• Kapitel 37 •
Kaum hatte das Bonner’sche Fuhrwerk das Lager der Schweden verlassen, brauste Johann auf: »Das hätte ich mir denken können! Erst versprechen uns die Schweden Schutz, und dann jagen sie uns davon. Zu dumm, dass ich Gustavsson und diesem Arzt nicht meine Meinung sagen kann. Sie waren wohl zu feige, uns selbst mitzuteilen, dass wir verschwinden sollten. Feind bleibt Feind«, schimpfte er und lenkte die Pferde auf die Heeresstraße.
Franziska wagte nichts zu erwidern. Sie war enttäuscht von den beiden Schweden. Trotz allem haben sie uns vor den Söldnern gerettet, beschwor sie die Erinnerung. Das entschuldigt aber nicht ihr jetziges Verhalten. Sie hätten sich wenigstens von uns verabschieden können, dachte sie dann und blickte nach hinten, um nach ihren Kindern zu sehen.
Benjamin saß schluchzend neben Magdalena. »Das ist gemein, denn ich konnte mich nicht von meinen Freunden verabschieden, die nun nicht wissen, wo ich bin. Dabei wollten Gunnar und Björn mir heute die Waffen der Soldaten zeigen«, weinte er und presste sein nasses Gesicht an die Schulter seiner Schwester, die tröstend den Arm um ihn legte.
Magdalena konnte weder weinen noch schreien. Kein Ton kam über ihre Lippen. Verstört saß sie da und starrte zurück zum Schwedenlager, das immer kleiner wurde. Sie hatte das Gefühl, einen Alptraum zu träumen. Alles schien unwirklich, so wie die Worte, die Arne ihr am Abend zuvor zugeflüstert hatte und denen sie nun nicht mehr glauben konnte. Er ist ein verlogener Bastard, dachte sie bitter und stellte sich vor, wie er in Brigittas Armen lag und über ihre Unerfahrenheit lachte. Ich dumme Gans, schalt sie sich selbst. Wie konnte ich nur annehmen, dass er Gefühle für mich hegen könne?
Die Familie setzte schweigend ihre Fahrt fort, ohne zu wissen, wo sie waren oder wohin sie mussten. Als ihnen unterwegs ein Bauer begegnete, der einen mageren Ochsen vor sich hertrieb, zügelte Johann die beiden Hengste neben ihm und fragte: »Kannst du mir sagen, wie ich nach Allendorf komme?«
Der Alte betrachtete aus trüben Augen die beiden Pferde. »Prachtvolle Rösser hast du«, sagte er anerkennend. »Du musst aufpassen, dass man sie dir nicht stiehlt. Die Menschen sind schlecht geworden und achten den Besitz des anderen nicht mehr.« Dann wiesen seine gichtkrummen Finger in eine Richtung. »Du folgst der Heeresstraße bis Witzenhausen, von dort weiter über den Zinnberg durch den Wald, dann siehst du die Stadtmauer von Allendorf vor dir liegen.«
»Wann, glaubst du, werden wir dort ankommen?«
Der Alte überlegte, wiegte den Kopf mit dem schütteren Haar von rechts nach links und blickte zur Sonne, die über ihnen stand. Schließlich meinte er: »Am späten Nachmittag müsstet ihr dort sein.«
Johann bedankte sich und ließ die Pferde antraben.
Nachdem die Tiere ihren Schritttakt gefunden hatten, nahm er Franziskas Hand und versprach: »In Allendorf werden wir uns eine Nacht im Gasthaus gönnen.« Als er den überraschten Gesichtsausdruck seiner Frau sah, fügte er lächelnd hinzu: »Ich freue mich auf ein anständiges Essen und ein kühles Glas Bier. Dieses dünne Tunnbröd kam mir schon aus den Ohren heraus.«
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Als die Stadtmauern von Allendorf zu sehen waren, konnte Franziska nicht leugnen, dass sie ein gutes Gefühl spürte. Sie freute sich auf ein behagliches Nachtlager und ein schmackhaftes Essen. Auch der Gedanke, dass sie nicht mehr fern der Heimat waren und die Anstrengungen bald ein Ende haben würden, ließ sie lächeln. Glücklich blickte sie zu ihrem Mann. Letzte Nacht hatten sie sich seit Langem wieder in den Armen gelegen und ihre Liebe füreinander aufs Neue gefestigt. Franziska lächelte entspannt.
Dann sah sie, wie ihr Mann die Augen verengte und nach vorn starrte. »Was ist?«, fragte sie beunruhigt.
»Steht da jemand auf der Stadtmauer und winkt?«, wollte Johann wissen und zeigte nach Allendorf.
