Kapitel 20

Johann sah seiner Tochter nach, wie sie durch das Tor hinausschlüpfte. Er dachte an ihr gemeinsames Gespräch am Abend zuvor und schüttelte den Kopf. Fassungslos hatte er Magdalenas Ansichten über ihre Wahrnehmung von Hexen zugehört. Groll stieg in ihm hoch, doch er schob die schlechte Stimmung beiseite. »Zum Glück hat das Mädchen mich nun verstanden«, murmelte er und erhob sich von seinem Lager.

Er ging zu den beiden Pferden, löste die Stricke, mit denen er die Hengste an einem Pfosten angebunden hatte, und führte sie hinaus ins Freie. Die unerwartet eisige Luft ließ ihn in seinen dünnen Kleidern erschauern, und er zog die Schultern hoch. Als er sich umblickte, sah er noch, wie Magdalena über den Zaun kletterte und zwischen Obstbäumen verschwand.

Johann brachte die Hengste auf die eingezäunte Wiese, die in saftigem Grün stand. Als die Pferde das Gras rochen, zogen sie am Strick und scharrten mit den Hufen.

»Fresst euch satt, denn wir haben heute eine weite Strecke vor uns«, sagte Johann und löste die Führstricke. Sofort liefen die Pferde los, bis sie schnaubend stehen blieben und grasten.

Johann schaute ihnen kurz zu und sammelte dann am Rand der Wiese trockenes Brennholz ein. Er brachte es in die Scheune, wo er in der Nähe der Wand mit dem klaffenden Loch ein Feuer entfachte. Kaum brannten Äste und Bretter, setzte er sich vor die wärmende Flamme und kramte im Beutel mit den Lebensmitteln. Zu seiner Freude fand er eine Stange Grauwurst, von der er dünne Scheiben abschnitt. Da Franziska und Benjamin noch schliefen, legte er für beide mehrere Stücke Wurst zur Seite. Während er eine Scheibe Wurst aß, ging er auf leisen Sohlen um das Fuhrwerk und überprüfte die Sitze. Dann bückte er sich und sah nach Achsen und Rädern. Als er ein Gähnen hörte, kam er aus der Hocke hoch und schaute auf die Ladefläche, wo Benjamin erwacht war und sich die Augen rieb.

»Wie geht es dir?«, fragte Johann liebevoll und legte dem Kind prüfend die Hand auf die Stirn. »Deine Haut fühlt sich immer noch warm an«, stellte er besorgt fest und schlug deshalb vor: »Du bleibst heute liegen und erholst dich. Dann wird es dir morgen besser gehen.«

Benjamin nickte und sagte: »Ich habe Hunger!«

Johann holte ihm eine Scheibe Wurst und ein Stück Brot.

»Kau vorsichtig, denn das Brot ist mittlerweile hart geworden.«

Franziska war ebenfalls erwacht und hatte Johanns Worte gehört. Auch sie blickte Benjamin besorgt an und versuchte etwas zu sagen, brachte aber außer einem Krächzen nichts zustande. Mit schmerzverzerrtem Gesicht strich sie sich über den Schlund.

»Tut der Hals weh?«, fragte Johann mitfühlend.

Sie nickte stumm.

»Magdalena sucht bereits Fichtennadeln, um dir daraus einen heilsamen Sud aufzukochen«, versuchte er sie zu beruhigen. Franziska zog ihre Stirn in Falten und sah ihn fragend an. Johann verriet ihr leise: »Gestern, als du schliefst, habe ich unserer Tochter die Geschichte von Barnabas und Maria erzählt.« Dabei schaute er besorgt zu Benjamin, der jedoch von dem Gespräch nichts mitbekam und an seiner Wurst knabberte.

Franziskas Augen weiteten sich erschrocken, und Johann beruhigte sie. »Magdalena hat jetzt verstanden, warum wir damals das Eichsfeld verlassen mussten.«

Franziska schloss erneut die Lider, und Johann befühlte ihre Stirn, die zu glühen schien. »Du hast noch Fieber. Möchtest du etwas essen oder trinken?«

Sie schüttelte den Kopf und legte sich erschöpft zurück.

Johann deckte sie fürsorglich zu, als vor dem Stall Stimmen zu hören waren. Im selben Augenblick krachte das Tor gegen die Wand, und alle drei blickten aufgeschreckt zum Eingang.

»Wen haben wir hier?«, rief ein finster dreinblickender Mann, der sich breitbeinig in den Torgang stellte. Er trug eine zerschlissene Soldatenuniform und musterte mit unverhohlener Verachtung die drei Menschen.

