Kapitel 18

Arne war bis tief in den Wald vorgedrungen, doch nun standen die Bäume so dicht zusammen, dass es kein Weiterkommen gab. Leise befahl er seinem Pferd, stehen zu bleiben, und stieg ab. Er schlang die Zügel des Wallachs um einen kräftigen Ast und lockerte den Bauchgurt. Danach löste er die Schlaufe, mit der er einen Beutel am Sattel festgebunden hatte, und klemmte den Stoff unter seinem Hosengürtel fest. Als das Schlachtross verhalten schnaubte, klopfte Arne ihm beruhigend an den Hals. »Sei brav, mein Alter! Ich komme bald zurück«, versprach er.

Mit beiden Händen strich er sich sein schulterlanges blondes Haar zurück und schaute blinzelnd zu den Baumwipfeln empor. Durch das frische Grün der Blätter konnte er den grauen Himmel erkennen. Es riecht nach Schnee, dachte er erstaunt. Mit großen Schritten eilte er durch das Gehölz und ließ seinen Blick dabei suchend über den Waldboden schweifen.

Arne war Soldat, aber auch Arzt im Tross eines schwedischen Heeres. Da etliche Kinder und Frauen über heftige Bauchschmerzen klagten, befürchtete man, dass im Gefolge die Ruhr ausgebrochen war. Aus Angst vor Ansteckung zogen das Heer und der Tross weiter und ließen die Kranken mit einigen wenigen Soldaten als Schutz zurück. Arne hatte der Truppe folgen sollen, doch er weigerte sich und blieb, denn er vermutete, dass nicht die Ruhr der Grund für die Leibespein war, sondern Würmer die Gedärme der Kranken befallen hatten. Deshalb war er nun unterwegs, um frischen Bärlauch zu finden, der nicht nur gegen Entzündungen, Fieber und vieles mehr half, sondern auch Würmer aus den Eingeweiden vertrieb. Arne musste sich mit dem Heilen der Kranken beeilen, denn in wenigen Tagen sollten sie dem Tross folgen, da sie ihn sonst nicht wiederfinden würden.

Der hünenhafte Schwede hielt auf einer Lichtung inne, um nach allen Seiten zu schnuppern. »Weit und breit kein Bärlauch«, murmelte er seufzend und lief suchend weiter. Als er glaubte, den intensiven Geruch der Pflanze riechen zu können, schloss er kurz die Lider und reckte die Nase in die Richtung. Doch sofort riss er die Augen wieder auf, denn ein gellender Schrei zerriss die Ruhe des Waldes. Aufgeschreckt sprang Arne hinter einen umgestürzten Baumstamm in Sicherheit, als ein erneuter Schrei zu hören war. »Jävlar«, fluchte er in seiner Muttersprache, um dann wieder ins Deutsch zu fallen. »Ich habe mein Schwert beim Pferd zurückgelassen.« Er griff hastig nach dem Dolch, den er an seinem Gürtel mit sich führte, und hielt ihn vor sich. Langsam hob er den Kopf und horchte über den Stamm in den Wald hinein. Nichts war zu sehen oder zu hören. Er wartete einige Herzschläge lang, und als es ruhig blieb, kam er aus der Deckung hervor. Aufmerksam blickte er sich um, als er glaubte, lautes Lachen und verhaltenes Wimmern zu hören.

Arne wusste, dass es ratsam wäre, zurück zu seinem Pferd zu gehen, doch die Neugierde trieb ihn weiter in den Wald. Seine Sinne waren wachsam. Er pirschte in die Richtung, aus der er die Laute vernommen hatte, und glaubte bei jedem Schritt, dass das Gehölz unter seinen Stiefeln lauter knackte als sonst. Während er die Waffe schützend vor sich hielt, durchsuchte sein wacher Blick die Umgebung. Immer wieder hielt er inne und lauschte. Aber es war nichts mehr zu hören. Der Wald schien wie ausgestorben. Arne schlich einige Schritte weiter, als in seiner Nähe plötzlich wieder Lachen erscholl und gleichzeitig jemand fürchterlich kreischte.

