• Kapitel 24 •
Magdalena kniete neben ihrer Mutter, als Benjamin auf sie zustürzte und sich weinend an sie klammerte. Sie drückte den Bruder an sich und bat ihn: »Geh zurück in die Scheune, Benjamin. Ich werde Mutter ebenfalls ans Feuer bringen.«
Der Junge blickte sie aus angsterfüllten Augen an und gehorchte.
Das Mädchen achtete nicht auf die kämpfenden und schreienden Männer, denn ihre Sorge galt allein der Mutter. Sie umfasste Franziskas Hände und zog sie mit aller Kraft hoch, um sie in die Scheune zu schleppen. Magdalena sammelte die Decken vom Boden auf und legte sie über die Ohnmächtige. Sie nahm ihren eigenen Umhang von den Schultern und bettete den Kopf der Mutter darauf. Dann schnappte sie sich den Kochtopf und rannte nach draußen, um Schnee einzusammeln, wobei sie dieses Mal die kämpfenden Söldner nicht aus den Augen ließ. Zurück im Stall, stellte sie den Topf auf das Feuer, damit der Schnee schmolz. Magdalena kramte aus ihrer Rockschürze die restlichen Fichtenzweige hervor, die sie in das kochende Wasser warf.
Benjamin saß zitternd neben der Mutter und blickte mit großen Augen zu den schreienden Männern hinaus. Magdalena ging zu ihm und wollte ihn trösten, doch ihr fehlten die Worte. Sie nahm ihn in den Arm und strich ihm über den Rücken. »Es wird alles wieder gut«, flüsterte sie. Und wusste, dass sie ihren Bruder anlog. Nichts würde wieder gut werden und nichts so wie früher.
Plötzlich ließ der Lärm nach. Die Geschwister blickten hinaus und sahen, dass die Männer nicht mehr kämpften. Magdalena erhob sich und ging vor das Tor.
Einige Söldner lagen leblos am Boden, ein anderer wankte und blutete aus vielen Wunden. Erik Gustavsson stand vor einem der auf dem Boden liegenden Männer und richtete seine Schwertspitze auf dessen Hals.
»Ich ergebe mich!«, schrie der Unterlegene und streckte beide Hände in die Höhe.
Gustavsson ging einen Schritt zurück und ließ die Waffe sinken. Stöhnend wälzte sich der Söldner zur Seite.
Magdalena suchte unter den Männern vergeblich nach dem blonden Fremden, der Arne hieß. Dann sah sie ihn.
Er kam schweren Schritts über die Obstbaumkoppel und trug einen Mann, der leblos in seinen Armen hing. Magdalena ahnte, wer er war.
»Vater!«, schrie sie, sodass Benjamins Kopf hochruckte und er zu ihr rannte.
Beide Geschwister liefen Arne entgegen, der ihren Vater zum Fuhrwerk trug und dort sanft ablegte. Magdalena konnte vor Tränen kaum sehen. Schemenhaft erkannte sie, wie Arne das Kinn ihres schreienden Bruders mit dem Zeigefinger anhob, damit er zu ihm aufblickte. Sie sah auch, dass er zu Benjamin sprach, doch seine Worte erreichten nicht ihr Ohr. Wie durch eine Nebelwand schwappten nur vereinzelte Wortfetzen zu ihr, die sie zuerst nicht verstand und dann nicht glauben wollte.
»Euer Vater lebt!«, hörte sie Arne sagen.
Benjamin und sie starrten den Mann ungläubig an. Magdalena schloss die Augen und schüttelte sich, bis die Nebelwand vor ihren Augen verschwand. Als sie Arne anblickte, lächelte er und nickte.
»Ja, er lebt«, wiederholte er, »aber es geht ihm nicht gut.«
Benjamin und Magdalena schauten über den Rand des Fuhrwerks und sahen in die Augen ihres Vaters, der zu lächeln versuchte.
