Kapitel 16

Am nächsten Morgen hatte sich der Sturm verzogen und der Regen aufgehört. Trotzdem war der Himmel mit dichten Wolken verhangen, und die Sonne ließ sich nicht blicken. Kälte lag in der Luft.

»Wir müssen weiter«, sagte der fremde Mann, kaum dass es hell wurde. Er weckte die beiden Mädchen, die ihn verschlafen anblinzelten. Nachdem er sie dazu aufgefordert hatte, packten sie quengelnd ihre wenige Habe zusammen.

Franziska schnitt Brot und Käse ab. »Mit vollem Bauch geht es sich besser«, sagte sie und reichte jedem Mädchen zusätzlich einen Apfel.

Mit dankbarem Blick wandte sich der Mann dem Ehepaar zu und sagte: »Es ist sehr edelmütig von euch, dass ihr euer Essen mit uns teilt. Gott segne euch dafür.« Dann fasste er jede seiner Töchter an einer Hand und marschierte hinaus.

Johann blickte ihnen nach und ging dann hinter die Holzfällerhütte, wo er die Pferde angebunden hatte. Die Hengste schienen den Sturm gut überstanden zu haben. Während er die Hafersäcke abnahm, die er ihnen am Abend zuvor ums Maul gehängt hatte, redete er leise auf sie ein. Danach spannte er sie vor das Fuhrwerk und führte sie vor die Hütte.

»Wo bleibt ihr?«, rief Johann und blickte zum Eingang, aus dem seine Tochter allein herauskam.

»Benjamin ist krank, und auch Mutter geht es nicht gut«, erklärte sie.

Johann eilte in die Hütte und sah seinen Sohn auf der Decke liegen. Sofort kniete er sich zu ihm nieder und befühlte Wangen und Stirn, die zu glühen schienen. Besorgt blickte er Franziska an, deren Augen ebenfalls fiebrig glänzten.

»Ihr werdet euch gestern im Regen erkältet haben«, meinte Johann, und seine Frau nickte. Schlapp setzte sie sich zu ihrem Sohn auf die Decke und zog den Umhang enger zusammen.

Magdalena befühlte den Stoff. »Er ist immer noch klamm, Mutter. Nimm meinen, denn er ist getrocknet«, sagte das Mädchen und wollte den Wollstoff ausziehen, doch Franziska hinderte sie daran.

»Behalte ihn an, sonst wirst auch du krank«, sagte die Mutter.

Magdalena nickte. Doch als ein Hustenanfall Franziska quälte, zog sie ihr den Umhang von den Schultern. »Du holst dir mit dem nassen Zeug den Tod«, befand das Mädchen sanft und legte der Mutter eine wärmende Decke um den Leib.

Johann blickte sich in der Holzfällerhütte um. »Hier können wir nicht bleiben. Es zieht durch alle Ritzen. Außerdem benötigt ihr Heilkräuter, damit ihr wieder auf die Beine kommt. Wir müssen in die nächste Ortschaft fahren. Vielleicht können wir dort ein Zimmer mieten.«

Als er Franziskas besorgten Blick auffing, versuchte er sie zu beruhigen: »Mach dir keine Gedanken. Wir haben genügend Geld, um uns das leisten zu können. Auch treibt uns keine Eile. Ich werde auf der Ladefläche Platz schaffen, damit ihr euch dort niederlegen könnt«, sagte er und lief hinaus.

Mit großer Mühe schob Johann die Gegenstände auf dem Karren zusammen und stapelte sie übereinander, sodass eine schmale Liegefläche entstand. Darauf legte er eine Matratze und breitete eine Decke aus. Hustend und zitternd legten sich Benjamin und Franziska nieder. Magdalena nahm eine zusätzliche Wolldecke und breitete sie über die Kranken aus. »Versucht zu schlafen«, riet sie und setzte sich auf den Bock neben ihrem Vater, der die Pferde antraben ließ.