Sein Atem beschleunigte sich, denn er mutmaßte, dass ein Mensch in Todesangst war. Warum habe ich mein Schwert zurückgelassen?, fluchte er in Gedanken, doch er war von seinem Pferd zu weit entfernt, um umzukehren. Vorsichtig pirschte er sich von Stamm zu Stamm, bis er am Rand einer abgeholzten Lichtung stand, auf deren Mitte sich ein kegelförmiger Wall befand. Arne wusste, dass dies ein Meiler war, in dem Holzkohle gebrannt wurde. Er wusste auch, dass nahe dieser mannshohen Aufschüttung eine Köhlerfamilie leben musste. Suchend schaute er sich um und erblickte zwischen Tannen eine armselige Hütte, und vor ihr mehrere zweifelhafte Gestalten.

Arne drückte sich keuchend gegen einen moosbewachsenen Stamm und hoffte, dass man ihn nicht entdeckte. Mit einem Auge lugte er am Baum vorbei und zählte drei Männer, die wie Söldner gekleidet waren und Waffen trugen. Nun konnte er jedes Wort verstehen, das die Söldner sprachen.

»Sei nicht stur und lass uns an deine Alte. Mich juckt es zwischen den Beinen«, hörte er einen der Söldner höhnen, der schwankend vor der Tür der Köhlerhütte stand.

Ein anderer lag lachend auf dem Boden und trank aus einer Tonflasche. »Du kannst uns aber auch deinen Arsch hinhalten, Köhler«, lallte er zwischen zwei Schlucken. Dann reichte er die Flasche an einen milchgesichtigen Burschen weiter, der einen tiefen Zug nahm und hustend nach Luft rang. Der Mann lachte schadenfroh auf und sagte: »Gib mir die Flasche zurück!« Dann drehte er sich in Richtung Hütte. »Schick dein kleines Mädchen zu uns raus. Der Junge hat noch nie seinen Schwanz in eine Spalte gesteckt. Also mach jetzt die verdammte Tür auf, sonst treten wir sie ein!« Er versuchte sich aufzurappeln, was ihm misslang, und er ließ sich zurück auf die Erde fallen. »Vermaledeit! Der Selbstgebrannte des Alten hat es in sich. Mir wird schlecht«, stöhnte er und rollte sich auf die Seite. Im selben Augenblick erbrach er sich.

»Du kommst in die Jahre, Heinrich, und verträgst nichts mehr«, feixte der Mann vor der Tür, der der Rädelsführer zu sein schien. Schwankend trat er mit dem Fuß dagegen. »Welches Teufelszeug hast du uns gegeben, Köhler? Mach endlich die Tür auf! Das ist meine letzte Warnung!«, schrie er und winkte den Jungen zu sich.

Währenddessen kam ein vierter Mann aus den Büschen hervor und versuchte wankend seinen Hosenlatz zu schließen. »Wenn sie nicht freiwillig herauskommen, werden wir sie ausräuchern. Sammelt Holz!«, befahl er und nahm dem Mann am Boden die Flasche weg. »Sauf nicht alles allein.«

Aus der Hütte hörte man den Köhler angstvoll brüllen: »Lasst uns in Ruhe! Wir haben weder Geld noch Wertsachen.«

»Ja, ja, das sagtest du bereits. Deswegen wollen wir deine Frau und deine Tochter«, brüllte der Anführer, als zwei weitere Soldaten aus dem Dickicht kamen, die grimmig dreinblickten. Einer ging zu dem Anführer, während der andere den Mann am Boden mit dem Stiefel in die Seite stieß.

»Ihr versoffenen Arschlöcher! Wir warten seit geraumer Zeit, dass ihr kommt. Wir wollen weiter und haben für eure Spiele keine Zeit. Wenn ihr uns nicht sofort folgt, werden wir ohne euch weiterziehen.«

»Halt’s Maul, Fritz! Ich will erst seiner Alten zwischen die Schenkel fahren! Weil sie nicht freiwillig rauskommen, werden wir sie wie die Ratten aus ihrem Bau jagen«, lallte er mit glasigen Augen und drehte sich schwankend um. »Habt ihr genügend Holz aufgeschichtet?«, brüllte er.

Der Bursche nickte.

»Geh zur Rückseite und pass auf, dass sie nicht aus dem Fenster springen. Sobald sie sich blicken lassen, stichst du sie nieder!« Dann hob er neben der Hütte eine Fackel vom Boden auf und entzündete sie. Kaum hatte er sie auf das aufgetürmte Holz geworfen, fing es Feuer. Flammen und Qualm stiegen auf und drangen durch die Ritzen der Bretter in die Hütte.

