• Kapitel 32 •
Magdalena schlug die Augen auf und wusste sofort, dass dieser Morgen anders war. Sie trat vor das Zelt, wo sie munteres Vogelgezwitscher hörte. Der Frühling war zurückgekehrt, hatte den letzten Schnee tauen lassen und ließ die Sonne von einem wolkenlosen Himmel strahlen, sodass eine wohlige Wärme das Mädchen umfing.
Sie blinzelte in das Sonnenlicht, als Gustavsson ihr zurief: »Weck deine Eltern. Wir wollen heute weiterreisen.«
Magdalena nickte und ging zurück in ihre Unterkunft, wo der Vater ihr verschlafen entgegenblickte.
»Ich habe den Schweden gehört«, sagte er und schwang die Füße von der Bettstatt. Während Johann sein Schuhwerk überstreifte, bat er Magdalena: »Pack unsere Sachen zusammen. Ich werde derweil ein Frühmahl besorgen.«
Johann ging zum Lagerfeuer, wo Frauen, Kinder und Männer standen, Tunnbröd aßen und heißen Sud tranken.
»Har du sovit gott?«, fragte ein Schwede, dessen helle Haare in alle Richtungen standen und der breit grinste, sodass seine schmal geschnittenen Augen kaum zu erkennen waren. Fragend blickte Johann zu Gustavsson, der übersetzte:
»Lars will wissen, ob du gut geschlafen hast.«
Johann nickte und murmelte: »Danke der Nachfrage.«
»Wir haben fabelhaftes Reisewetter«, erklärte Erik und reichte ihm Brot und einen Becher Kräutergetränk, als Arne hinzutrat und sagte: »Ich habe gehört, dass wir einen Teil der Strecke gemeinsam reisen werden.«
Erneut nickte Johann und blickte den jungen Mann misstrauisch an.
»Das ist eine gute Entscheidung. So kann ich mich weiter um deine Wunde und um die Erkältung deiner Frau kümmern.«
»Mir geht es gut. Ich benötige deine Hilfe nicht länger«, erwiderte Johann barsch.
Arne sagte kein Wort.
Beide Männer tranken stumm ihr Morgengetränk, als plötzlich verhaltenes Gemurmel einsetzte.
Johann blickte hinter sich und sah Brigitta, die sich zu ihren Landsleuten ans Feuer gesellte. Er bemerkte, dass ihr die Männer begehrliche Blicke zuwarfen, während einige Frauen sie eifersüchtig ansahen.
Nur Arne schien für ihre Reize unempfänglich zu sein, denn er wandte sich ab und sagte zu Johann: »Wenn du erlaubst, werde ich nach deiner Frau sehen.«
»Brigitta, möchtest du Kräutersud und Tunnbröd?«, fragte Erik freundlich.
Die Frau schüttelte den Kopf. »Nein, danke! Stimmt es, dass wir heute weiterreisen?«
Gustavsson nickte. »Unsere Leute sind gesund, und das Wetter ist besser geworden. Es gibt keinen Grund, länger zu warten.«
»Sehr schön!«, flüsterte Brigitta und blickte zu dem Zelt, in dem Arne verschwunden war. »Dann werde ich Ingeborg sagen, dass wir zusammenpacken und die Pferde einspannen.« Als sie sich umdrehte, fiel ihr Blick auf Johann.
»Ihr werdet sicher auch weiterreisen. Habt ihr eine weite Strecke vor euch?«, wollte sie wissen.
Bevor Johann antworten konnte, übernahm Erik das Wort. »Da die Familie eine Strecke weit dieselbe Richtung nimmt wie wir, wird sie in unserem Schutz reisen. So kann sich Arne weiter um Johanns Frau kümmern.«
Brigittas Blick erstarrte. Sie hatte Mühe, sich zu beherrschen und nicht aufzubrausen. Während ihre Augen freundlich blickten, presste sie die Hände zu Fäusten, die sie in ihren weiten Ärmeln versteckte. »Das ist ein vortrefflicher Plan«, sagte sie schließlich und sah Erik strafend an. Dann blickte sie zu Johann und meinte höflich: »Schließlich weiß man nicht, welche Gefahren unterwegs lauern können, zumal ihr schlimme Erfahrungen gemacht habt. So werden wir außerdem die Gelegenheit bekommen, uns näher kennenzulernen«, sagte sie und ging zurück zu ihrem Zelt.
»Wie ich sehe und auch hören kann, geht es dir heute besser«, sagte Arne und steckte das Hörrohr zurück in die Kiste.
»Dank deiner Medizin hat der Husten nachgelassen. Auch fühle ich mich nicht mehr so schwach«, antwortete Franziska und schloss ihre Bluse.