Johann erwiderte seinen Blick und fragte: »Was willst du?«

Der Fremde rümpfte die Nase und blaffte: »Nicht so vorlaut, Bauer! Die Fragen stelle ich!«

Johann ließ sich nicht einschüchtern und stellte sich dem Fremden entgegen, als er draußen zwei Männer entdeckte, die die Hengste von der Weide führten. Er wollte hinauseilen und sie zur Rede stellen, doch ein weiterer Mann versperrte ihm den Weg und spottete:

»Schaut, schaut, welch prächtige Rösser wir gefunden haben. Sie scheinen niemandem zu gehören, denn sie standen herrenlos auf einer Wiese.« Dabei blickte er Johann in die Augen und verzog höhnisch die Mundwinkel.

Franziska hatte sich verstört aufgesetzt und Benjamin an sich gezogen. Der kleine Körper des Jungen bebte vor Angst, sodass sie ihm schützend den Arm um die Schultern legte. Mit bangem Blick sah sie zu ihrem Mann, der seine Kiefer fest aufeinanderpresste und mit den Zähnen malmte. Er schien Franziskas Blick zu spüren, denn er drehte sich ihr zu und gab ihr mit den Augen ein Zeichen, ruhig zu bleiben. Franziska nickte zaghaft und betrachtete verhalten die derben Eindringlinge.

Johann zählte fünf Soldaten, aber er fürchtete, dass mehr Männer zu der Truppe gehörten. Ihm war klar, dass er nicht einmal zwei Soldaten würde bezwingen können, denn er hatte keine Ahnung vom Kriegshandwerk. Seine einzige Erfahrung waren Prügeleien Mann gegen Mann und Faust gegen Faust. Den Umgang mit einer Waffe hatte er nie gelernt.

Der Soldat, der das Tor aufgestoßen hatte, schien der kleinste und dickste zu sein. Sein Bauch schob sich über den Gürtel mit der Handfeuerwaffe, sodass man den Ledergurt kaum sehen konnte. Sein Haar war dunkel und kurz geschoren. Mit kleinen Augen im verfetteten Gesicht betrachtete er die Pferde und meinte anerkennend: »Solch prächtige Rösser haben sonst nur Hochwohlgeborene.« Er ging einige Schritte auf Johann zu. »Wem hast du sie gestohlen?«, wollte er wissen. Als dieser nicht antwortete, brüllte er: »Hast du deine Zunge verschluckt?«

»Ich habe Pferde gezüchtet, und das sind zwei davon.«

Ungläubig zog der kleine Soldat seine Brauen in die Höhe, doch dann verengten sich seine Augen. »Du denkst wohl, du kannst mich für dumm verkaufen?«

Johann stemmte furchtlos die Hände in die Hüften und erwiderte: »Warum sollte ich lügen?«

»Ich kenne mich mit Pferden aus, und diese beiden sind von der Blutlinie hervorragend. Niemals hat ein Bauer wie du solche Rösser gezüchtet.«

»Doch, das habe ich!«, widersprach Johann mit fester Stimme und blickte ihm unerschrocken in die Augen, als ein hochgewachsener, dünner Bursche mit großen Schritten in die Scheune eilte. Johann konnte in seinem Gesicht kindliche Züge und Wangen erkennen, die noch nicht rasiert werden mussten. Erregt blieb der Bursche vor ihm stehen.

»Du wagst es, meinem Hauptmann zu widersprechen?«, rief er und verpasste Johann ohne Vorwarnung einen Kinnhaken.

Johann hatte mit dem Angriff nicht gerechnet. Er stolperte gegen das Fuhrwerk und fiel zu Boden. Sogleich stand der Bursche über ihm und drosch auf ihn ein. Die Fausthiebe klangen dumpf in seinen Ohren, und er sah kleine Blitze in den Augen. Auch schmeckte er Blut auf den Lippen.

Der dicke Soldat kam grinsend näher und ließ den Jungen gewähren. Erst als Johann laut aufstöhnte und Blut aus Nase und Mund floss, sagte der Dicke: »Er hat es verstanden!«, und zog den um sich schlagenden Burschen von seinem Opfer fort.

Als Franziska Johann stürzen sah, hatte sie laut schreien wollen, aber es kam nur ein Krächzen über ihre Lippen. Benjamin lag weinend in ihren Armen, hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu und kniff die Augen zusammen. Franziska dachte an Magdalena und betete, dass ihre Tochter so lang im Wald bleiben würde, bis die Soldaten abgezogen waren.