Als sie den Wald hinter sich gelassen hatten, führte der Weg sie auf freies Feld. Johann blickte sich unsicher um. »Sind wir gestern hier entlanggekommen?«, fragte er seine Tochter zweifelnd.

Magdalena zuckte mit den Schultern. »Es war dunkel, und der Regen ist mir ins Gesicht gepeitscht, sodass ich kaum etwas erkennen konnte.«

Ihr Vater nickte. »Mir ging es ähnlich. Wenn am Wegesrand wenigstens ein Wegweiser wäre, nach dem man sich richten könnte.«

»Da du nirgends abzweigen kannst, musst du dem Weg folgen. Hoffentlich werden wir bald auf eine Ortschaft stoßen«, murmelte Magdalena und schaute besorgt zu den beiden Schlafenden.

Johann schnalzte mit der Zunge, und die Hengste liefen schneller.

Magdalena kam es vor, als ob sie schon seit Stunden Ausschau nach Rauchsäulen am Himmel hielt. Der dünne Qualm würde verraten, dass in den Häusern Menschen lebten und Kamine brannten. Doch da der Himmel grau verhangen war, konnte sie kaum etwas erkennen.

Ihre Augen brannten, und sie lehnte sich verzagt zurück. »Es scheint kälter zu werden«, sagte sie und zog ihren Umhang enger um sich.

Ihr Vater hielt die Nase in die Höhe und meinte: »Wenn mich nicht alles täuscht, liegt Schnee in der Luft.«

»Gott bewahre!«, murmelte Magdalena und presste sich fester in den Sitz. Vater und Tochter schwiegen eine Weile, bis das Mädchen die Stille durchbrach.

»Vater«, sagte sie, und Johann schaute auf. »Darf ich dir eine Frage stellen?«

Ihr Vater kräuselte die Stirn und nickte.

»Warum seid ihr, Mutter und du, damals aus dem Eichsfeld fortgegangen?«

Als seine Tochter die Frage ausgesprochen hatte, schlug Johanns Herz schneller. Er hatte schon seit einiger Zeit befürchtet, dass er dem Mädchen eines Tages die Geschichte würde erzählen müssen. Doch jetzt war nicht der rechte Augenblick, und er versuchte es schroff abzuweisen. »Das geht dich nichts an!«, erwiderte er brüsk.

Erstaunt sah Magdalena ihren Vater an, denn mit dieser Abfuhr hatte sie nicht gerechnet. Als sie in sein mürrisches Gesicht blickte, ärgerte sie sich, dass sie ihrer Neugierde nachgegeben hatte. Magdalena schluckte mehrmals, doch dann reckte sie das Kinn. Da es ausgesprochen war, wollte sie nicht nachgeben und erwiderte: »Ich denke schon, dass es mich etwas angeht. Schließlich zerrst du uns trotz Krieg durchs halbe Reich aufs Eichsfeld.« Dabei zog sie das Wort Krieg übertrieben in die Länge, sodass ihr Vater aufgeschreckt nach hinten zu seiner Frau schaute.

»Sie schlafen! Außerdem können sie uns nicht verstehen«, erklärte Magdalena.

»Woher willst du das wissen?«, zischte ihr Vater.

»Als Kind habe ich bei der Heuernte manchmal auf der Ladefläche gesessen, und du und Oheim Clemens vorn. Ihr beide habt lauthals gelacht, und ich wusste nicht, warum, weil ich hinten eure Gespräche nicht verstanden habe. Du kannst mir also alles erzählen!«

»Du bist so aufsässig wie deine Mutter«, schimpfte Johann und hoffte, seine Tochter mit der Schelte zum Schweigen zu bringen.

Aber erneut widersprach sie ihm: »Mir gefällt besser, dass ich so stur bin wie du«, wiederholte sie Marias Worte.

»Du hast uns belauscht!«, brummte Johann.