»Das hört ein Arzt gern«, erklärte Arne. »Wie du sicher weißt, werden wir einen Teil der Wegstrecke zusammen reisen, sodass ich mich weiter um dich kümmern kann. Damit deine Genesung voranschreitet, solltest du vor der Abfahrt von dem Weidenrindensaft trinken. Außerdem werde ich dir eine Tonflasche mit Kreuzblumensud aufbrühen, den du unterwegs trinken solltest. Ich hoffe, dass die Wärme der Frühlingssonne und die frische Luft dir ebenfalls guttun werden«, sagte er und stand auf. Er wandte sich Magdalena zu. »Wir haben genügend Schaffelle, mit denen du deiner Mutter auf der Ladefläche eures Fuhrwerks ein bequemes und warmes Lager auslegen kannst. Geh zu Erik, er wird sie dir geben.«
Er suchte Magdalenas Blick, die am Fußende des Bettlagers stand und es vermied, ihn anzusehen. Als er merkte, dass das Mädchen nicht antworten würde, seufzte er leise und verließ das Zelt.
»Dein Benehmen gegenüber Arne war unhöflich, Magdalena. Warum antwortest du nicht?«, fragte Franziska und blickte ihre Tochter forschend an.
Die ging auf den Vorwurf nicht ein, sondern schimpfte leise: »Warum reisen wir mit den Schweden, und warum sagt mir das niemand?«
»Gustavsson hat das gestern deinem Vater vorgeschlagen, und er hat zugesagt. Als er ins Zelt kam, hast du bereits geschlafen. Außerdem müssen wir dich nicht um Erlaubnis fragen«, antwortete Franziska mit leichtem Ärger in der Stimme. »Wir können uns über dieses Angebot glücklich schätzen, denn wir fahren unter dem Schutz dieser erfahrenen Männer«, erklärte sie dem Mädchen.
Ihre Tochter presste die Lippen aufeinander, dann zischte sie: »Ich mag diese Menschen nicht, und Arne besonders nicht.«
»Magdalena«, ereiferte sich Franziska. »Wie kannst du so reden?« Sie blickte ihre Tochter vorwurfsvoll an, die es anscheinend nicht wagte, ihrer Mutter in die Augen zu sehen. »Ich verstehe dich nicht! Diese Menschen sind uns wohlgesinnt. Ich fühle mich in ihrer Gemeinschaft sicher.«
Magdalena wollte etwas erwidern, als draußen jemand fragte, ob er eintreten dürfe.
Kaum hatte Brigitta einen Fuß in das Zelt gesetzt, spürte sie, dass die Stimmung zwischen Mutter und Tochter gereizt war. Als sie das verkniffene Gesicht des Mädchens sah, bestärkte sie das in ihrer Vermutung.
Die Marketenderin ließ sich nicht beirren und strahlte die beiden Frauen an. »Ist das nicht ein wunderschöner Morgen? Das rechte Wetter, um sich auf den Weg zu machen. Wie ich soeben erfahren habe, werden wir zusammen reisen, was ich sehr begrüße. So haben wir Gelegenheit, uns ein wenig kennenzulernen. – Geht es dir besser?«, fragte sie und richtete ihren Blick auf Franziska.
»Ja, danke! Ich fühle mich heute deutlich wohler. Dank der Kräuter, die mir Arne gegeben hat, muss ich kaum noch husten.«
Als der Name fiel, wurde Brigittas Lächeln breit. »Ja, unser Arne ist ein guter Arzt und weiß für jede Krankheit das richtige Heilkraut. Viele verdanken ihm sein Leben, doch davon will er nichts wissen. Es war diese Bescheidenheit, mit der er mein Herz erobert hat«, seufzte sie, und ihre leuchtenden Augen blickten zu Magdalena.
Franziska schaute von der Schwedin zu ihrer Tochter, deren Gesicht wie versteinert wirkte.
Brigitta schien das nicht zu bemerken, denn sie plauderte munter weiter: »Ich werde jetzt unsere Sachen zusammenpacken, damit wir abfahren können. Falls ihr etwas benötigt, gebt Bescheid.« Ihre kornblumenblauen Augen musterten Magdalena, die ihren Blick abgewandt hielt und kein Wort sagte. Achselzuckend wandte sich die Schwedin wieder Franziska zu und sagte: »Wir werden sicher noch genügend Zeit haben, miteinander zu schwatzen und uns besser kennenzulernen.« Dann verließ sie summend das Zelt.
Franziska ahnte, was in ihrer Tochter vorging, und sie streckte die Hand nach Magdalena aus, die sich mit unglücklicher Miene zu ihr setzte.
»Mein armes Kind«, sagte Franziska. »Ich kenne diesen Schmerz, der hier drinnen sitzt«, sagte sie und zeigte auf ihre Brust.
