• Kapitel 8 •
Das Weihnachtsfest stand kurz bevor, und wie jedes Jahr konnten Georg und Benjamin den Tag kaum erwarten. Die Kinder saßen am Küchentisch und erzählten sich gegenseitig ihre Wünsche, wobei sie lachten und scherzten. Ihre Augen glänzten.
»Ihr glaubt, je lauter ihr eure Bitten hinausschreit, desto eher hört euch der Heilige Christ«, rügte Franziska die Burschen und blickte sie streng an.
Sogleich erlosch Benjamins Lachen, und er schaute auf die Tischplatte. Georg, der sich nichts aus Franziskas Unmut machte, blitzte sie mit seinen Augen schelmisch an. »Bis zum 25. Dezember ist es nicht mehr lang, und ich will gewiss sein, dass ich meine Geschenke bekomme. Und weil alle Kinder ihre Wünsche erfüllt haben wollen, kann es leicht geschehen, dass man vergessen wird. Deshalb muss man die Wünsche laut hinausschreien«, sagte er, breitete die Arme aus und rief in Richtung Küchendecke: »Ich wünsche mir ein Ritterschwert und Honigfrüchte!«
Benjamin zuckte zusammen und starrte weiter auf den Tisch. Magdalena, die das Frühstücksgeschirr abwusch, hielt in der Bewegung inne und schaute mit erschrockenem Blick zu ihrer Mutter, die Clemens’ Sohn Georg ungläubig anstarrte.
»Du bist ein unverschämtes Balg!«, beschimpfte sie den Jungen. »Weißt du nicht, dass Krieg herrscht und viele Menschen Hunger leiden? Andere haben nicht einmal ein Dach über dem Kopf, geschweige denn ein Bett, in das sie sich legen können. Du aber schreist nach Spielzeug und Süßigkeiten?«, tadelte sie den Burschen, während sie mit dem Kochlöffel so fest auf den Tisch schlug, dass er zerbrach.
In diesem Augenblick betrat Christel die Küche und blieb erschrocken in der Tür stehen. Fassungslos schaute sie Franziska an, deren Gesicht voller Zornesfalten war.
»Was ist hier los?«, wandte sich Christel an ihren Sohn und blickte zwischen den Kindern hin und her. Magdalena und Benjamin wagten nichts zu sagen, und auch Georg schwieg eingeschüchtert.
Franziska hob den abgebrochenen Teil des Kochlöffels auf und erklärte gereizt: »Ich habe deinem Sohn verständlich gemacht, dass er ein unverschämtes Bürschchen ist.«
»Warum?«, fragte Christel, die Mühe hatte, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben. Sie ging zum Küchentisch und stellte sich neben Georg, der sie scheu ansah. Liebevoll strich Christel ihm durchs Haar und drückte ihm einen Kuss auf den Scheitel, woraufhin sich Franziskas Augen verengten und sie keifte:
»Kein Wunder, dass er unersättlich ist, denn du unterstützt sein Verhalten.«
Christel hielt sich den Bauch, da das ungeborene Kind sich heftig bewegte. »Sage du mir nicht, wie ich meinen Sohn zu erziehen habe. Was hat er verbrochen, dass du dich so gebärdest?«, fragte sie und schaute mitfühlend Magdalena und Benjamin an, die verschüchtert dastanden. »Hast du vergessen, was Mutterliebe ist?«, fragte sie leise.
»Was weißt du von meinen Gefühlen?«, zischte Franziska und blickte auf Christels gewölbten Leib. »Niemand weiß, wie ich leide und was ich täglich ertragen muss. Die Leute im Dorf tratschen hinter vorgehaltener Hand über mich, und manch einer verdammt mich«, sagte sie bitter und starrte vor sich hin. Dabei hob sie die Hand und berührte oberhalb ihrer Brüste den Stoff des Kittels.
Christels Blick folgte der Bewegung. Sie ahnte, wonach Franziska tastete.