»Ihr habt vor meinem Lager gestanden und euch über mich unterhalten. Da musste ich zwangsläufig mithören.«

»Wir dachten, du würdest schlafen«, verteidigte sich ihr Vater.

»Nein, ich hielt nur die Augen geschlossen«, gab das Mädchen ehrlich zu. Johann blickte sie wütend an und wollte etwas sagen, doch dann schloss er den Mund, und sein Blick wurde sanft.

»Ich bin die Tochter meines Vaters!«, sagte Magdalena und lächelte zaghaft, sodass Johann laut seufzte. »Erzählst du mir nun, was damals vorgefallen ist?«

Johann grübelte, dann gab er nach. Erneut blickte er zu seiner Frau, die ruhig dalag und zu schlafen schien, ebenso wie sein Sohn. »Also gut, mein Kind. Du gibst sonst keine Ruhe.« Er holte tief Luft und begann zu erzählen: »Ich war damals kaum älter als du, als ich deine Mutter kennen und lieben lernte …«

Magdalena hing an seinen Lippen und hörte zum ersten Mal, dass man ihre Mutter als junges Mädchen der Hexerei bezichtigt hatte und dass sie angeklagt werden sollte. »Mein Vater hatte für mich bereits die Tochter eines reichen Schweinezüchters als Eheweib ausgesucht. Als ich ihm mitteilte, dass ich deine Mutter heiraten wollte, unterstellte er ihr plötzlich, dass sie Schadenszauber verübt hätte. Er konnte ihr das nicht nachweisen und erklärte schließlich, dass ein Hexenmal auf ihrem Rücken sie verraten würde.«

Als das Mädchen erfuhr, dass man ihre Mutter gefangen nehmen und auf den Scheiterhaufen hatte bringen wollen, riss sie erschrocken die Augen auf.

»Wir hatten uns kaum das Jawort auf Burg Bodenstein gegeben, als eine Meute Männer aus dem Tal zur Festung hinaufstürmte. Mit einer List halfen deine Großmutter und die Burgherren uns zu fliehen. Wochenlang sind wir umhergeirrt und wussten nicht, wohin. Unterwegs lernten wir Clemens und noch einige andere kennen, die ein ähnliches Schicksal hatten. Wir rotteten uns zusammen und kamen gemeinsam ins Land an der Saar, das unsere neue Heimat werden sollte.«

Magdalena war bestürzt und fassungslos. »Was wird dein Vater sagen, wenn wir auf seinen Hof zurückkehren? Wird er Mutter in Ruhe lassen?«, fragte sie ängstlich.

Johann sah seine Tochter an und schwieg, statt ihr eine Antwort zu geben.

»Was ist, Vater?«, fragte Magdalena leise.

»Dein Großvater liegt seit vielen Jahren in Wellingen beerdigt.«

Magdalena glaubte sich verhört zu haben, doch ihr Vater wiederholte seine Worte.

»Ich bin vollkommen durcheinander«, flüsterte das Mädchen. »Hilf mir, das zu verstehen«, bat sie den Vater.

Und er erzählte auch diesen Teil der Geschichte.

»Mein eigener Großvater hat versucht, Mutter und mich zu ertränken?«, fragte Magdalena bestürzt.

Johann wollte seine Tochter nicht noch mehr verunsichern und verschwieg ihr, dass Bonner nicht sein leiblicher Vater und somit auch nicht ihr Großvater war. »Sein Geist war verwirrt«, versuchte er das Thema zu beenden und blickte auf den Weg.

Meine Mutter soll eine Hexe sein?, grübelte Magdalena entsetzt. Unsicher schielte sie zur Ladefläche. War das der Grund für das Elend, das ihre Familie quälte? Wollte Gott sie strafen, weil die Mutter vom Glauben abgefallen war? Vater hätte Mutter sicher davongejagt, wenn sie tatsächlich eine Hexe wäre, dachte Magdalena, um sich zu beruhigen, und kaute auf der Innenseite ihrer Wange.

