Kapitel 21

Bereits vor Morgengrauen war Jodokus von Hundeshagen zum Hülfensberg aufgebrochen. Seit vielen Jahren marschierte er einmal im Monat zu der Wallfahrtsstätte, wo er in der kleinen Kapelle vor dem Gnadenkreuz betete. Selbst bei schlechtem Wetter meisterte Jodokus diese Strecke zu Fuß, obwohl er dorthin hätte reiten können. Besonders der steile Weg am Hülfensberg, über den man zur Kapelle gelangte, war sehr beschwerlich und ließ ihn keuchen. Doch für Jodokus kam diese Anstrengung einer Buße gleich. Zwar wusste er nicht, wofür er Reue zeigen sollte, denn er war ein guter Christ, der weder stahl noch log oder betrog. Dennoch glaubte er, dass es nicht schaden konnte, Gott seine Demut zu zeigen. Im Geheimen aber hoffte Jodokus auf ein Wunder, dass diese selbst auferlegte Buße den Heiland bewegen würde, ihm eines Tages den kleinen Michael zurückzubringen. Stand nicht in der Bibel schon geschrieben, dass Jesus Wasser in Wein verwandelt hatte? Warum sollte es solch ein Wunder nicht auch in seinem Fall geben, und sein Sohn würde heimkehren?

Auf dem Rückweg vom Hülfensberg hatte Jodokus versucht, die quälenden Gedanken zu verdrängen. Schließlich war es ein besonderer Tag, denn er machte einen Umweg über Breitenbach. Wie viele Ortschaften auf dem Eichsfeld war auch diese durch die Wirren des Krieges fast menschenleer geworden. Etliche Häuser standen verwaist und verfielen im Lauf der Zeit. Eine gespenstische Stille lag in den verlassenen Straßen. Wo einst Kinder gespielt, Frauen getratscht, Hunde unter Bäumen gelegen und Schweine sich im Dreck gesuhlt hatten, herrschten jetzt Schweigen und Einsamkeit. Die anhaltenden Kämpfe hatten das katholische Eichsfeld, das die nördlichste Exklave von Kurmainz war, schwer in Mitleidenschaft gezogen. In unregelmäßigen Abständen waren die protestantischen Heere der Schweden und der Dänen, die katholischen Truppen der Hessen, der Sachsen und der Kaiserlichen scharenweise durch diesen Landstrich in Thüringen gezogen, um sich mit Proviant zu versorgen. Die Truppen plünderten, brandschatzten und nahmen, was ihnen nicht gehörte. Sie stahlen den Eichsfeldern das Korn zum Säen und das wenige Vieh, das sie schlachten konnten. Schlechtes Wetter verursachte außerdem Missernten, sodass das Getreide auf den Äckern verfaulte und viele Menschen verhungerten. Manche starben an der Pestilenz oder anderen Krankheiten. Wieder andere wurden von der Hoffnung fortgetrieben, anderswo Frieden und Nahrung zu finden, und deshalb verließen sie die Heimat. Menschen, die sich die Anstrengungen nicht zutrauten oder krank daniederlagen, mussten bleiben.

Zu den Zurückgebliebenen gehörte ein alter Weber, der nun allein in Breitenbach lebte. Jodokus hatte dem Alten einen Schinken mitgebracht und dafür Leinen erhalten, denn in diesen Zeiten war Essen mehr wert als ein paar Münzen. »Daraus kann sich Karoline ein neues Kleid schneidern«, freute sich Jodokus und presste den Stoff unter den Arm. Er wusste, dass seine Frau die Gabe hatte, schöne Kleider zu nähen und diese kunstvoll zu besticken. Deshalb hatte er dem Weber noch eine halbe Grauwurst gegeben und dafür Nähnadeln und bunte Garne erhalten, damit Karoline ihr neues Gewand verzieren konnte.

Beschwingt wie ein junger Mann ging Jodokus den letzten Teil der Wegstrecke nach Hundeshagen. Es war spät geworden, und Karoline würde sicher schon schlafen, wenn er zu Hause ankam. Ich werde ihr beim Frühmahl mein Geschenk überreichen, überlegte er lächelnd und stellte sich in Gedanken die leuchtenden Augen seiner Frau vor, wenn er ihr den Stoff gab.

Karoline stand am nächsten Tag am Tisch in der Küche und zerschnitt das grobe Leinentuch. Sie wollte aus dem Stoff einen neuen Kittel für das Dämonenkind schneidern, denn der alte war zerschlissen und zu kurz geworden. Während sie das Muster schwarz einzeichnete, liefen ihr Tränen über die Wangen. Sie hielt inne, legte die Kohle zu Seite und wischte sich mit dem Ärmel energisch über das Gesicht, doch es wurde nur schlimmer, sodass sie sich laut aufschluchzend hinsetzte.