Ihre Tochter zog die Augenbrauen zusammen. »Woher weißt du, dass es mir da wehtut?«
»Du bist in Arne verliebt!«, erklärte Franziska lächelnd und strich ihrer Tochter über die Schulter, die entsetzt den Kopf schüttelte.
»Ich kenne ihn kaum, warum sollte ich mich in ihn verliebt haben? Außerdem mag ich ihn nicht besonders«, erklärte das Mädchen so heftig, dass ihre Mutter schmunzeln musste. Als Magdalena ihrer Mutter in die Augen blickte, sagte sie leise: »Selbst wenn du recht hättest: Meine Liebe zu ihm hätte keine Zukunft. Er ist nicht nur Schwede, sondern auch bereits vergeben, und außerdem werde ich ihn schon bald niemals wiedersehen.«
»Ach, mein Kind«, seufzte Franziska. »Wir Mütter wollen euch vor allem beschützen. Doch vor unglücklichem Verliebtsein gibt es keinen Schutz«, versuchte sie ihre Tochter zu trösten, der Tränen über die Wange rollten.
••
Gegen Mittag setzte sich der Tross aus mehreren Fuhrwerken und Reitern in Bewegung. Mitten unter ihnen befand sich Johann mit seiner Familie. Obwohl Arne es ihm angeboten hatte, ließ er sich weder einen frischen Verband anlegen, noch erlaubte er dem Schweden, ihm behilflich zu sein. Auch als Arne ihm vorschlug, sich auf der Ladefläche auszuruhen und ihm das Lenken der Pferde zu überlassen, antwortete Johann gereizt:
»Ich bin gesund und kann das selbst übernehmen.«
Magdalena saß neben ihrem Vater, während ihre Mutter aufrecht auf der Ladefläche saß und ihr Gesicht der Sonne entgegenstreckte. Benjamin hatte so lange gebettelt, mit den schwedischen Kindern reisen zu dürfen, bis sein Vater entnervt zustimmte. Nun fuhr er zwei Wagen vor ihrem Fuhrwerk und saß lachend inmitten der Blondschöpfe. Immer wieder lehnte sich der Junge über die Seitenteile der Ladefläche und winkte Magdalena zu, die freudig zurückwinkte.
»Er scheint das furchtbare Ereignis überwunden zu haben. Dank der fremden Kinder wirkt er glücklich«, sagte sie zu ihrem Vater, der nickte.
»Ich bin dankbar, dass wir alle den Überfall heil überstanden haben und dass es deiner Mutter besser geht«, sagte er, und Magdalena wusste, was ihr Vater meinte. Mit leiser Stimme fügte er hinzu: »Auch wenn ich mir bewusst bin, dass ich euch alle in Gefahr gebracht habe, so weiß ich auch, dass es die richtige Entscheidung war, aus Wellingen fortzugehen.«
Magdalena dachte einen Augenblick nach und erzählte ihrem Vater von dem Gespräch mit Franziska vom Tag zuvor: »Ich habe gestern mit Mutter über Johannes gesprochen. Sie scheint seinen Tod endlich anzunehmen und sich nicht mehr die Schuld dafür zu geben.«
Überrascht sah Johann seine Tochter an. »Das ist wunderbar. Es war mir stets unbegreiflich, dass deine Mutter sich für Johannes’ Tod verantwortlich fühlte. Ich habe ihr nie Vorwürfe gemacht. Für dieses Unglück konnte niemand etwas. Sie hat ihn abends in seine Krippe gelegt, und am nächsten Morgen war dieser muntere kleine Kerl tot. Es gab keine Anzeichen, dass er krank war und sterben würde. Johannes hatte nicht einmal einen Schnupfen gehabt.«
Johann schluckte schwer und griff nach der Hand seiner Tochter. »Zum Glück haben wir dich und Benjamin. Dank euch können deine Mutter und ich weiterleben.«
Magdalena winkte ihrem Bruder zu, der sich wieder bemerkbar machte. Benjamin legte beide Hände als Trichter vor den Mund und schrie: »Trevlig resa!«
»Wir verstehen dich nicht!«, rief Magdalena zurück.
»Er wünschte euch eine gute Reise!«, lachte Gustavsson, der sein Pferd neben das Fuhrwerk gelenkt hatte.
»Bis sich unsere Wege trennen, ist mein Sohn ein halber Schwede geworden«, brummte Johann und schüttelte den Kopf.
»Wäre das so schlimm?«, fragte Erik und grinste breit.
»Ich denke, es gibt Schlimmeres«, erklärte Franziska, die das Gespräch mit angehört hatte. Sogleich drehte Johann ungestüm den Kopf nach hinten und stöhnte im selben Augenblick jämmerlich auf. Er griff sich an den Hals, wo ein dünner Blutfaden unter dem Tuch sichtbar wurde.