Es war schon einige Jahre her, dass die beiden Frauen während der Arbeit im Gemüsegarten von einem heftigen Regenschauer überrascht worden waren. Es war ein windiger Oktobertag gewesen, und Franziska und Christel froren in ihrer durchnässten Kleidung, sodass sie nach Hause liefen und sich in der Küche umzogen. Dabei konnte Christel einen Schlüssel erkennen, der an einem hellen Band um Franziskas Hals hing. Sie wusste nicht, zu welchem Schloss er passte, und wagte nicht zu fragen. Weder damals noch heute.
Christel wandte den Blick Magdalena zu, die bewegungslos am Herd stand und ihre Mutter bekümmert ansah. Sie gab dem Mädchen vorsichtig ein Zeichen. Magdalena verstand und schlich mit Georg und ihrem Bruder aus dem Raum. Die beiden Jungen schienen erleichtert, die Küche verlassen zu können. Draußen hörte Christel ihren Sohn sagen: »Deine Mutter spinnt!«
»Setz dich«, bat Christel Franziska freundlich und nahm selbst Platz.
Franziska schien aus ihren Gedanken aufzutauchen und schaute sich verwundert um. »Wo sind die Kinder?«, fragte sie und setzte sich.
»Ich habe sie hinausgeschickt«, erklärte Christel leise und ergriff die Hand der Freundin. »Sage mir, wie ich dir helfen kann.«
Mit von Tränen verschleiertem Blick flüsterte Franziska: »Mir kann niemand helfen, Christel. Ich habe das Gefühl, dass ein Fluch auf mir liegt, den mir kein Mensch nehmen kann.«
»Das redest du dir ein, Franziska. Dich trifft keine Schuld«, versuchte Christel sanft zu erklären.
»Nein, das ist nicht wahr. Ich habe Schuld auf mich geladen. Johanns Vater tat damals recht, mich der Hexerei anzuklagen. Ich bin ein schlechter Mensch und habe Unglück über meinen Mann und meine Familie gebracht.«
Franziskas Verzweiflung trieb Christel die Tränen in die Augen. »Wenn ich dir nur helfen könnte«, flüsterte sie und wischte sich über das Gesicht.
»Niemand kann mir helfen«, wisperte Franziska. »Ich bin innerlich gestorben und wünschte, ich würde neben Regina liegen«, stieß sie hervor.
»Du hast zwei gesunde Kinder! Zählt das nicht?«, fragte Christel.
Franziska zuckte mit den Schultern. »Ihr Vater soll sich um sie kümmern. Ich habe keine Kraft«, erklärte sie mit kaltem Blick und starrte zur Tür.
Christel wandte sich um und sah, dass Johann dort stand. Sein Gesicht war leichenblass, und seine Augen blickten Franziska ungläubig an.
»Das ist nicht dein Ernst, Franziska. Wir sind eine Familie«, sagte er und wollte auf sie zugehen, doch seine Frau stand auf und lief an ihm vorbei in den Flur.
Dort griff sie nach dem Umhang, der über dem Treppengeländer lag, und öffnete die Haustür. Sie stand schwer atmend auf der Türschwelle. Ich muss zur Kräuterfrau, dachte sie, als plötzlich zwei Ratten vor ihr aufschreckten und fiepten. Aus Angst vor dem Ungeziefer lief sie schreiend davon.
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Die Vorweihnachtsstimmung auf dem Rehmringer-Gestüt war nicht nur wegen Reginas Tod gedrückt. Christel und Clemens mussten machtlos zusehen, wie Franziska und Johann sich jeden Tag mehr entfremdeten. Besonders die Kinder litten darunter, sodass seit Tagen kaum jemand lachte.
Es waren nur noch wenige Tage bis zum Weihnachtsfest, als Clemens beim gemeinsamen Essen Georg, Benjamin und Magdalena zuzwinkerte und sagte: »Es wird Zeit, dass wir in den Wald gehen und eine Tanne für das Fest schlagen. Sollen wir morgen gemeinsam losziehen?« Clemens richtete diese Frage nicht nur an die Kinder, sondern auch an Johann, der gerne zustimmte. Die beiden Buben waren begeistert, und auch Magdalenas Augen glänzten.
»Gleich nach dem Frühmahl werden wir uns auf den Weg machen. Christel wird uns Brote für unterwegs einpacken«, sagte Clemens zu seiner Frau, die nickte.
