Kapitel 12

Magdalena lief aus dem Schuppen über den Hof auf die Wiese, wo ihre Füße in einer großen Wasserlache versanken, die sich durch die Schneeschmelze gebildet hatte. Wie ein Storch stakste sie durch die Pfütze, doch das Wasser hatte ihre Schuhe bereits aufgeweicht. »Vermaledeit!«, rief sie zornig und hielt den Saum ihres Rockes hoch, der sich ebenfalls vollgesogen hatte. Wütend stampfte sie auf. »Wie kann Vater über mich bestimmen? Ich bin kein kleines Kind mehr!«, schimpfte sie. »Andere Mädchen in meinem Alter sind verheiratet und haben Kinder. Ihnen sagt kein Vater, was sie zu tun und zu lassen haben.« Tränen traten ihr in die Augen, und sie blickte sich suchend um. »Gerade jetzt, wo der Schuster Bernd mit mir ausgehen will«, jammerte die Siebzehnjährige. Da erblickte sie Clemens.

»Oheim!«, schrie Magdalena schon von Weitem. Als er sie sah, winkte er, und sie lief auf ihn zu, sodass Matsch und Wasser an ihr hochspritzten.

»Was ist, mein Kind?«, rief Clemens besorgt, kaum dass sie in Hörweite war.

»Kann ich ein Pferd bekommen?«, bettelte sie.

Clemens kniff die Augen leicht zusammen und musterte sie von Kopf bis Fuß. »Was ist geschehen?«, wollte er wissen.

»Ich muss zu Maria, denn ich werde in ihr Kloster eintreten«, erklärte Magdalena.

Clemens riss erschrocken die Augen auf. »Warum um alles in der Welt willst du Nonne werden?«

»Dann kann Vater mich nicht zwingen fortzugehen, und ich kann bei euch bleiben.«

»Er hat dir von seinem Plan erzählt«, stellte Clemens fest und atmete tief ein.

»Du weißt davon?«

Er nickte.

»Dann mach was dagegen«, rief Magdalena.

»Es ist seine Entscheidung.«

»Aber nicht meine! Mutter will auch nicht mit auf dieses Eichsfeld gehen.«

»Dein Vater ist der Herr im Haus!«, erklärte Clemens sanft.

»Trotzdem kann er uns nicht zwingen«, erwiderte Magdalena und sah Clemens trotzig an, sodass er schmunzeln musste.

»Ich fürchte, das kann er.«

»Dann gehe ich jetzt ins Kloster«, fauchte das Mädchen und rannte in Richtung Stallungen.

»Nimm den Schecken!«, riet Clemens.

Magdalena drehte sich um und antwortete: »Das Pferd kannst du in der Abtei zu Fraulautern abholen, denn ich werde nicht wiederkommen.«

Clemens nickte und murmelte lächelnd: »Dessen bin ich mir nicht so sicher.«

Magdalena trat dem Schecken in die Flanken, sodass er erschrocken aufwieherte und lospreschte. Es wurde nur ein kurzer Lauf, denn rasch fiel der Gaul in den langsamen Trab und schließlich in den Schritt. Egal wie sehr das Mädchen das Pferd antrieb, es war nicht zu bewegen, schneller zu werden.

Magdalena fror mit den durchweichten Schuhen an den Füßen und dem nassen Rock, der an ihren Waden klebte. »Clemens hat mir mit Absicht den Lahmen gegeben«, schimpfte sie. »Er wusste, dass der Schecke langsam wie eine Schnecke ist!«

Nach scheinbar vielen Stunden sah Magdalena die Abtei vor sich, und sie trat dem Pferd zitternd in die Flanken. »Lauf endlich, du dämlicher Gaul«, rief sie. Tatsächlich trabte er los.

Magdalena saß vor der Klosterpforte ab und zog an dem Seil der kleinen Glocke, die an der Mauer befestigt war. Ungeduldig wartete sie, bis der Kopf einer Nonne in der Luke der Tür erschien.

»Magdalena?«, rief die Frau erschrocken, als sie das Mädchen erkannte. Sogleich verschwand sie wieder, und ein Schlüssel knarrte im Schloss. Die eine Seite des Tors schwang auf, und Magdalena führte das Pferd in den Klosterbereich hinein.

»Ist etwas geschehen?«, fragte die alte Nonne und schaute sie mütterlich an.

»Ich muss Maria sprechen«, sagte das Mädchen bibbernd.

»Die Äbtissin ist in der Kapelle. Komm erst mal ins Warme. Deine Lippen sind blau angelaufen. Es ist zu kalt, um mit nasser Kleidung umherzulaufen«, ermahnte die Ordensfrau Magdalena, die keine Antwort gab. »Binde das Pferd hier an dem Ring fest. Ich werde dafür sorgen, dass sich jemand darum kümmert.«

Magdalena saß im Refektorium vor dem mannshohen Kamin, in dem dicke Holzscheite brannten. Die Nonne hatte ihr eine Decke um die Schultern gelegt und warme Socken sowie einen Becher mit heißem Kräutersud gebracht. Langsam kehrte die Wärme in ihren Körper zurück.

