• Kapitel 43 •
Es war späte Nacht, als auf dem Bonner’schen Gehöft Ruhe einkehrte.
Die Familien hatten noch lange in der Küche zusammengesessen und geredet. Johann war nicht müde geworden, seiner Schwester zu erzählen, wie es ihm und Franziska in den letzten Jahren ergangen war, und er erklärte auch, warum die beiden Schweden bei ihnen waren.
Obwohl Karoline jetzt mehr über ihren Bruder wusste, wusste sie nicht, ob sie sich über sein Erscheinen freuen sollte. Im Gegensatz zu ihrem Mann Jodokus, der Gefallen an der neuen Verwandtschaft zu haben schien. Seit Langem waren seine Gesichtszüge nicht mehr so entspannt gewesen. Karoline hatte ihrem Bruder und seiner Familie sowie den beiden Schweden – nur widerstrebend und erst, als Jodokus es ihr befohlen hatte – Schlafplätze im Haus zugewiesen.
»Endlich ist das große Haus wieder mit Leben ausgefüllt«, sagte Jodokus lächelnd und legte sich zu Karoline ins Bett. »Seit die alte Hebamme den Hexenschwur über uns gelegt hat, kam niemand mehr zu Besuch. Ich habe nicht gewusst, wie sehr ich es vermisst habe, dass Leute bei uns am Tisch sitzen.«
Karoline runzelte nachdenklich die Stirn. »Was werden sie sagen, wenn sie vom Fluch erfahren?«
»Dein Bruder und seine Frau wissen am besten, wie es ist, wenn man solch eine Last zu tragen hat.«
»Da magst du recht haben, aber was wird sein, wenn sie von dem Wechselbalg erfahren?«, fragte Karoline mit ängstlicher Stimme.
Jodokus drehte sich zu ihr. »Wir müssen ihnen von dem Wesen schon morgen erzählen, denn die Menschen in Hundeshagen werden es sofort ausplaudern, wenn sie mit Johann oder Franziska ins Gespräch kommen. Je früher sie von unserem Schicksal erfahren, desto besser ist es.«
»Vielleicht haben wir Glück, und Johann und seine Familie verschwinden schnell wieder«, sprach Karoline die Hoffnung aus.
Jodokus blickte ihr forschend in die Augen. »Ich glaube nicht, dass du das wirklich willst, Karoline. Sei ehrlich! Auch du bist glücklich, dass wir in Zukunft nicht mehr allein sind, wenn sie bleiben. Wir haben uns immer eine große Familie gewünscht.« Jodokus legte den Arm um seine Frau und zog ihren Kopf auf seine Brust.
Überrascht schielte Karoline zu ihrem Mann. Sie konnte sich nicht erinnern, wann Jodokus das letzte Mal die Nähe zu ihr gesucht hatte. Als seine Hand über ihren Kopf strich, schossen ihr vor Glück Tränen in die Augen.
»Freu dich über sie, Karoline. Unser Leben war trostlos, einsam und traurig. Doch jetzt habe ich Hoffnung, dass wir wieder glücklich werden können. Von mir aus können Johann und seine Familie sogar bei uns einziehen. Das Haus ist groß genug, Arbeit haben wir auch reichlich, und Kinder haben auf dem Hof gefehlt. Obwohl ich denke, dass Magdalena schon bald eine eigene Familie gründen wird.«
Erstaunt hob Karoline den Kopf. »Wie kommst du darauf?«
Jodokus schmunzelte. »Hast du nicht die Blicke gesehen, die sich der jüngere Schwede und deine Nichte zugeworfen haben? Ich würde mich nicht wundern, wenn sie sich gerade in der Scheune träfen.«
»Das müssen wir unterbinden«, sagte Karoline und wollte aufspringen, doch Jodokus hielt sie zurück.
»Darum müssen sich dein Bruder und seine Frau kümmern«, lächelte er und zog sie zu sich.
Magdalena lag auf dem Bett in dem einstigen Kinderzimmer ihres Vaters und horchte auf die Geräusche in dem fremden Haus. Als sie mehrmals niesen musste, verstärkte sich ihr Gefühl, dass schon lange niemand mehr diese Kammer betreten hatte. Hoffentlich findet Vater bald ein Heim für uns, dachte sie, denn ich will nirgends bleiben, wo ich nicht willkommen bin.