Lautlos liefen ihr Tränen über die heißen Wangen. Der Schmerz im Hals glich einem Brennen, und sie konnte weder sprechen noch schlucken. Sie zog ihren wimmernden Sohn auf ihren Schoß und presste sein Gesicht gegen ihre Brust. Innerlich verfluchte sie ihren Mann, weil sie seinetwegen losgezogen waren, und gleichzeitig wollte sie ihm das Blut aus dem Gesicht wischen. Sie hatte das Gefühl, einen Alptraum zu erleben, denn Stimmen und Geräusche drangen verzerrt an ihr Ohr. Sie fuhr sich mit der Hand über die feuchte Stirn, auf der sich Fieberschweiß mit Angstschweiß vermischte, als sie aus dem Augenwinkel sah, wie ein weiterer Soldat den Stall betrat. Langsam drehte sie den Kopf und blickte ihm entgegen. Er hatte eng zusammenstehende, stechend blaue Augen, einen Kopf voller schwarzer Locken und eine Narbe, die über seine rechte Wange verlief.

Sein Blick wanderte über ihre Gestalt und blieb an Benjamin hängen, wobei er sich die Lippen leckte. »Jetzt komme ich doch noch zu meinem Vergnügen!«, lachte er, doch seine Augen blieben kalt. Wolllüstig fasste er sich in den Schritt und trat ans Fuhrwerk heran. Er griff Benjamin brutal am Schopf, sodass der Junge aufschrie, und zog ihn dicht an sich heran. »Erst nehme ich mir die Alte vor, und dann kann der Knabe mir zu Diensten sein«, feixte er und stieß den Jungen zur Seite.

Franziska hob abwehrend die Hände und blickte den Soldaten unter Tränen zornig an, was ihn zu erregen schien.

»Eine Wildkatze bist du also«, stöhnte er und versuchte die Kordel an seinem Beinkleid zu öffnen. »Ich mag es, wenn das Weibsbild unter mir nicht wie ein Stock daliegt. Verdammt, jetzt habe ich einen Knoten in die Schnur gemacht«, fluchte er und zog an dem Lederband. Vor Ärger und Anstrengung verfärbte sich sein Gesicht puterrot, sodass seine Kameraden kicherten.

»Haltet das Maul! Sonst setzt es Hiebe«, rief er böse und fingerte an seinem Latz herum.

Johann lag benommen auf dem Boden. Er sah nichts außer Blut und Füßen, hörte aber, was gesprochen wurde. Voller Furcht, dass die Männer sich an Frau und Kind vergehen könnten, versuchte er sich aufzurichten. Auf Knien und Händen wankte er und spuckte Blut.

»Ihr Alter hat wohl etwas gegen deine Absichten, Kurt«, johlte der kleine Dicke und trat Johann ins Gesäß, sodass er mit dem Gesicht in den Dreck fiel. Seine Nase knackte, und Johann schrie vor Schmerzen auf. Blut tropfte auf den Boden und vermischte sich mit dem Staub.

»Lasst meine Frau und mein Kind in Ruhe«, schnaufte Johann unter Schmerzen. »Nimm mich! Ich kann dir besser dienen«, versuchte er seine Familie zu schützen und schaute mit flehendem Blick den Schwarzgelockten an.

Der Mann musterte Johann kopfschüttelnd und verpasste ihm einen schmerzhaften Tritt gegen die Rippen. »Du hast sie nicht alle!«, schrie er unbeherrscht. »Sehe ich aus, als ob ich dich in den Arsch stoßen will?«

»Ich habe Geld«, sagte Johann und schnaufte durch die geschwollene Nase nach Luft. Mit zittrigen Fingern zog er aus seiner Hosentasche das Beutelchen mit den Münzen hervor.

»Wir sind nicht käuflich«, schimpfte der Dicke und riss ihm den Beutel aus den Händen, den er in seiner Tasche verschwinden ließ. Johann wollte ihm auch den Rest seines Geldes anbieten, den er um den Leib gebunden trug, als er hörte: »Knüpft den dreckigen Bauern am nächsten Baum auf.«

Der milchgesichtige Bursche grinste und suchte nach einem Strick. Er riss die Zügel vom Gespann und band bereits die Schlinge, als einer der Pferdediebe meinte: »Albert soll uns sagen, was mit dem Bauern geschieht. Wenn wir auch diese Menschen umbringen, wird er sicherlich zornig sein. Lasst uns auf ihn warten. Es kann nicht mehr lange dauern, bis er ankommt.«

»Was kümmert mich Hallwich? Er soll mir nicht ständig in die Quere kommen«, blaffte Kurt und nestelte immer noch an seiner Hose.

»Du vergisst, dass er unser Offizier ist und für uns sorgt.«

»Pah! Wir dienen keinem Heer und keinem Mann, der auf der Flucht ist und sich vor Angst in die Hosen pisst.«

»Rede nicht so, nur weil du deinen Schwanz nicht zügeln kannst«, brüllte ein anderer und trat unerschrocken auf den Schwarzhaarigen zu.

