher an ihn heran. Beinahe automatisch hob David den Arm und legte ihn ihr um die Schultern. Laurel schmiegte sich an seine Rippen und legte den Kopf an seine Brust. Er zog sie enger an sich und senkte den Kopf, bis eine Wange auf ihrem Scheitel lag.
»Danke, dass du gekommen bist«, flüsterte Laurel.
»Jederzeit«, sagte David und strich mit den Lippen über ihr Haar.
 
Als das Klangspiel in der Buchhandlung läutete, schaute Laurel auf. Sie wusste nicht genau, ob sie es schaffen würde, noch einen Kunden anzulächeln. Doch als sie David in die Augen sah, huschte ein Lächeln der Erleichterung über ihr Gesicht. »Hallo«, sagte sie und setzte den Bücherstapel, den sie gerade einsortierte, auf dem Tisch neben dem Regal ab.
»Hey«, sagte David leise. »Wie geht’s denn so?«
Laurel zwang sich, weiterzulächeln. »Ich lebe noch. So gerade.« Zögernd fragte er weiter: »Und wie geht’s deinem Dad?«
Laurel drehte sich zu dem Regal um und versuchte zum x-ten Mal an diesem Tag, die Tränen zurückzudrängen. Sie spürte, wie David ihre Schultern massierte, und lehnte sich gegen ihn. Das entspannte sie, sie fühlte sich besser, sicherer. »Sie verlegen ihn nach Brookings«, flüsterte sie.
»Geht es ihm schlechter?«
»Schwer zu sagen.«
David legte die Wange auf ihren Kopf.
Das Klangspiel läutete wieder. Obwohl Jen den Kunden bediente, löste Laurel sich von David und atmete tief und zitternd ein, um sich zu fassen. »Ich muss das hier noch erledigen«, sagte sie und hob den Bücherstapel wieder hoch. »Der Laden schließt in einer Stunde und ich muss noch vier Pakete auspacken.«
»Ich helfe dir«, sagte David. »Du musst mir nur sagen, wo sie hinkommen.« Er grinste. »Du darfst mich rumkommandieren.« Er nahm ihr den Bücherstoß ab und strich über den Glanzumschlag des obersten Buches. »Vielleicht könnte ich dir morgen wieder helfen.«
»Du hast doch selbst einen Job. Denk an deine Autoversicherung.«
»Die blöde Versicherung ist mir völlig egal, Laurel«, sagte er schroff. Dann riss er sich zusammen und sprach sanfter und ruhiger weiter. »Das ist das erste Mal in dieser Woche, dass ich dich außer zum Mittagessen und während des Unterrichts sehe, Laurel. Du fehlst mir«, sagte er achselzuckend.
Laurel zögerte.
»Bitte.«
Laurel gab auf. »Gerne, aber nur, bis es meinem Dad besser geht.«
»Das ist bestimmt bald, Laurel. In Brookings gibt es jede Menge Spezialisten, die finden, was ihm fehlt.« Er grinste. »Du kannst von Glück reden, wenn ich eine Woche hier schufte.«