Nun engte auch Franziska ihren Blick ein, um besser sehen zu können. »Glaubst du, er meint uns?«, fragte sie unsicher. Da der Mann aufgeregt auf der Mauer hin und her sprang, blickte sie hinter sich, ob jemand ihnen folgte, aber da war niemand.
»Er meint tatsächlich uns«, murmelte Franziska, legte die Hand vor die Stirn und schaute nach vorn.
Je näher sie kamen, desto heftiger winkte der Mann. Schließlich legte er die Hände als Trichter vor den Mund und schrie: »Macht, dass ihr hinter die Stadtmauern kommt. Wir schließen die Tore.«
Überrascht blickte Johann Franziska an. »Es ist noch lange nicht Abend, und sie wollen die Stadttore schließen?«
Im selben Augenblick waren Stimmen zu hören, die wie eine Welle laut wurden und wieder abebbten, laut wurden und wieder abebbten. Fragend blickten die beiden zu dem Mann auf der Mauer hinauf, als Magdalena schrie: »Soldaten!«
Nun sahen auch Johann und Franziska die zahlreichen Männer, die an den Ufern der Werra und auf Wiesen, Feldern und Äckern nahe der Stadt zu lagern schienen. Einige Soldaten hatten das Fuhrwerk entdeckt und liefen darauf zu. Johann schlug seinen Pferden mit den Zügeln auf den Rücken, damit sie schneller wurden. Kaum war ihr Gespann durch das Tor gefahren, fiel das Stadttor von Allendorf mit lauten Rums zu.
Johann zügelte die Hengste, die ihre Nüstern aufblähten und vor Angst die Augen aufrissen. Er blickte den Torwächtern mit verständnislosem Blick entgegen, die zum Fuhrwerk gelaufen kamen und die aufgeregten Pferde am Zaumzeug festhielten.
»Was ist hier los?«, rief er ihnen zu und sprang zitternd vom Kutschbock. Erst jetzt wurde ihm bewusst, in welcher Gefahr sie geschwebt hatten. »Das war knapp«, sagte er zu einer der Torwachen und blickte besorgt zu seiner Familie, die ihn aus schreckensweiten Augen anstarrte.
»Allendorf wird seit einigen Tagen von den Kroaten und den Kaiserlichen belagert«, erklärte einer der Wachmänner.
Johann hielt sich beide Hände vors Gesicht und stöhnte: »Das darf alles nicht möglich sein. Wir sind auf dem Weg nach Hundeshagen und wollten in eurer Stadt nur für einen Tag rasten.«
»Das könnt ihr. Allerdings wird eure Rast länger dauern.«
Franziska war kreidebleich vom Kutschbock gestiegen und half ihrem Sohn und Magdalena, die kein Wort von sich gaben, von der Ladefläche zu springen.
Die Wachmänner des Tores musterten Johann und Franziska. Ihre Blicke blieben an ihren nur langsam verheilenden Verletzungen am Hals und im Gesicht hängen. »Was ist mit euch geschehen?«, fragte der eine misstrauisch.
»Wir wurden vor mehreren Tagen von Söldnern überfallen und sind nur knapp mit dem Leben davongekommen«, erklärte Johann und fasste sich an seine verkrustete Halswunde.
»Da scheint ihr Glück gehabt zu haben. Erst gestern haben die Kroaten ohne Erbarmen einen Bürger unserer Stadt erschossen, der für die Einhaltung der Schichtzeiten in der Saline zuständig war. Nur weil Johannes Klinckerfuß – so hieß der Unglückliche – die Arbeitszeit ein wenig überzogen hatte, ließen Oberst Beygott und der Regimentsführer Geleen ihn hinrichten.«
»Was wollen die Kroaten und die Kaiserlichen von Allendorf?«, fragte Franziska und legte den Arm um Benjamin, der nicht verstand, was los war, und sich an sie presste.
In diesem Augenblick eilte ein Mann, dessen rundes Gesicht von einem Vollbart bedeckt wurde, um die Häuserecke. »Wer seid ihr?«, rief er schon von Weitem und stellte sich breitbeinig vor Johann auf, der ihn um einen halben Kopf überragte.