»Wie kann das sein?«, fragte Magdalena. »Ich habe gesehen, wie sie ihn aufgehängt haben.«
Arne berichtete mit ruhiger Stimme: »Die Söldner haben ihn an einem morschen Ast aufgehängt, der abbrach. Euer Vater stürzte auf den aufgeweichten Boden. Als ich die Kiste unter dem Busch ausspionierte, habe ich ihn gefunden und von seinem Strick befreit. Das Seil hat sich tief in seine Haut eingeschnitten und eine hässliche Wunde verursacht, aber er kann sprechen. Wenn auch undeutlich und schwach. Ich denke, dass er wieder gesund wird.« Er schaute Magdalena lächelnd an, die verlegen den Blick senkte. »In unserem Lager werde ich ihm eine Heilsalbe auf die Wunde streichen, damit sie sich nicht entzündet«, erklärte er.
»Bist du ein Heiler?«, fragte Magdalena.
»So könnte man das sagen. Ich bin Arzt.«
»Dann komm schnell zu meiner Mutter, denn sie liegt ohnmächtig in der Scheune«, bat Magdalena und wies Benjamin an: »Du bleibst bei Vater.«
»Fichtennadelsud«, erkannte Arne, kaum dass sie die Scheune betraten. Er kniete sich zu Franziska nieder, befühlte ihre Stirn und hob ihre Augenlider, dann legte er sein Ohr auf die Brust und horchte. »Ihre Lunge ist krank«, stellte er fest. »Nimm den Topf vom Feuer und stell ihn so dicht wie möglich in die Nähe ihres Gesichts, damit sie die heilenden Dämpfe einatmen kann.«
Als Gustavsson ans Feuer trat, erklärte Arne dem väterlichen Freund: »Sie ist schwer krank. Im Lager habe ich Medikamente, um ihr Linderung zu verschaffen.«
»Du willst sie mitnehmen?«, fragte Erik erstaunt.
»Wenn wir sie zurücklassen, stirbt sie, und unser Befreiungsakt war vergeblich«, gab Arne zu bedenken.
Gustavsson schaute ihn nachdenklich an und nickte schließlich. Dann sah er das Mädchen an und fragte: »Wie heißt du?«
»Magdalena.«
»Gut, Magdalena. Komm mit mir hinaus und lass uns nach den Verletzten sehen. Arne kümmert sich um deine Mutter.«
Kurt, Gustav, Peter und Matthis lagen tot im Schnee. Kurt und Matthis waren durch Schwerthiebe getötet worden, die wahrscheinlich von Peter stammten. Der Bursche hatte wie irr um sich geschlagen und war dann auf Erik losgegangen, der ihm den Todesstoß versetzte. Gustav dagegen war im Kampf hingefallen und mit dem Hinterkopf auf einen Stein geschlagen. Rasch hatte der Schnee sich rot gefärbt, und Gustav war gestorben. Der dicke Heinrich und Fritz hatten überlebt und sich ergeben. Nun lagen sie stöhnend auf dem schneenassen Boden.
Als Erik sah, dass ihre Verletzungen nicht tödlich waren, sagte er zu Magdalena: »Wir werden deine Mutter zu deinem Vater aufs Fuhrwerk legen, und du spannst eure Pferde davor. Nachdem wir unsere Pferde aus dem Wald geholt haben, machen wir uns auf den Weg in unser Feldlager.«
»Was geschieht mit den Toten und was mit den beiden da?«, fragte Magdalena leise und zeigte zu Heinrich und Fritz.
Gustavsson entschied: »Sie sollen die Toten beerdigen und dann ihres Weges ziehen oder verrecken.«
Magdalena widersprach wütend: »Ich will, dass sie aufgehängt werden, so wie sie es mit meinem Vater gemacht haben.«
Gustavsson winkte ab: »Es ist die Mühe nicht wert.«
Magdalena nickte erschöpft. Sie hatte keine Kraft mehr, dem alten Mann zu widersprechen. Dann ging sie zur Koppel und holte die beiden Hengste.
Gustavsson lenkte das Fuhrwerk, und Benjamin saß bei seinen Eltern auf der Ladefläche. Dem Knaben war anzusehen, dass er müde, hungrig und durchgefroren war.
Magdalena und Arne ritten hinter dem Wagen. Beide führten ein Soldatenpferd am Zügel mit sich. Die vier anderen Rösser waren rechts und links am Fuhrwerk festgebunden.