»Liebes, was machst du hier?«, fragte eine freundliche Stimme hinter ihr.

Das Mädchen drehte den Kopf und erblickte Maria. »Sei gegrüßt«, sagte sie schief lächelnd.

»Ist zu Hause jemand krank?«, wollte die Äbtissin besorgt wissen.

Magdalena verneinte und erklärte zwischen zwei Schlucken Sud: »Ich will Nonne werden!«

Maria glaubte sich verhört zu haben, doch der ernste Blick des Mädchens bewies das Gegenteil.

»Wie kommst du auf solch einen Gedanken?«, fragte Maria und musste ein Schmunzeln unterdrücken.

»Ich will Gott dienen!«, erklärte Magdalena und machte ein trotziges Gesicht.

»Du weißt, dass das nicht so einfach geht. Nicht nur, dass man sich selbst sorgfältig prüfen muss. Auch wir, die wir im Kloster leben, unterziehen jede Frau, die diesen Wunsch hegt, einer genauen Prüfung.«

Magdalena sog die Lippe zwischen ihre Zähne und überlegte. »Ich weiß, dass du das nicht musstest«, warf sie schließlich ein.

»Da ich seit meinem zwölften Lebensjahr im Kloster lebe, war ich ausreichend geprüft worden«, erklärte Maria freundlich.

»Du kennst mich mein ganzes Leben lang und weißt, dass ich für das Klosterleben geeignet bin«, erklärte Magdalena ihr Ansinnen leise.

Maria betrachtete das Mädchen, das sie wie eine jüngere Schwester liebte. Magdalena schien sehr aufgebracht zu sein, was die hektischen roten Flecke an ihrem Hals unterstrichen. »Aber das ist nicht der wahre Grund, warum du hier bist«, versuchte Maria die Wahrheit zu erfahren.

Magdalena schwieg und blickte zum Boden. Mit der Fußspitze malte sie unsichtbare Muster auf die glatten Steine.

Die Äbtissin setzte sich auf eine der Bänke, die im Speisesaal vor jedem der fünf Tische standen, und wartete geduldig.

Magdalena schlürfte den Sud und schien nachzudenken. Dann klagte sie leise: »Vater will mit uns fortgehen – in seine Heimat, das Eichsfeld. Ich weiß nicht einmal, wo das liegt oder wie weit das von hier entfernt ist.«

Maria versuchte ruhig zu bleiben, doch ihre Stimme zitterte. »Er hat es euch endlich gesagt«, flüsterte sie.

Sofort ruckte Magdalenas Kopf herum. »Du weißt auch von seinem Plan?«

»Wer noch?«

»Clemens.«

»Geht er mit?«, fragte die Äbtissin.

Magdalena zuckte heftig mit den Schultern, sodass die Decke verrutschte, die sie mit zittrigen Fingern auffing. Mit einem tränenverschleierten Blick sah sie Maria an. »Kann Vater uns befehlen mitzukommen?«, fragte sie verzweifelt.

Maria erhob sich und setzte sich neben das Mädchen auf die Bank, das sogleich den Kopf gegen ihre Brust legte.

»Ich will nicht weg von dir«, schluchzte Magdalena und umarmte Maria.

Die Äbtissin streichelte ihr über das Haar und versuchte sie zu beruhigen, und dabei spürte sie selbst einen Kloß im Hals.

»Dein Vater meint es nur gut, mein Kind. Er hofft, dass deine Mutter in der alten Heimat das Geschehene vergisst und ihr wieder eine Familie werdet.«

»Wir sind eine Familie«, erklärte Magdalena inbrünstig.

»Aber keine glückliche!«

Das Mädchen blickte beunruhigt auf. »Wie meinst du das?«

Maria wählte ihre Worte sorgsam, denn sie wollte das Mädchen nicht noch mehr erschrecken. »Glaube mir, dein Vater hat diese Entscheidung nicht leichtfertig gefällt, denn das Wohl seiner Familie geht ihm über alles.«

»Das bezweifle ich«, entfuhr es Magdalena abfällig.

»Sei nicht voreingenommen, sondern hör mir zu«, forderte Maria sie mit strengem Ton auf. Sie wartete, bis sich der Gesichtsausdruck des Mädchens entspannte, dann sprach sie weiter: »Du hast sicher selbst bemerkt, dass der Geist deiner Mutter sich euch immer mehr zu verschließen droht.« Fragend blickte sie Magdalena an, die zögerlich nickte.