Als am frühen Morgen die beiden Männer mit ihren Söhnen und Johanns Tochter aus dem Haus traten, schlug ihnen eisige Luft entgegen. Ihr Atem war als helle, dichte Wolken sichtbar und brannte in ihren Lungen. Sie zogen ihre Schals über Münder und Nasen. Vor der Haustür reichte Christel ihrem Mann einen Beutel mit Wegzehrung, den er sich umhängte. Dann marschierten die fünf los.
Trotz der bitteren Kälte waren die beiden Buben und Magdalena freudiger Stimmung und gingen im Gleichschritt neben ihren Vätern einher. Um den Weihnachtsbaum nicht tragen zu müssen, zog Clemens einen Schlitten mit.
Sie waren kaum aus der Umfriedung des Dorfs heraus, da meinte Georg: »Vater, können wir uns auf den Schlitten setzen, damit du uns ziehst?«
»Du bist wohl schon zu müde zum Gehen?«, erwiderte Clemens lachend und ging weiter. Als auch Benjamin bettelte, gab er nach: »Sobald der Hoxberg ansteigt, geht ihr zu Fuß weiter.«
Die Buben nickten eifrig und setzten sich kichernd auf den Schlitten. Nun fasste Johann mit an, sodass die Holzkufen mühelos durch den Schnee glitten. Magdalena schritt neben ihrem Vater und blickte zu den verschneiten Baumwipfeln empor.
»Nicht eine Wolke ist am Himmel zu sehen«, sagte sie und strahlte, wobei ihre blauen Augen leuchteten.
Liebevoll umfasste Johann ihre Schultern und zog sie zu sich, um ihr einen Kuss auf die Stirn zu drücken. Dann schaute er mit einem Seitenblick zu seinem Freund und musste grinsen. »Wie siehst du denn aus?«
Clemens hatte sich den Schal so um den Kopf gewickelt, dass nur noch seine Augen sichtbar waren. Zudem hatte er seinen Hut tief ins Gesicht gedrückt. »Lach nicht«, schimpfte Clemens freundlich mit seinem Freund. »Bei der Kälte jucken meine Narben«, erklärte er und kratzte mit der Handfläche über den Stoff, der seine Wangen bedeckte. Obwohl es schon siebzehn Jahre her war, dass ihm diese Verletzungen bei einem Brand zugefügt worden waren, litt Clemens bei kaltem Wetter an den Narbengeschwulsten in seinem Gesicht, am Hals und auf dem Oberkörper. Auch seine rechte Hand, die durch den Brand missgestaltet worden war, musste er vor der Kälte schützen.
»Du hättest dich dick mit Fett einschmieren müssen«, sagte Magdalena ernst.
»Hört, hört«, nuschelte Clemens unter dem Schal. »Wir haben eine angehende Heilerin unter uns!«
Klatsch! machte es, und ein Schneeball traf seine Brust, den Magdalena geworfen hatte.
»Na warte«, rief Clemens und verfolgte das vor ihm flüchtende und juchzende Mädchen. Als er sie eingeholt hatte, hielt er sie fest und rieb ihre Wangen mit Schnee ein, wobei sein Hut und der Schal verrutschten. Magdalena quietschte und versuchte sich wegzudrehen. Sofort sprangen die beiden Knaben vom Schlitten auf und rannten hinterher, um mitzumischen. Zum Schluss lagen drei Kinder mit feuerroten Wangen und lachenden Augen im Schnee.
»Bald läuten die Glocken zur Mittagszeit, und wir sind kaum vorwärtsgekommen«, rief Johann und trieb zur Eile an.
Auf dem Rücken liegend zeichneten die Kinder mit Beinen und Armen Abdrücke in den Schnee, um in der weißen Pracht Formen von Engeln zu hinterlassen. Dann standen sie auf, klopften den Schnee von ihren Kleidern und liefen ihren Vätern hinterher, die bereits weitergegangen waren. Kichernd setzten sich Georg und Benjamin wieder auf den Schlitten.
Recht bald stieg die Anhöhe, die von den Einheimischen Hoxberg genannt wurde, mit jedem Schritt an, sodass die Buben absteigen und zu Fuß weitergehen mussten.