Die Stunden, als sie alle in der Küche um den Tisch herumgesessen hatten, waren furchtbar gewesen. Magdalena sah das verbissene Gesicht ihrer Tante vor sich. Ob Karoline Kinder hat?, überlegte sie. Sie hat keine erwähnt, fiel ihr auf. Auch das Haus ließ nicht darauf schließen. Vielleicht ist sie deshalb so sauertöpfisch, überlegte das Mädchen. Sie scheint Vater und uns nicht zu mögen, mutmaßte Magdalena weiter. Ich glaube, sie hasst alle Menschen dieser Welt, so eklig, wie sie ist. Nur ihr Mann scheint uns wohlgesinnt zu sein. Sie stöhnte: Warum mussten wir aufs Eichsfeld kommen?
Doch dann entspannte sich ihre Miene, und sie flüsterte: »Sonst hätte ich Arne nicht getroffen.«
Seit er in Allendorf plötzlich aufgetaucht war, hatten sie kaum ein Wort miteinander wechseln können, denn ständig war jemand zugegen. Wieder dachte sie an den Streit zwischen ihrem Vater und der Muhme. Es kann mir einerlei sein, ob meine Tante uns erlaubt zu bleiben oder nicht. Lange werde ich nicht in Hundeshagen bleiben, denn ich werde Arne folgen und mit dem Tross im schwedischen Heer weiterziehen, dachte sie und spürte bei dem Gedanken ein aufregendes Kribbeln im Bauch.
Magdalena drehte den Kopf zu Benjamin, der neben ihr lag, und lauschte angestrengt dem Atem ihres Bruders. Der Junge wälzte sich unruhig hin und her, und sie befürchtete, dass er aufwachen würde, sobald sie sich von ihm fortbewegte. Doch sie musste es riskieren, denn für nichts auf der Welt wollte sie in diesem Zimmer liegen bleiben, wenn Arne auf dem Dachboden über ihr lag.
Aber wie soll er wissen, dass ich draußen auf ihn warte?, grübelte Magdalena und kaute auf der Innenseite ihrer Wange. Es hat keinen Sinn, ich muss versuchen zu schlafen, entschied sie und drehte sich zu Seite.
Franziska lag neben ihrem Mann, und beide schwiegen. Da sie wusste, dass Johann nicht schlief, fragte sie: »Wie geht es dir?«
Er atmete laut aus und sagte leise: »Ich hatte gehofft, meine Mutter in die Arme schließen zu können, doch nun ist sie seit vielen Jahren tot, ebenso wie mein Oheim.«
Während des Gesprächs mit seiner Schwester in der Küche hatte Johann auch erfahren müssen, dass der Bruder seiner Mutter, sein Patenonkel Lutz Lambrecht, ebenfalls verstorben war.
»Die beiden Menschen, denen ich in meiner Familie am engsten verbunden war und die wiederzusehen ich mich gefreut habe, leben nicht mehr.«
»Aber du hast noch deine Schwester!«
Johann seufzte leise, doch dann sagte er: »Karoline scheint sehr verbittert zu sein.«
»Ich kann mich nicht daran erinnern, dass deine Schwester selbst in jungen Jahren ein fröhlicher Mensch war. Im Gegensatz zu dir, der du schon immer ein sonniges Gemüt hattest. Trotzdem muss ich dir recht geben. Karoline erinnert mich an mich selbst, so wie ich vor Kurzem noch war.«
»Wie meinst du das?«
»Es kommt mir vor, als ob sie jeden und alles für etwas verantwortlich macht, und deshalb stößt sie dabei jeden von sich. Genauso, wie ich es mit euch gemacht habe, bevor ich diesen Fiebertraum hatte.«
»Ich verstehe nicht, was du damit sagen willst.«
»Vielleicht hat auch sie einen schrecklichen Verlust erlitten. Womöglich ein Kind verloren.«
Johann überlegte.