Arne hörte in der Hütte Kinder weinen und Menschen husten und um Hilfe schreien. Ratlos stand er da und wusste nicht, wie er ihnen helfen konnte. Er war ein guter Kämpfer und hätte mit Leichtigkeit mehrere der Männer umhauen können, zumal sie stark betrunken waren. Doch ohne Schwert war er machtlos. Es sind zu viele, um mit einem Dolch etwas ausrichten zu können, dachte er und verfluchte sich gleichzeitig. Verzweifelt schickte er ein Stoßgebet in Richtung Himmel, als die Tür der Kate aufsprang und der Köhler mit seiner Familie ins Freie drängte. Doch sie wurden von den Söldnern in die brennende Hütte zurückgestoßen.

Wenig später war die Köhlerhütte niedergebrannt, und die Söldner waren abgezogen.

Arne hämmerte mit der Faust gegen den Baumstamm. »Diese Bestien«, presste er zwischen den Zähnen hervor und sah mit Tränen in den Augen auf die qualmenden Reste der Köhlerhütte. Er traute sich nicht hinzugehen, denn er wollte die verkohlten Leichen nicht sehen. Doch dann wischte er sich über das Gesicht. »Sie müssen beerdigt werden«, entschied er.

Es war früher Abend, als Arne ins Lager zurückkam, wo er bereits erwartet wurde. Brigitta hatte bei den Pferden auf ihn gewartet und stürmte sogleich auf ihn zu, um ihn auf den Mund zu küssen, doch Arne drehte den Kopf zur Seite, sodass sie seine Wange traf. Sie tat, als ob sein Widerstand sie nicht störte, und lächelte ihn an.

»Wo bist du so lange gewesen? Ich habe mir Sorgen gemacht«, flüsterte sie und strich ihm über das Haar. »Du stinkst nach Rauch«, stellte sie fest und sah ihn fragend an.

Arne schwieg und wich ihrem Blick aus.

»Was ist geschehen?«, fragte sie neugierig.

Ohne zu antworten wand Arne sich aus ihrem Griff. »Ich muss mit Erik sprechen«, sagte er und ließ sie stehen, um mit großen Schritten zu den Zelten zu eilen, die am Rand des Waldes standen.

Brigitta schaute Arne begehrlich hinterher. Wie lange wirst du dich mir noch verweigern?, dachte sie. Seit sie dem Mann das erste Mal begegnet war, wollte sie, dass er ihr gehörte. Aber es schien unmöglich, ihm näherzukommen, denn er schaffte es immer, Abstand zu halten.

Bin ich so unansehnlich?, dachte Brigitta und blickte an sich hinab. Ihre Brüste waren prall und stramm, da sie noch kein Kind genährt hatten. Auch war ihr Bauch flach, die Hüften rund und ihre Zähne ebenmäßig und vollständig. Sie wusste, dass sie jeden hätte haben können. Aber sie wollte Arne. Warum gelang es ihr nicht, den Mann auf ihr Lager zu ziehen?

»Du bist eine Marketenderin«, flüsterte eine Stimme ihr ans Ohr.

Aus ihren Gedanken aufgescheucht, drehte sich Brigitta um und erblickte ihre Freundin Ingeborg. »Wie meinst du das?«, fragte sie und kräuselte die Stirn.

»Du steigst mit jedem ins Bett, der dich bezahlt. Glaubst du, dass ein Mann wie unser Arne sich in dich verlieben würde?«

Brigitta zupfte an ihren dunklen Haaren und machte einen Schmollmund. »Er soll mich nicht lieben, sondern nur das Bett mit mir teilen.«

Ihre Freundin zog zweifelnd eine Augenbraue in die Höhe, und Brigitta wusste, dass sie ihr nicht glaubte.

Arne fand Erik Gustavsson vor seinem Zelt am Feuer sitzend. Er war umringt von Kindern, die seinen Geschichten über Trolle lauschten, welche angeblich in Schweden lebten. Die meisten Kinder kannten ihre Heimat nur aus Erzählungen, da sie während des langen Kriegs im Reich geboren waren. Gustavsson verstand es, die Kobolde und das Land in bunten Bildern aufleben zu lassen, und die Kinder dankten es ihm mit leuchtenden Augen.