Franziska kniete sich erschrocken hinter ihn und hob seitlich den Verband an. »Verdammt, Johann«, schimpfte sie. »Die Wundkruste ist aufgeplatzt, und deine Verletzung blutet wieder.«
»Es brennt höllisch«, klagte er und presste die Hand auf das Tuch.
»Ich werde Arne holen«, sagte Erik und zügelte sein Pferd, sodass er nach hinten abfiel, wo sein junger Freund mit zwei weiteren Männern die Nachhut bildete.
Kaum hatte Erik ihm erklärt, was geschehen war, trat Arne seinem Pferd in die Flanken und holte rasch zum Bonner’schen Fuhrwerk auf. Er brachte seinen Wallach auf Johanns Höhe und sagte grimmig: »Rutscht zur Seite!«
»Es ist nichts weiter. Das Brennen hat bereits nachgelassen«, versuchte Johann Arne abzuwimmeln.
»Sei nicht störrisch! Ich will dir nur einen neuen Verband anlegen, damit sich die Wunde wieder schließt.«
Obwohl auf Johanns Stirn vor Schmerzen Schweißperlen standen, fauchte er Arne leise an: »Verschwinde!«
Arne, der ahnte, wie schmerzhaft die aufgebrochene Wunde brennen musste, beugte sich aus dem Sattel zur Seite, sodass er dicht an Johanns Ohr kam, und zischte: »Glaubst du, dass ich deine Tochter auf dem Kutschbock bespringen will?«
Daraufhin drehte Johann erneut unbedacht seinen Kopf so heftig zur Seite, dass er vor Schmerzen aufschrie.
Magdalena, die das Gespräch nicht verstanden hatte, hörte den Schrei ihres Vaters. Sie sah, dass er die Zügel nur noch in einer Hand hielt und sich die andere gegen den Hals presste. Verwirrt blickte sie hinter sich zu ihrer Mutter, die auf ihren Mann einsprach.
Arne spürte Zorn in sich hochsteigen. Nur zu gerne hätte er Johann sich selbst überlassen, aber er wusste, dass das Nichtversorgen der Wunde böse Folgen haben konnte. Da sie unmöglich den gesamten Tross anhalten konnten, damit Arne sich um Johann kümmern konnte, ließ der Schwede sein Pferd neben der Ladefläche des Fuhrwerks schreiten. Als er auf gleicher Höhe mit Franziska war, rief er ihr zu: »Nimm meine Satteltasche, und dann halte meine Zügel, damit ich zu dir auf den Wagen steigen kann.«
Franziska nickte, legte die Tasche neben sich auf den Boden und hielt die Zügel fest. Als Arne zu ihr auf die Ladefläche sprang, kam Erik angeritten und übernahm sein Pferd. Arne hob dankend die Hand und schimpfte auf Schwedisch: »Alles nur wegen dieses Sturkopfs!«
Erik grinste und antwortete: »Ich kann ihn verstehen!« Dann ritt er ans Ende des Trupps.
Als Arne neben Franziska saß und ihren angsterfüllten Blick erkannte, schaute er sie zuversichtlich an. »Leg dich wieder hin und deck dich zu, sonst bekommst du einen Rückfall. Ich werde mich um deinen Mann kümmern«, versprach er.
Franziska legte sich erschöpft zurück.
Arne kramte in seiner Satteltasche nach einem Fläschchen und einem Tuch. Mit einem großen Schritt stieg er auf den Kutschbock und setzte sich zwischen Johann und seine Tochter.
»Nimm die Hand weg«, befahl Arne.
Johann gehorchte.
Als der Schwede das Tuch abnahm und die Wunde sah, schimpfte er: »Das hast du nur deiner Unbelehrbarkeit zu verdanken.« Mit dem alten Verband tupfte er das Blut von Wunde und Hals. Während er das Fläschchen mehrmals schüttelte und anschließend öffnete, verfolgte Johann jede seiner Bewegungen. Arne träufelte die Tinktur auf den frischen Verband, verriet jedoch nicht, um welches Kraut es sich handelte. Und auch als er das Tuch um Johanns Hals legte, schwieg er. Er schloss den Knoten und sagte zu Johann mit einem Ton, der keine Widerrede duldete: »Du setzt dich zu deiner Frau und ruhst dich aus. Ich werde euren Wagen lenken.«
Johann holte tief Luft, um dem Schweden zu widersprechen, aber der pochende Schmerz hinderte ihn daran. Mit einem warnenden Blick reichte er Arne die Zügel und stieg auf die Ladefläche zu Franziska.