»Weder Karoline noch Jodokus haben ein Kind erwähnt.«
»Sie können uns nicht am ersten Abend alles erzählen. Auch ich konnte über Jahre nicht über unseren Johannes sprechen.«
»Ja, das stimmt. Und darunter haben wir alle sehr gelitten«, flüsterte Johann und zog Franziska an sich. »Deshalb bin ich sehr dankbar, dass sich unser Leben durch diese Reise gewandelt hat.«
»Johann«, sagte Franziska und wartete, bis sie wusste, dass er ihr zuhören würde. »Wir müssen uns über Magdalena und Arne unterhalten.«
»Warum?«
»Du weißt, warum!«
»Sie ist noch ein Kind.«
»Du kannst nicht so tun, als ob sie keine Gefühle hätte.«
»Ich will darüber nicht sprechen«, erklärte Johann brüsk und drehte seiner Frau den Rücken zu.
••
Als der Morgen dämmerte, hatte Magdalena das Gefühl, kein Auge zugemacht zu haben. Sie sah zu Benjamin, der quer auf dem Lager lag und tief schlief. Vorsichtig stieg sie aus dem Bett, kleidete sich an und ging auf leisen Füßen aus dem Zimmer. Auf dem Gang horchte sie nach Geräuschen, doch alles blieb ruhig. Sehnsuchtsvoll blickte sie die Treppe zum Obergeschoss hoch, als sie glaubte, eine Bewegung zu sehen. Auf Zehenspitzen stieg sie die ersten Stufen hinauf und erblickte Arne, der mitten auf der Treppe saß, den Kopf in beide Hände gestützt. Er schlief. Sogleich begann Magdalenas Herz heftig zu klopfen, und das Durchatmen fiel ihr schwer. Arne spürte ihre Anwesenheit, denn er erwachte und streckte sich. Als er sie erblickte, überzog ein Strahlen sein Gesicht, und er flüsterte: »Da bist du endlich!«
Sogleich stand er auf und nahm Magdalenas Hand, und gemeinsam verließen sie das Haus. Sie liefen mit eiligen Schritten über den Hof in die Scheune, wo Arne Magdalena an sich zog und sie leidenschaftlich küsste. Als sie sich voneinander lösten, führte er sie zu einem Heuhaufen, in den sie sich lachend fallen ließen.
»Ich habe seit gestern Abend auf der Treppe gesessen, weil ich hoffte, du würdest kommen.«
»Das tut mir leid«, zwitscherte Magdalena lachend und zupfte ihm einen Halm aus dem Haar. »Wenn ich das geahnt hätte, wäre ich mitten in der Nacht zu dir gekommen.«
Erneut küssten sie sich.
Dann sagte Arne: »Der Feldmarschall hat mir sechs Wochen frei gegeben, die ich mit dir verbringen will.«
»Und danach?«
»Muss ich zurück zu meinem Heer.«
»Dann komme ich mit dir!«, erklärte Magdalena und strahlte ihn an.
»Das geht nicht.«
»Warum nicht?«, fragte sie und schob trotzig ihre Unterlippe vor.
»Weil wir in den Krieg ziehen werden, und da ist es in einem Heer zu gefährlich für dich.«
»Aber ich könnte im Tross mit euch reisen, so wie es die anderen Frauen auch machen«, erklärte sie.
Arne schüttelte den Kopf.
»Brigitta begleitet euch schließlich auch«, fauchte Magdalena.
Arne lachte laut. »Du weißt nicht, wer oder was Brigitta ist. Habe ich recht?«
»Sie ist eine wunderschöne Frau, die …«
»… die sich für Geld den Männern hingibt.«
Magdalenas Augen weiteten sich ungläubig.
»Du meinst, sie ist …?« Sie wagte das Wort nicht in den Mund zu nehmen, doch Arne hatte sie verstanden und nickte.
»Hast du auch schon … ich meine … Brigitta?«, stotterte sie.
Arne musste schmunzeln. »Wenn du wissen willst, ob ich Brigittas Dienste in Anspruch genommen habe: Nein, das habe ich nicht.«
Erleichtert schaute Magdalena zu ihrem Liebsten, doch dann wurde ihr Blick ernst. »Was soll aus uns werden, wenn du wegmusst und ich nicht mitkommen darf?«
Arne küsste ihre Stirn und sagte mit leiser Stimme: »Ich hoffe, du wirst bei deinen Eltern hier in Hundeshagen auf mich warten. Ich werde schnellstmöglich zu dir zurückkehren.«
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Johann wollte am Morgen zum Grab seiner Mutter gehen und bat seine Schwester, ihn zu begleiten. Zuerst wollte Karoline seine Bitte ablehnen, doch dann erkannte sie seinen bangen Blick und sagte zu.