Arne wartete geduldig, bis sein väterlicher Freund zu Ende erzählt hatte und die Kinder in ihre Zelte scheuchte. Lächelnd blickte er ihnen hinterher und setzte sich zu Gustavsson ans Feuer.

»Da du seit dem Vormittag fort gewesen bist, musst du eine große Menge Bärlauch gesammelt haben«, meinte der Alte und zündete sich eine langstielige Pfeife an der Glut an.

Arne schüttelte den Kopf. »Ich muss morgen erneut los und das Kraut suchen.« Er musterte den Freund, dessen dunkles langes Haar im Laufe der Zeit grau geworden war. Arnes Vater hatte Erik Gustavsson schon aus seiner Jugend gekannt. Er muss uralt sein, und doch kann er es mit zwei Angreifern gleichzeitig aufnehmen. Wäre er doch heute an meiner Seite gewesen, dachte Arne und streckte seine Füße zum Feuer aus.

Gustavsson hatte den prüfenden Blick gespürt und schaute den jungen Freund nachdenklich an. »Was ist geschehen?«

Zögerlich erzählte Arne, was er erlebt hatte. Gustavsson hörte zu und sog an seiner Pfeife. Hin und wieder nickte er.

»Diese Ungeheuer gehörten zu keinem Heer. Das war Soldateska«, schloss Arne seinen Bericht.

»Wohin sind sie gezogen?«, fragte Gustavsson mit sorgenvollem Blick. Arne zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht, aber ich hoffe für sie, dass sie um uns einen großen Bogen machen, da ich sonst jeden Einzelnen aufspießen werde.«

»Es ist Krieg. Da passieren die schauerlichsten Dinge.«

»Ich weiß«, stöhnte Arne und verdeckte sein Gesicht mit den Händen. »Aber es ist etwas anderes, ob man sich auf dem Schlachtfeld gegenübersteht oder ob man eine Familie aus einer Laune heraus verbrennt.«

Gustavsson blickte Arne durch den Dunst des Tabakqualms nachdenklich an und sagte: »Verliere nie deine Menschlichkeit, mein Junge!«

Arne nickte.

»Was macht deine Verehrerin?«, versuchte Gustavsson den jungen Freund von seinen trüben Gedanken abzulenken.

Arne rollte mit den Augen.

»Na, na«, lachte Gustavsson verhalten. »So schlimm sieht sie nicht aus. Manch einer wäre überglücklich, wenn er Brigitta unentgeltlich für eine Nacht haben könnte. Da sie jedoch die teuerste Hure im Tross ist, kann nicht jeder sie sich leisten.«

»Du sagst es, Gustavsson. Sie ist eine Hure.«

»Sei ehrlich, junger Freund. Auch du wirst schon die Dienste einer Marketenderin in Anspruch genommen haben.«

Nickend stimmte Arne zu und grinste verhalten. »Wer nicht? Aber bei Brigitta ist es etwas anderes. Ich glaube, sie hegt Gefühle für mich.«

»Wäre das so furchtbar?«, fragte der Freund und sog kräftig an der Pfeife, sodass der Qualm sie einnebelte.

»Ich denke, es gibt Schlimmeres«, antwortete Arne schief lächelnd und fügte hinzu: »Ich will nicht mit einer Marketenderin zusammen sein, die das halbe Heer nackt gesehen hat. Außerdem liebe ich sie nicht. Ich warte, bis der Krieg vorbei ist, und suche mir dann ein Mädchen.«

»Du bist eingebildet, Arne. Brigitta könnte jeden im Tross haben. Ob alt oder jung! Und Liebe? Was bedeutet schon Liebe?«

Arne blickte Gustavsson nachdenklich an und erwiderte: »Liebe ist das einzig Wahre, was bleibt in Zeiten wie diesen.«

»Du bist unverbesserlich!«, rügte der Alte ihn freundlich und stand auf, um in sein Zelt zu gehen. »Komm, mein Junge, lass uns schlafen. Ich werde dich morgen begleiten und will ausgeruht sein, wenn wir zum Bärlauchsuchen losziehen.«

Arne nickte und ging in sein Zelt.