Arne schaute besorgt auf die beiden Kranken auf der Ladefläche. Die Frau war noch immer ohne Bewusstsein, und der Mann dämmerte im Halbschlaf dahin. Sein Hals war stark gerötet und geschwollen. Die tiefe Schnittwunde, die der dünne Strick verursacht hatte, eiterte und nässte.
Als Magdalena Arnes Blick bemerkte, fragte sie ängstlich: »Kannst du ihnen helfen?«
»Ich weiß es nicht«, gab er ehrlich zu. »Aber ich hoffe. Zum Glück hat es aufgehört zu schneien, und auch die Kälte hat nachgelassen. Aber wir müssen uns beeilen, damit beide ins Trockene und Warme kommen und sie heilende Kräuter erhalten.«
»Vielleicht hilft meiner Mutter ein Aderlass.«
»Nein! Blut ablassen schwächt den Körper«, erklärte Arne mit einem Ton in der Stimme, der keinen Widerspruch duldete.
»Woher weißt du das?«, fragte Magdalena und sah Arne bewundernd an.
»Ich habe einige Zeit in Heidelberg Medizin studiert. Auch mein Vater ist Arzt, und ich hätte gerne noch mehr von ihm gelernt. Doch dann kam der Krieg, und ich habe mich einem Heer verpflichtet.«
Magdalena schluckte, bevor sie die nächste Frage stellte: »Du und Erik, ihr sprecht untereinander eine sonderbare Sprache, die ich noch nie gehört habe. Auch wenn du mit mir redest, klingen die Worte anders. Woher kommt ihr?«
»Aus Schweden.«
Erschrocken riss Magdalena ihre Augen weit auf, denn Erik und der Arzt gehörten zum Feind, von dem ihr Vater ihr erzählt hatte. Hastig senkte sie den Blick, doch Arne hatte den angstvollen Ausdruck in ihrem Gesicht bemerkt.
»Ich denke, wir haben bewiesen, dass du vor uns keine Angst haben musst«, sagte er mit sanfter Stimme.
Magdalena entgegnete zaghaft: »Aber was wird in eurem Lager sein? Werden die anderen Schweden ebenso denken?«, fragte sie.
Arne erklärte ihr, dass sich im Lager nur Kranke, Frauen und Kinder aufhielten. »Du wirst nur wenige Männer antreffen, die zum Schutz der Zurückgebliebenen abkommandiert wurden und kein Bedürfnis haben, euch etwas anzutun. Glaube mir, wir alle sind froh, wenn wir unsere Ruhe haben, denn wir sind des Kämpfens müde.«
»Wie alt bist du?«, rutschte es Magdalena heraus, sodass Arne laut auflachte. Erschrocken über sich selbst fügte sie hastig hinzu: »Ich meine, weil du des Krieges müde bist und weil du schon studiert hast.«
»In deinen Augen bin ich sicher uralt«, frotzelte Arne, sodass Magdalena ihn verlegen ansah.
»Ich zähle fünfundzwanzig Sommer«, verriet er und blickte sie dabei grinsend an.
Da er über ihre Frage nicht böse schien, entspannte sich Magdalena. »Ich möchte mich bei dir und Erik bedanken. Ohne euch wären wir sicher alle tot«, wisperte sie und wagte es kaum aufzublicken.
Arne betrachtete das Mädchen, von dem er nur den Namen kannte. Ihm gefielen ihre honighellen Haare, und er fand, dass Magdalenas blaue Augen besonders hübsch waren. Sie könnte auch eine Schwedin sein, dachte er. Schon als er sie zwischen den Bäumen hatte stehen sehen, war er von ihrer Schönheit angetan gewesen, und es kostete ihn Mühe, sich davon nicht ablenken zu lassen. Ihre leichte Stupsnase, der Blick aus ihren wachen Augen, ihre schmalen Hüften – einfach alles an ihr schien vollkommen zu sein. Selbst ihre Stimme war liebreizend, sodass er ihr mit Vergnügen zuhörte, wenn sie etwas sagte. Wenn sie lächelte, zeigte sich ein kleines Grübchen in ihrer linken Wange, was Arne besonders liebenswert fand.