Sie hörte in Gedanken Jodokus wieder schimpfen, und sie erinnerte sich an sein wütendes Gesicht. Nachdem er ihr sein Geschenk übergeben hatte, teilte sie, ohne nachzudenken, ihrem Mann mit, dass sie aus dem Stoff neue Kleidung für den Wechselbalg nähen wollte. Daraufhin hatte Jodokus sie angeschrien, ob sie wahnsinnig geworden sei. »Ich habe Schinken und Grauwurst hergegeben, um dir eine Freude zu machen. Und du denkst an dieses Ungeheuer!«

»Versteh doch, mein Lieber. Sein Kittel ist zu klein geworden, und ich habe genügend Kleider«, hatte Karoline vergeblich versucht, ihn zu überzeugen.

»All die Jahre hast du für diesen Balg das getan, was notwendig war, und es hat gereicht. Doch seit er aus dem Keller gekrochen kam, bist du wie verwandelt. Was ist los mit dir?«

Karoline hatte hilflos mit den Achseln gezuckt. »Ich weiß es nicht, und ich kann es nicht erklären. Vielleicht tut er mir leid, weil seine Dämoneneltern so herzlos waren und ihn allein bei uns zurückgelassen haben«, hatte sie geflüstert. Als sie den ablehnenden und uneinsichtigen Blick ihres Mannes sah, wollte sie ihn besänftigen und ihn umarmen, aber er hatte sie grob zur Seite gestoßen.

»Sie waren uns gegenüber herzlos, denn sie haben uns unser einziges Kind im Tausch gegen ihren Balg entrissen. Dein Mitgefühl sollte allein Michael gelten, denn er wächst ohne seine Eltern auf. Er spürt weder Geborgenheit noch Liebe«, hatte Jodokus geschrien und das Haus mit einem Türenknall verlassen.

Karoline hatte keine Ahnung, wohin er gegangen sein könnte. Während sie sich die Nase schnäuzte, blickte sie besorgt aus dem Fenster. Als sie die ersten Schneeflocken sah, schickte sie ein Stoßgebet zum Himmel, dass Jodokus bald heimkommen möge.

Wütend war Jodokus aus dem Haus und über den Hof gestapft. Erst vor dem Hoftor wurde ihm bewusst, dass er keine Ahnung hatte, wohin er wollte. Der Wind war kalt, und Schnee lag in der Luft, obwohl der Frühling Einzug halten sollte. Doch die Kühle tat Jodokus gut. Er atmete mehrmals ein und aus, um sein erhitztes Gemüt zu beruhigen. Aber der Ärger über seine Frau verflog nicht, sondern wurde größer. »Was hat sie sich dabei gedacht?«, schimpfte er und ging hinüber zum Stall. Jodokus hätte seine Wut gern hinausgeschrien, aber er beherrschte sich und sattelte sein Pferd. Da er schon seit geraumer Zeit nicht mehr in seinem Geburtsort Mingerode gewesen war, beschloss er, dorthin zu reiten. Als er zum Hoftor hinausritt, blickte er zurück zum Gehöft und murmelte: »Soll Karoline mit dem Stoff machen, was sie will.«

Er zog den Mantel eng um seine Schultern und trat der Stute in die Flanken. Er ritt an Teistungen vorbei und versuchte einen Bogen um Gerblingerode zu schlagen. Als er den Ort aus dem Augenwinkel sah, war er froh, dass es ihn nicht dorthin verschlagen hatte. Diese Ortschaft war durch den langen Krieg schwer gebeutelt worden. Wiederholte Plünderungen, Einquartierungen fremder Truppen und Zwangsabgaben von Lebensmitteln hatten die Einwohner ausgesaugt. Seit fünf Jahren mussten auf Befehl von General Tilly, der Heerführer der katholischen und Generalleutnant der kaiserlichen Truppen war, Duderstadt und seine Ratsdörfer jährlich einundzwanzigtausend Reichstaler zahlen, womit auch Gerblingerode gezwungen war, seinen Teil beizusteuern. Da die Bewohner kaum Geld besaßen, mussten sie sich verpflichten, einen Teil der Schuld in Lebensmitteln abzugelten. »Es trifft immer die Falschen!«, dachte Jodokus und galoppierte davon.