»Wieso hat man Mutter als Selbstmörderin nicht am Rand des Friedhofs beerdigt?«, fragte Johann überrascht, als er vor dem Grab stand, das sich mitten unter den anderen Ruhestätten befand.
»Dafür hat Oheim Lutz Sorge getragen, obwohl Vater es nicht wollte«, erklärte Karoline. »Aber der Oheim hatte als Pfarrer die Macht, Mutter ein anständiges Begräbnis zu geben. Vater war damals außer sich, doch Lutz drohte ihm, ihn nach seinem Ableben irgendwo ohne kirchlichen Beistand zu verscharren. Du kanntest unseren Vater, er hatte eine Heidenangst vor dem Fegefeuer. Deshalb ließ er Lutz seinen Willen und verschwieg Mutters Selbstmord.«
Johann spürte, wie die Trauer sich seiner bemächtigte, und er schlug die Hände vors Gesicht.
Karoline blickte zu ihrem Bruder, der voller Verzweiflung über den Tod der Mutter weinte, die schon vor mehr als siebzehn Jahren verstorben war. Obwohl sie die Jüngere war, hatte sie das Bedürfnis, Johann zu beschützen und ihm die Trauer zu nehmen. Sie trat auf ihn zu und umarmte ihn. Er erwiderte die Umarmung. Als seine Arme sich um sie schlossen und er seinen Kopf gegen ihren lehnte, hatte Karoline auf einmal das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Es schien, als ob der Tag plötzlich heller und die Last, die ihre Schultern niederdrückte, leichter wurde.
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Franziska hatte Johann nicht auf den Friedhof begleitet, denn sie wollte, dass die beiden Geschwister allein das Grab der Mutter aufsuchten. Sie saß mit Benjamin in der Küche, während Jodokus mit Erik unterwegs war, um ihm das Bonner’sche Land zu zeigen. Arne war mit Magdalena in den Stall gegangen, um die Kuh zu melken, was sie zögerlich genehmigt hatte.
»Mir ist langweilig«, jammerte Benjamin zum wiederholten Mal und stützte sein Kinn auf die Tischplatte.
»Das ist wohl dein Lieblingssatz geworden«, schmunzelte Franziska und begann, Steckrüben zu putzen.
»Als wir mit den Schweden unterwegs waren, hatte ich viele Spielkameraden, aber hier ist alles langweilig.«
»Was hältst du davon, wenn du in dem Haus auf Schatzsuche gehst?«, fragte sie ihren Sohn.
Sofort ruckte sein Kopf hoch. »Du meinst, ich darf in jeden Raum gehen?«
»Nur, wenn du versprichst, dass du nichts kaputt machst.«
»Ich verspreche es«, rief Benjamin und lief hinaus in den Flur.
Nach einer Weile hatte er alle Räume gesehen, und alle waren gleich langweilig gewesen. In keinem konnte er einen Schatz entdecken. Es gab nur noch eine Tür, hinter die er noch nicht geschaut hatte. Als er die Klinke hinunterdrückte und die Tür aufstieß, murmelte er enttäuscht: »Nur ein blöder Keller!«
Doch dann hörte er leises Klirren und ein anderes Geräusch, das er nicht erklären konnte. Vielleicht ist hier unten ein Hund eingesperrt, dachte er freudig und ging langsam die ersten Treppenstufen hinunter.
Arne trug den Eimer mit der Milch und hielt Magdalenas Hand. »Du schaust keine fremden Männer an, bis ich aus dem Krieg zurückkehre?«, fragte er scherzhaft, doch sein Blick war ernst.
»Das muss ich mir reiflich überlegen«, antwortete Magdalena und öffnete ihm die Tür zur Küche.
Als er den Eimer auf dem Tisch abstellte, war ein fürchterlicher Schrei zu hören.
»Benjamin«, flüsterte Franziska und eilte hinaus, wobei sie gegen den Tisch stieß, sodass die Milch überschwappte.