»Was ist jetzt?«, fragte der Jüngling und hob die Henkersschlaufe in die Höhe.

Der Dicke nickte, und der Bursche zog Johann an den Haaren hoch.

Als der Soldat ihn am Schopf packte, glaubte Johann, seine Kopfhaut würde reißen. Der Schmerz in seiner Nase pochte, und er schmeckte sein Blut. Er wandte den Kopf zu seiner Frau, die schluchzend ihren Sohn in den Armen wog. »Verzeih mir«, flüsterte er mit aufgeplatzten und geschwollenen Lippen.

Franziska schrie krächzend auf.

Johann sah Benjamins verzweifelten Blick. Was habe ich euch angetan?, dachte er, als der Bursche ihn hinaus ins Freie stieß.

Magdalena fürchtete sich in dem unbekannten Wald. Je tiefer sie in den Forst eintauchte, desto dunkler wurde es um sie herum. Sie versuchte sich Besonderheiten auf dem Waldboden und an den Bäumen einzuprägen, damit sie den Rückweg finden würde, als ein Käuzchen schrie. Erschrocken zuckte sie zusammen. »Wenn man ein Käuzchen rufen hört, stirbt ein Mensch«, murmelte sie die Worte nach, die Regina Rehmringer ihr einst gesagt hatte. Das Mädchen blieb stehen, um sich zu bekreuzigen. »Die arme Seele des Toten soll in den Himmel aufsteigen«, wünschte sie leise.

Langsam und mit umsichtigen Blicken durchsuchte Magdalena die dicht beieinanderstehenden Bäume nach Fichten. Als ihr Magen knurrte, fiel ihr ein, dass sie noch nichts gegessen hatte. In Gedanken sah sie eine Scheibe Brot, dick mit Butter bestrichen und mit Honig beträufelt. Ich hoffe, dass es solche Köstlichkeiten auch auf dem Eichsfeld gibt, träumte sie.

Der Wald lichtete sich und wurde hell, und sie kam zu einer Lichtung, durch die sich ein kleiner Bach schlängelte. Magdalena ging in die Hocke und schöpfte mit der hohlen Hand Wasser, dessen Kälte wie Nadelstiche auf ihrer Haut pikste. Nachdem sie einige Schlucke getrunken hatte, stand sie auf und blickte sich um. Zwischen Laubbäumen versteckt, entdeckte sie eine Gruppe Fichten, die in einer geraden Linie nebeneinander wuchsen. Wie mit einer Richtschnur gezogen, dachte Magdalena und ging zu den Bäumen. Sie hob eine Ecke ihres Umhangs an und sammelte darin die zartgrünen frischen Zweige. Als sie genügend Triebe abgezupft hatte, blickte sie um sich und versuchte sich den Weg ins Gedächtnis zu rufen, den sie gekommen war. Sie umklammerte den Stoff des Umhangs und rannte los.

Endlich lichteten sich die Baumreihen, und sie sah schemenhaft die Umrisse der Scheune, als laute Stimmen und ein Schrei zu ihr drangen. Magdalenas Herz begann zu rasen, und sie blieb abrupt stehen. Mit angehaltenem Atem lauschte sie den Geräuschen. Sie hörte Männer grölen und jemanden weinen.

Magdalena wagte es kaum weiterzuatmen. Zitternd und auf Zehenspitzen schlich sie zu der äußeren Baumreihe. Sie drückte einige Äste zur Seite, damit sie freie Sicht auf das Gehöft hatte. Was sie sah, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren.

Ein Mann, der eine Soldatenuniform trug, zog ihren weinenden Bruder vom Fuhrwerk. Seine Arme hielten Benjamin fest umklammert, während er ihm lachend durch das Gesicht leckte. Ein anderer zog ihre Mutter an den Haaren von der Ladefläche und hinter sich her. Sie weinte und schlug um sich. Als sie den Fremden traf, fluchte er laut und verpasste ihrer Mutter einen heftigen Schlag ins Gesicht, sodass sie zusammensackte und schlaff in seinen Armen hing. »Das hast du davon, Metze!«, brüllte er.

»Wo ist Vater?«, murmelte Magdalena und kämpfte mit den Tränen. Sie ließ ihren Blick über das Gehöft rasen. Als sie ihn nicht fand, wurde ihr übel.

Dann sah sie ihn doch, und ihre Augen weiteten sich entsetzt. »Vater!«, winselte sie und wollte vor Entsetzen losschreien, als sich von hinten eine Hand über ihren Mund legte und ihren Schrei erstickte.