»Mein Name lautet Johann Bonner. Da sind meine Frau und meine beiden Kinder«, dabei zeigte er auf seine Familie. »Wir sind auf der Durchreise. Und wer bist du?«
»Ich heiße Christoph Kirchmeier und bin der Bürgermeister von Allendorf und der Saline in Sooden.«
»Wie kann es sein, dass eure Stadt belagert wird?«
»Wir hatten gehofft, dass die kaiserlichen und die kroatischen Regimenter weiterziehen würden, zumal sie bereits in unserer Nachbarstadt Eschwege keine Beute machen konnten. Aber sie müssen ihre Vorräte auffrischen, und die Offiziere glauben, dass wir in der Lage sind, ein viertausend Mann starkes Heer zu ernähren. Dabei haben unsere siebenhundert Bürger selbst kaum genug zu essen. Vor einigen Jahren zogen bereits die Regimenter der Feldherren Tilly, Wallenstein, Pappenheim und noch einige andere durch diese Gegend, und jeder plünderte unsere Stadt. Nun sind die Kassen der Stadt und die Säckel der Bürger leer, denn wir mussten jedem Feldherrn Schutzbriefe abkaufen, damit sie Allendorf nicht anzünden.«
»Wissen das die Kaiserlichen und die kroatischen Feldherren nicht?«
Der Bürgermeister ließ die Schultern hängen und stöhnte leise. »Sie sind davon überzeugt, dass wir unsere Stadtkassen ebenso wie unsere Vorratskammern weiter auffüllen können, weil wir die Salzgewinnung aufrechterhalten. Doch die Zeiten, als wir eine reiche Stadt waren, sind lange vorbei. Wir haben ihnen unser letztes Geld gegeben, damit auch sie uns einen Schutzbrief ausstellen.«
Johann legte fragend seine Stirn in Falten. »Wofür?«
Der Bürgermeister schnaufte verhalten aus. »Damit unsere Arbeiter unbeschadet nach Sooden gehen können, wo sich unsere Saline befindet. Wir können mit der Salzgewinnung nicht einfach aufhören, schließlich erwirtschaften wir damit zwei Drittel des Landeshaushaltes. Das wissen die Offiziere auch und harren deshalb aus.« Kirchmeier strich sich über seinen struppigen Vollbart. »Als Tilly vor etlichen Jahren hier durchzog, dachte ich, dass bald wieder Frieden herrschen würde, aber ich habe mich geirrt. Nun fordert dieser verdammte Krieg erneut seinen Tribut. Es ist eine Binsenweisheit, dass nach so vielen Kampfjahren der Krieg den Krieg ernährt. Doch irgendwann ist nichts mehr zu holen.«
Johann sah Franziska verzweifelt an. »Was sollen wir machen?«, fragte er seine Frau.
Doch der Bürgermeister antwortete: »Wenn ihr die schützenden Mauern der Stadt verlasst, kann euch niemand helfen, und ihr seid auf euch allein gestellt. Deshalb rate ich euch zu Geduld. Vielleicht haben wir Glück, und die Regimentsführer geben auf und ziehen weiter.«
»Besteht die Hoffnung, dass das bald geschehen wird?«, fragte Franziska und strich ihrem Sohn beruhigend übers Haar.
»Diese Frage kann niemand beantworten. Meine Bürger verhöhnen die Soldaten jeden Tag aufs Neue und sagen ihnen, dass bei uns nichts zu holen ist, aber diese Dummköpfe wollen es nicht glauben. Zwar gehen wir nicht davon aus, dass sie in unsere Stadt eindringen können, denn die Stadtmauer ist hoch und das Holz unserer Tore dick und standhaft. Trotzdem haben wir tagein, tagaus Steine auf die Wälle geschleppt und unsere Waffen für den Ernstfall hinaufgetragen. Aber wenn man die Abertausende Soldaten sieht, wird einem mulmig zumute. Wir hoffen auf den Beistand Gottes und beten täglich in der Kirche Sankt Crucis. Mehr können wir nicht tun.«
Johann knetete nervös seine Hände. »Schon fast daheim und trotzdem so weit entfernt«, jammerte er, sodass Kirchmeier ihn mitfühlend ansah. »Doch wir haben keine andere Wahl und müssen bleiben. Wo können wir die Pferde unterbringen, und wo können wir nächtigen?«
»Im Gasthaus ›Zum Löwen‹ sind Zimmer frei«, lachte der Bürgermeister. »Normalerweise ist das Gasthaus gut besucht, weil dort auch unsere Zollstation ist, aber unter diesen Umständen gibt es nichts zu verzollen. Komm, guter Mann, ich lade dich zu einem Dreimännerwein ein.«
»Dreimännerwein?«, fragte Johann zweifelnd.
»Unser Wein ist so sauer, dass zwei Mann dich festhalten müssen, damit du ihn trinken kannst.«
»Dann nehme ich lieber ein Bier!«, erwiderte Johann.
Johann hatte für seine Familie ein Zimmer im Gasthaus »Zum Löwen« gemietet und der Wirtin ein zusätzliches Geldstück in die Hand gedrückt. »Das sollte reichen, damit meine Familie ein Bad nehmen kann.«
Nachdem er die Pferde in dem Stall hinter dem Gasthaus untergebracht und versorgt hatte, traf er sich mit dem Bürgermeister in der Schankstube. Kaum saß er bei Kirchmeier am Tisch, stellte der Wirt ihm einen Krug Bier vor die Nase.