»Wann sind wir endlich da?«, maulte Benjamin nach einer Weile, und Georg stimmte jammernd mit ein. »Es ist so anstrengend, und ich habe Hunger.« Lustlos schlurften beide neben ihren Vätern her. »Wie weit ist es noch?«, jaulten die Jungs im Chor.
Magdalena wollte die beiden gerade aufmuntern, als sie sah, wie Clemens mit dem Fuß den Schnee an einer Stelle zur Seite schob. Als er anscheinend gefunden hatte, was er suchte, zwinkerte er ihrem Vater zu, der unmerklich nickte. Magdalena blickte die Männer fragend an, und Johann blinzelte ihr ebenfalls zu. Das Mädchen konnte sich keinen Reim darauf machen und zuckte mit den Schultern.
Plötzlich schrie Clemens, dem Magdalena ansehen konnte, dass er sich nur mit Mühe ein Lachen verbeißen konnte: »Halt! Bleibt stehen!«
Johann riss die Augen auf und fragte mit lauter Stimme: »Um Himmels willen, Clemens, was ist geschehen? Hast du ein wildes Tier gesehen?«
Georgs und Benjamins Gesichtsfarbe veränderte sich. Aufgeregt drängten sie sich dichter an ihre Väter.
»Hier muss es gewesen sein«, flüsterte Clemens und zeigte vor sich auf den Boden. Magdalena spielte das Spiel mit und rief: »Mir wird angst und bange, Vater!«
»Was war hier?«, fragte Georg mit zittriger Stimme und blickte um sich.
»Hier ist der Grenzstein, den der gierige Bauer damals versetzt hat, um sein Land zu mehren«, erklärte Clemens mit verhaltener Stimme und sah sich dabei nach allen Seiten um.
»Welcher Bauer?«, fragte Benjamin flüsternd.
Sein Vater erklärte mit ernster Miene: »Er war ein Mann, der habgierig und böse war. Kurze Zeit nachdem der Bauer den Stein versetzt hatte, damit sein Acker größer werde, starb er. Als er vor unseren Schöpfer trat, strafte Gott ihn für seine Habsucht und schickte ihn als Untoten zurück auf die Erde. Seitdem muss er als Geist umherwandeln und den Stein auf seinem Rücken tragen, bis er erlöst wird.«
Magdalena hatte unterdessen die Butterbrote ausgepackt und jedem eins gegeben. Georg und Benjamin saßen kauend auf dem Schlitten und hörten Johann aufmerksam zu.
»Wie kann er von dem Fluch befreit werden?«, fragte Georg und schob sich den letzten Bissen Brot in den Mund.
Johann zuckte mit den Schultern. »Die Legende erzählt, dass der Bauer jeden, der seinen Weg kreuzt, fragt, wohin er den Stein tragen soll. Doch niemand wusste bis jetzt die Antwort.«
»Der arme Mann«, flüsterte Benjamin. »So ein Stein ist sicher schwer zu tragen.«
»Wäre er nicht so habgierig gewesen, hätte der liebe Gott ihn sicher nicht bestraft«, meinte Georg.
»Ich kenne die Geschichte vom Grenzsteingänger«, sagte Magdalena nachdenklich. »Euer Freund Burghard, der damals für das Dorf hier im Wald die Schweine gehütet hatte, war voller Angst, als der Knecht ihm diese Geschichte erzählte. Jedenfalls hat mir Mutter das erzählt.«
Ihr Vater lachte laut auf. »Ich werde niemals vergessen, wie damals in einer eiskalten Nacht Burghard schweißtriefend zu Hause angekommen war. Er glaubte tatsächlich, dass der Grenzsteingänger hinter ihm her sei, und war voller Furcht von dieser Stelle bis zum Gestüt gelaufen.«
»Wir müssen weiter«, erklärte Clemens schmunzelnd und versprach: »Wenn wir an der Stelle sind, wo die schönsten Tannen stehen, erzähle ich euch noch eine Geschichte.«
»Wieder eine Geistergeschichte?«, fragte Benjamin.
»Nein, diese handelt von schwarzen Schatten«, verriet Clemens geheimnisvoll. »Aber erst müsst ihr ein gutes Stück marschieren.«