Als er Duderstadt vor sich sah, begann es zu schneien. Erneut trat er dem Pferd in die Seiten und trieb es an. Er ließ die Stadt links liegen und ritt über Wiesen und Äcker in Richtung Mingerode. Obwohl er durchgefroren war und kaum noch Füße und Hände spürte, freute er sich, seinen Heimatort wiederzusehen.

Jodokus lenkte die Stute vor das einzige Wirtshaus, saß ab und brachte das Pferd hinter die schäbige Hütte in einen Verschlag, wo es trocken stehen würde. Nachdem er es versorgt hatte, trat er hinaus ins Freie. Das Schneetreiben hatte zugenommen und ließ Jodokus erschauern. Rasch ging er ins Wirtshaus, nahm seinen Umhang ab und schüttelte ihn in der Tür aus.

»Mach das Loch zu«, blaffte ihn der Wirt an. »Sonst geht die Wärme verloren.«

Jodokus schloss wortlos die Eingangstür, ging zu einem kleinen Tisch an der Wand und nahm Platz.

»Das glaube ich nicht«, sagte der Wirt und schaute seinen einzigen Gast prüfend an. »Der Herr Großbauer gibt mir die Ehre.«

»Halt’s Maul, Hilarius, und schenk mir ein Bier ein.«

Der Wirt schüttelte ungläubig den Kopf, ging zur Theke und zapfte zwei Krüge Gerstensaft. »Vor drei Tagen aus dem Wasser der Brehme in Duderstadt gebraut«, erklärte er grinsend und setzte sich zu Jodokus an den Tisch. »Wohl bekomm’s«, sagte er und prostete ihm zu. »Dir muss es mächtig im Hintern jucken, wenn du nach so langer Zeit und bei solchem Sauwetter nach Mingerode kommst.«

Jodokus stellte seufzend den Krug ab und wischte sich mit beiden Händen durchs Gesicht. »Ja, es ist eine Weile her, seit ich hier war. Dass es zu schneien beginnt, habe ich nicht ahnen können, schließlich ist Frühling.«

Der Wirt lachte freudlos auf. »Leider weiß das der Frühling noch nicht. So kalt wie in den letzten Tagen war es um diese Jahreszeit schon lange nicht mehr. Man munkelt, dass die Frau des alten Schäfers Schadenszauber über das Eichsfeld gelegt hat. Sie wurde verhaftet und der peinlichen Befragung unterzogen. Sobald sie gesteht, wird sie verbrannt, und dann wird es Frühling werden.«

Jodokus blickte erschrocken auf und winkte ab. »Dann wäre ihre schwarze Magie die mächtigste, von der ich bis jetzt gehört habe. Wäre sie schuldig, hätte sie mit dem schlechten Wetter sich selbst und ihrer Schafherde geschadet.«

Der Wirt nickte. »Vielleicht hast du recht. Wer weiß, welche Mächte ihre Finger im Spiel haben«, meinte er nachdenklich. »Womöglich nennt die Schäferfrau bei der Befragung die Namen anderer Hexen, die Unzucht mit dem Teufel getrieben haben. Dann werden eben diese brennen. Hauptsache, der Schadenszauber wird aufgehoben.«

»Steht Mingerode immer noch im Hand- und Spanndienst von Duderstadt und muss Galgen stellen und Brennholz für die Scheiterhaufen liefern?«

Der Wirt nickte und schimpfte: »Ich hoffe, dass unsere Kinder sich eines Tages dagegen auflehnen werden und wir dann nicht länger als Handlanger des Henkers gelten.« Doch dann entspannte er sich und fragte: »Was hast du in Mingerode zu schaffen?«

Jodokus verzog die Mundwinkel, und der Wirt grinste.

»Hast wohl Krach mit deiner Alten«, schlussfolgerte er. Als er Jodokus’ Gesichtsausdruck sah, feixte er: »Hättest eine von hier heiraten sollen. Die Auswärtigen sind nichts für unsereinen.«

»Red keinen Unsinn. Karoline ist eine gute Frau. Eine bessere hätte ich nirgends finden können.«

Hilarius zog zweifelnd die Stirn in die Höhe. »Ich habe gehört, dass euch die Menschen in Hundeshagen meiden, da sie vor deiner Alten Angst haben und sich vor den Folgen des Hexenschwurs fürchten.«

Jodokus schloss für einen Augenblick die Augen und schüttelte den Kopf. »Ich kann es nicht mehr hören«, murmelte er und sah den Wirt missmutig an. »Die Hebamme«, erklärte er müde, »hat nur Karoline und mich verflucht. Sie hat uns Angst, Krankheit und Seuchen an den Hals gewünscht. Sie schwor, dass Ungeziefer über Karoline und die Ihren kommen werde. Sie wünschte uns im Angesicht ihres Todes Hunger und Not. Niemand außer Karoline und mir wurde in den Fluch mit einbezogen. Aber glaube mir, Hilarius, auch ohne diesen Hexenschwur leiden wir genug.«

Der Wirt sah Jodokus mitfühlend an. »Sein Kind auf solch grausame Weise zu verlieren ist wohl das Schlimmste, was Eltern passieren kann«, erklärte Hilarius.