Magdalena schien seinen musternden Blick zu spüren, denn ihre Wangen röteten sich.
Arne räusperte sich und versuchte sich von ihrer Schönheit loszureißen, indem er fragte: »Wohin wolltet ihr, als euch die Soldateska überfiel?«
Magdalena spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Der blonde Fremde hatte ihr von Anfang an gefallen. Sie mochte seine graublauen Augen, die ernst, aber freundlich schauen konnten. Ihr gefielen seine blonden Haare, die bis auf die Schultern fielen, und sie mochte auch seine dichten Augenbrauen. Er hatte einen muskulösen Körper und war so hochgewachsen wie kein anderer Mann, den Magdalena kannte. Sicher ist er bereits in festen Händen, dachte sie und erschrak bei diesem Gedanken. Erneut glühte ihr Gesicht, sodass sie verlegen an der Innenseite ihrer Wange kaute.
Zum Glück fragte er nun, wohin sie unterwegs waren, sodass sie ihre Gedanken sammeln konnte. Mit wenigen Worten erzählte sie vom Plan ihres Vaters, in sein Heimatdorf zurückzugehen.
Da hörte sie, wie ihre Mutter laut nach Luft keuchte. Sie beugte sich besorgt nach vorne, während Arne seinem Pferd in die Seiten trat, um zu Erik aufzuholen. Er gab ihm ein Zeichen, das Fuhrwerk anzuhalten. Erschrocken zog Gustavsson an den Zügeln.
Kaum standen die Hengste still, sprang Arne von seinem Pferd, kletterte auf das Fuhrwerk und beugte sich über Franziska, deren Körper sich vor Atemnot aufbäumte. Mit schreckensweiten Augen rang sie nach Luft. Arne beruhigte sie mit leisen Worten und rieb ihr mit dem Daumen über die Stelle zwischen den Augenbrauen. Langsam wurde ihr Atem ruhiger. Franziska schloss die Augen und fiel zurück auf die Unterlage.
»Wir müssen uns beeilen«, rief Arne Erik zu, der die Pferde anfeuerte, kaum dass der Freund vom Fuhrwerk sprang.
Es war bereits später Nachmittag, als sie das Lager der Schweden erreichten. Schon von Weitem schrie Gustavsson seinen Landsleuten etwas in ihrer Sprache zu.
»Was hat er gesagt?«, fragte Magdalena mit bangem Blick.
»Er hat ihnen zugerufen, dass wir es sind und sie keine Angst haben müssen«, erklärte Arne und winkte einigen Kindern zu, die angerannt kamen und neben ihnen herliefen.
Kaum hielt das Fuhrwerk inmitten des Zeltplatzes, kamen auch einige Frauen und Männer herbei. Sie grüßten Arne und Erik freundlich und betrachteten die Fremden argwöhnisch.
Erneut sprach Gustavsson zu ihnen und zeigte dabei auf die Ladefläche. Magdalena glaubte Mitgefühl in den Blicken der Schweden zu erkennen, trotzdem wagte sie nicht abzusitzen.
Arne schwang die Füße auf eine Seite des Sattels und sprang von seinem Pferd. Dann ging er zu Magdalena, umfasste ihre Oberarme und hob sie offenbar mit Leichtigkeit herab. Obwohl sie auf ihren Füßen stand, ließ er sie nicht los, sodass sie ihn erschrocken anschaute. Er beugte seinen Kopf, sodass ihre Gesichter dicht beieinander waren und sie einander in die Augen schauen konnten. Als sie spürte, dass ihre Wangen vor Hitze glühten und sich ihr Herzschlag beschleunigte, wand sie sich hastig aus seinen Armen.
Brigitta war gerade damit beschäftigt, ihrer kranken Freundin einen krampflindernden Sud einzuflößen, als sie draußen auf dem Platz die Unruhe hörte. Neugierig erhob sie sich und ging zum Eingang des Zeltes, wo sie mit der Hand den Vorhang leicht zur Seite schob.
Ihr Blick fiel sofort auf Arne, und sie sah, wie er ein blondes, hübsches Mädchen vom Pferd hob und länger als nötig festhielt.
In diesem Augenblick wusste sie, dass der Feind ins Lager gekommen war.