»Alles in Wellingen erinnert deine Mutter an damals. Sie kapselt sich ab. Anders schafft sie es nicht, mit ihrem Schmerz umzugehen.« Maria starrte vor sich hin, doch als sie fortfuhr, lächelte sie sanft. »Einst war deine Mutter ein lebenslustiger Mensch. Sie hat gern gelacht, und man konnte mit ihr Pferde stehlen. Die Liebe zwischen deinen Eltern schien grenzenlos und unzerstörbar zu sein. Doch dann kam dieser schreckliche Tag vor einigen Jahren.« Marias Blick wurde traurig.

»Ich dachte, sie würde sterben«, flüsterte Magdalena mit bleichem Gesicht.

Maria nickte. »Sie ist gefangen in der Erinnerung, aber sie hat sich noch nicht aufgegeben, weil sie Gott vertraut.«

Magdalena zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen. »Worauf vertraut sie?«, fragte sie leise.

»Auf Gottes Trost.«

Johann konnte und wollte nicht glauben, was Clemens ihm über seine Tochter erzählte. Sofort sattelte er sein Pferd und ritt nach Fraulautern. Als er die Pforte der Abtei erreichte, wurde es bereits dunkel. Wie verzweifelt muss Magdalena sein, dass sie Nonne werden möchte, dachte er und zog mehrmals hintereinander am Seil der Glocke. Johann wusste, dass zur vorgerückten Stunde keine Fremden mehr ins Kloster eingelassen wurden – erst recht keine Männer. Doch er hoffte, dass man für ihn eine Ausnahme machen würde.

Endlich erschien der Kopf einer Nonne in dem kleinen Fenster. Ohne ihn anzusehen versuchte sie ihn abzuwimmeln. »Kommt morgen wieder!«

»Ich bin Magdalenas Vater, Johann Bonner«, erklärte er.

Die Ordensschwester blickte ihn kurz an und verschwand. Johann ahnte, dass sie zurück ins Haus lief, um der Äbtissin Bericht zu erstatten. Schon bald hörte er eilige Schritte.

Mit sorgenvollem Blick betrachtete Johann kurz darauf seine schlafende Tochter. Er streckte seine Hand aus, um ihr zärtlich übers Haar zu streicheln, doch kurz davor zuckte er zurück. Ungläubig schüttelte er den Kopf. »Was soll ich nur machen?«, fragte er Maria, die neben ihm in der Zelle stand, welche sie dem Mädchen für die Nacht zugewiesen hatte.

Die Äbtissin, deren Hände in den weiten Ärmeln ihrer Nonnenkutte verschränkt waren, machte ein ernstes Gesicht. Nur ihre Mundwinkel zuckten, als sie mit einer Gegenfrage antwortete: »Meinst du, ob du deine Tochter ins Kloster stecken sollst?« Johann ging auf ihren Scherz nicht ein, sodass sie ernst ergänzte: »Sie wird dir folgen, Johann, ebenso wie Franziska es tun wird.«

»Was macht dich so sicher?«

»Sie lieben dich!«

Johann schüttelte verzagt den Kopf. »Ich würde es gerne glauben, aber Magdalena hat das aufmüpfige Wesen ihrer Mutter und wird sich weiterhin gegen mich auflehnen.«

Maria lachte kurz auf, und sein Blick wandte sich ihr zu. »Ich würde eher sagen, sie ist ebenso stur wie ihr Vater.«

»Ich bin nicht stur!«

»Und ob du das bist! Nichts wird dich davon abbringen, zurück auf dein geliebtes Eichsfeld zu gehen«, flüsterte sie und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten.

Johann legte den Arm um ihre Schultern und zog sie an sich, sodass ihre weiße Haube verrutschte. »Ach, Maria!«, murmelte er und küsste ihre Stirn. »Ich würde alles darum geben, wenn ich es ungeschehen machen könnte und wir bleiben könnten.«

»Franziska und du, ihr müsst endlich miteinander reden. Erst dann kann alles wieder gut werden«, riet sie.

»Nicht hier, wo es geschehen ist. Erst wenn wir Wellingen verlassen und aufs Eichsfeld zurückkehren, wird uns die Aussprache hoffentlich gelingen.«

»Aber warum müsst ihr so weit weggehen? Geht in die Kurpfalz oder ins Elsass, sodass wir einander regelmäßig besuchen können«, flehte sie.

Doch Johann schüttelte den Kopf. »Ich will nicht wieder als Fremder irgendwo neu anfangen. Das Eichsfeld ist unsere Heimat. Dort gehören wir hin. Auch will ich wissen, wie es meiner Mutter und meiner Schwester geht.«

Maria legte ihren Kopf an seine Brust und weinte leise. »Versprich mir, dass ihr eines Tages zurückkommen werdet«, schluchzte sie.

»Das kann ich nicht!«, sagte er und sah dabei in die blauen Augen seiner Tochter, die aufgewacht war und ihn anblickte.