Johann ahnte die Gedanken seiner Tochter und machte sich Sorgen, ob die Wahrheit ihr geschadet hatte. Er griff nach Magdalenas Hand und drückte sie sanft. »Mein Vater war ein böser Mensch. Er hat mich als Kind oft mit der Hundepeitsche verprügelt, und dafür brauchte er keinen Grund. Auch meine Mutter litt unter seinen Gewaltausbrüchen. Du weißt, Magdalena, dass deine Mutter liebevoll, hilfsbereit und ein wunderbarer Mensch ist, der euch liebt. Was uns vor einigen Jahren zugestoßen ist, hat nichts mit den Verleumdungen meines Vaters zu tun.«

Magdalenas Augen waren angstvoll geweitet und ihr Gesicht kreidebleich. Johann überkamen Zweifel, ob es richtig gewesen war, seiner Tochter die Wahrheit zu gestehen, als sie mit schwacher Stimme fragte: »Warum hat man Mutter nicht der peinlichen Befragung unterzogen? Dann wäre man sicher gewesen.«

Johann glaubte sich verhört zu haben. Sein Gesicht verfinsterte sich, als er erregt ausrief: »Bist du von Sinnen? Warum sollte man deine Mutter der Tortur unterziehen? Sie ist keine Hexe. Sie wurde zu Unrecht beschuldigt.«

»Es hätte Mutters Unschuld bewiesen«, erklärte das Mädchen trotzig.

Johann atmete mehrmals ein und aus, um sich zu beruhigen. Dann erklärte er: »Ein weiser Jesuitenpater namens Friedrich Spee hat erforscht, dass Menschen unter der Folter alles zugeben, damit sie keine weiteren Schmerzen mehr erleiden müssen. Weißt du, was die peinliche Befragung bedeutet?«

Magdalena schaute ihn verwirrt an und schüttelte den Kopf. Dann wisperte sie: »Es heißt, dass man nur unter der peinlichen Befragung erkennen kann, ob eine Frau eine Hexe ist.«

Kaum hatte sie zu Ende gesprochen, riss Johann an den Zügeln, sodass die Pferde wiehernd stehen blieben. Ohne ein Wort zu sagen, fasste er seine Tochter am Arm und drückte ihre Hand so fest, dass sie vor Schmerzen aufschrie.

»Bist du eine Hexe?«, fragte er, und als sie nichts sagte, drückte er eine Spur stärker zu. Tränen schossen dem Mädchen in die Augen, und sie wimmerte vor Schmerzen. »Bist du eine Hexe?«, brüllte er erneut.

Da schrie hinter ihm seine Frau entsetzt auf: »Was machst du mit ihr?«

Hustend ergriff Franziska Johanns Arm und zerrte daran. Er ließ seine Tochter los, die laut aufheulte und sich die gequetschte Hand hielt.

»So und noch viel schlimmer ist das, was man den Frauen antut«, presste Johann hervor und sprang vom Kutschbock.

Franziska versuchte ihre aufgebrachte Tochter zu beruhigen, doch die stieß sie von sich und schrie: »Fass mich nicht an!«

Erschüttert schaute Franziska von Magdalena zu ihrem Mann, der einige Schritte entfernt den Oberkörper nach vorn beugte.

»Was ist hier los?«, fragte sie ihre Tochter, die ihr nicht antwortete und stur vor sich hin starrte, während Tränen über ihre Wangen rollten.

Franziska sah zu Benjamin, der ungestört weiterschlief. Zitternd krabbelte sie von der Ladefläche und schleppte sich zu ihrem Mann. Sie packte ihn am Arm und keuchte: »Was hast du getan?«

Mit leerem Blick sah Johann seine Frau an und flüsterte: »Ich habe ihr die Wahrheit gesagt.«