»Ich weiß nicht mehr, wann ich das letzte frisch gezapfte Bier getrunken habe«, nuschelte Johann und nahm einen tiefen Schluck. Leise seufzend wischte er sich den Schaum von den Lippen und grinste den Bürgermeister zufrieden an.
»So ist es richtig«, sagte Kirchmeier und nickte ihm zu. »Da wir an unserer Lage nichts ändern können, sollten wir Ruhe bewahren und unser Bier genießen. Du sagtest, dass du vom Eichsfeld stammst?«
Johann nickte. »Aus Hundeshagen. Wir waren seit über siebzehn Jahren nicht mehr dort«, erklärte er und erzählte seine Geschichte.
Der Bürgermeister schüttelte den Kopf. »Das ist wirklich unfassbar. Kurz vor der Haustür kommen dir die Kroaten und Kaiserlichen in die Quere. Aber vertraue auf Gott. Es dauert nicht mehr so lang, wie es einmal gedauert hat, und ihr werdet eure Heimat wiedersehen«, prophezeite er.
Die Wirtin hatte der Familie Bonner eine Kammer zugewiesen, in der ein Badezuber stand. »Normalerweise vermieten wir diesen Raum nur an wohlhabende Geschäftsmänner. Aber da wir sonst keine Gäste haben und auch keine zu erwarten sind, könnt ihr hier nächtigen. Zudem war dein Mann großzügig«, hatte sie Franziska mit einem breiten Grinsen erklärt, sodass ihre zahlreichen Zahnlücken zu erkennen waren. »Ich werde die Mägde mit heißem Wasser zu euch schicken.«
Magdalena hatte ihren Bruder eingeseift und schrubbte nun mit einer Bürste vorsichtig seinen Rücken.
»Das tut weh«, jammerte Benjamin.
Doch seine Schwester erwiderte: »Der Gestank der Schweden muss von deiner Haut.«
»Meine Freunde haben nicht gestunken«, ereiferte er sich und blickte Magdalena böse an.
»Ich kann sie immer noch riechen«, murmelte sie und rieb ihm mit einem Lappen über die Haut.
Benjamin rief: »Dann musst du selbst baden, denn du stinkst auch.«
Magdalena blickte ihn empört an, doch dann roch sie an ihrem Rock und musste dem Bruder recht geben. »Ich rieche tatsächlich«, stellte sie mit gerümpfter Nase fest.
Als ihre Mutter das sah, musste sie laut lachen. »Wir alle haben ein Bad bitter nötig. Deshalb kommst du jetzt aus dem Badezuber, Benjamin, damit deine Schwester sich aufweichen lassen kann. Ich werde zum Schluss baden«, erklärte sie und holte einen Eimer mit heißem Wasser.
Kaum war der Junge aus dem Trog gestiegen, kippte sie das frische Wasser dazu. Magdalena entkleidete sich und hüpfte in das warme Badewasser. Sie lehnte ihren Kopf gegen das Holz und winkelte die Beine an, damit das Wasser ihren Körper umspülte. Sie schloss die Augen, und sogleich schob sich Arnes Gesicht in ihre Gedanken. Sie versuchte, nicht an den Schweden zu denken, konnte jedoch das Bild in ihrem Kopf nicht verscheuchen, denn sie vermisste ihn schmerzlich. Die Gewissheit, ihn nie wieder zu sehen, presste ihr Herz zusammen, und Tränen kullerten unter ihren geschlossenen Lidern hervor.
Plötzlich spürte sie eine Hand auf ihrer Wange, und sie blickte auf. »Lass mich dein Haar waschen, Magdalena«, sagte ihre Mutter mitfühlend, und sie nickte.
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Arne saß am Lagerfeuer der Soldaten und sackte mit dem Oberkörper nach vorn. Der Anisschnaps, mit dem er versuchte, seinen Schmerz zu ertränken, betäubte zwar seinen Körper, aber nicht seinen Kopf. Er blickte mit glasigen Augen zu Gustavsson, der ihm gegenübersaß und lallte: »Die Weiber sind alle gleich.«
Erik hatte versucht, seinen Freund davon abzuhalten, die Flasche leerzutrinken, doch Arne hatte wie von Sinnen gebrüllt, dass er kein Kindermädchen brauche.
»Sauf nicht so viel!«, ermahnte Gustavsson ihn erneut, als Arne die zweite Flasche öffnete und einen kräftigen Zug nahm.
»Wie kann sie einfach abhauen ohne ein Zeichen des Abschieds?«, jammerte der Hüne wie ein kleines Kind. »Sie hätte warten müssen. Warum bin ich nicht im Lager geblieben?«, klagte er und blickte seinen Freund mitleidheischend an.
Gustavsson sog an seiner Pfeife und überlegte. Dann sah er Arne mit festem Blick an und sagte mit leiser Stimme: »Das ist eine gute Frage!«