Jodokus nickte. »Einerlei, was wir mit dem Wechselbalg anstellen, unser Michael ist verloren, und wir sind an dieses Dämonenkind gefesselt.«

Der Wirt schwieg einen Augenblick lang und fragte dann: »Wie sieht das Wesen aus? Hat es Flügel?«

Jodokus schüttelte den Kopf. »Nein, wo denkst du hin? Leider hat es keine Flügel, sonst würde es womöglich wegfliegen.« Vor seinen Augen entstand wieder das Bild, wie das Wesen vor einigen Tagen kreischend auf dem Boden seiner Küche gesessen hatte. »Es ist blass und schmächtig, obwohl es ständig nach Essen brüllt. Seine Zähne sind klein und spitz und seine Haare hell gelockt und reichen ihm bis zum Arsch. Er kann nicht richtig gehen, da seine Beine krumm und dünn sind. Seine Füße sind verformt, und es ist wahrlich hässlich anzusehen.«

»Ich hätte ihn wahrscheinlich schon totgeschlagen«, urteilte Hilarius und zapfte zwei neue Biere.

»Bist du von Sinnen?«, widersprach ihm Jodokus. »Nur wenn er lebt, wird auch unser Michael leben. Obwohl es kaum Hoffnung gibt, so bete ich inständig, dass die Dämonen eines Tages ihr Kind holen und uns unseren Sohn zurückbringen werden.«

Als der Wirt Tränen in den Augen seines Gastes schimmern sah, blickte er peinlich berührt zu Seite. Um ihn abzulenken, zeigte er auf seine Augenklappe. »Hast du die schon bemerkt?«

Nun musste Jodokus grinsen. Er hatte sofort beim Eintreten die dunkle Klappe gesehen, die über Hilarius’ linkem Auge lag. »Es ist rühmlich, ein Gebrechen aus dem Krieg mitzubringen«, erklärte er, da er wusste, dass der Wirt gekämpft hatte.

»Ach ja?«, tönte Hilarius. »Ich hätte darauf verzichten können. Drei Wochen habe ich in einem stinkenden Feldlazarett gelegen und gelitten. Um mich herum lagen die armen Schweine, denen man Beine, Hände oder Arme absägen musste, weil sie von Kanonenkugeln zerfetzt worden waren. Kein schöner Anblick, kann ich dir sagen. Aber was erzähle ich dir das, du hast ja nicht gekämpft. Oder?«

Jodokus schüttelte den Kopf. »Nein, nachdem die Dämonen Michael gegen den Wechselbalg ausgetauscht hatten und unser Sohn verschwunden war, konnte ich Karoline nicht allein lassen. Aber manchmal wünsche ich mir, ich wäre auch aufs Schlachtfeld gezogen.«

Hilarius musterte Jodokus verächtlich. »Du hast keine Ahnung, wovon du sprichst. Ich habe in der ersten Reihe dem Feind gegenübergestanden. Habe seinen Schweiß und seinen faulen Atem gerochen. Was dir widerfahren ist, ist furchtbar. Aber es ist nicht vergleichbar mit dem, was auf dem Schlachtfeld geschieht. Neben mir sind meine Kameraden durch Kugeln verstümmelt worden, und ihre Gliedmaßen sind mir um die Ohren geflogen. Einem Nachbarn aus Mingerode hat die Kugel einer Büchse den Bauch explodieren lassen, sodass er sich in Gedärmen und Blut gewälzt hat. Glaube mir, Jodokus, in solchen Augenblicken würde jeder mit dir und deinem Schicksal tauschen wollen.«

Jodokus schwieg und nippte an dem Bier, das ihm nicht mehr schmecken wollte. Er schob den Krug mit beiden Händen zur Mitte des Tischs. »Man muss erst in den Schuhen des anderen stecken, um ihn beurteilen zu können«, sagte er und stand auf. Nachdem er seinen Umhang angezogen hatte, legte er zwei Münzen auf den Tisch und ging ohne ein weiteres Wort hinaus ins Schneetreiben.