Kapitel 9

Das Geräusch des Schlüssels, der sich im Schloss umdrehte, weckte das Kind. Langsam öffnete es die Augen, doch als es Schritte auf der Stiege hörte, kniff es die Lider wieder fest zusammen und traute sich kaum zu atmen. Das Kind hörte, wie die Frau in den Keller kam und etwas auf dem Boden abstellte. Dann war es still, und es ahnte, dass sie an seinem Schlaflager stand und es beobachtete.

»Ich weiß, dass du nicht schläfst«, hörte es die Frau sagen. Als es sich nicht regte, spürte es, wie sie mit der Schuhspitze seine Beine anstieß. Es gab keinen Laut von sich, was die Frau wütend zu machen schien, denn ihre Stimme wurde zornig, als sie die Worte wiederholte: »Ich weiß, dass du nicht schläfst!«

Nun öffnete das Kind langsam die Augen und sah die Frau an, die dicht vor seinem Lager stand. Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt und blickte finster auf es hinunter. Das Kind versuchte sich aufzusetzen, als sein dünner Körper von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt wurde. Keuchend schnappte es nach Atem und streckte dabei seine Hände in die Luft.

Der böse Blick der Frau wandelte sich, und sie ließ die Arme sinken. »Was soll’s?«, hörte es sie murmeln. »Deine Erkältung wird schlimmer, wenn ich dir nicht helfe«, sagte sie seufzend und kniete sich seitlich auf den Strohsack. Sie schob sein verschwitztes Haar zurück und legte prüfend ihre Hand auf seine Stirn. »Das Fieber ist leicht gesunken«, flüsterte sie und strich ihm über die Wange.

Obwohl das Kind in den letzten Tagen wegen des hohen Fiebers meist dahingedämmert hatte, hatte es gespürt, wie die Frau es umsorgte. Sie hatte das faule, stinkende Stroh seines Lagers gegen frisches ausgewechselt und ein Laken darübergebreitet. Die fahlgelben Halme verströmten einen warmen und reinen Geruch, sodass das Kind manchmal sein Gesicht hineinpresste, um daran zu riechen. Auch hatte die Frau ihm eine dicht gewobene Decke gebracht, die es wärmte. Die Gedanken des Kindes wurden von dem schabenden Geräusch des Eimers abgelenkt, den die Frau näher an ihre Seite heranzog. Das Wasser darin dampfte.

Der Blick des Kindes aus großen, glasigen Augen folgte den Bewegungen der Frau. Es sah, wie sie einen Beutel aus der Rocktasche zog, ihm eine Handvoll getrocknete Kräuter entnahm und sie ins Wasser streute. Schon bald breitete sich ein wohltuender Geruch in dem Kellergewölbe aus. Das Kind schnupperte und spürte, wie die Dämpfe ihm das Durchatmen erleichterten. Tief sog es den Duft in seine Lunge.

Als die Frau das sah, lächelte sie. »Zerstoßener Anis«, murmelte sie leise und tränkte ein Tuch mit dem duftenden Wasser. Dann wischte sie ihm vorsichtig über Gesicht, Hals und die Arme. Ein Kribbeln durchströmte seinen Körper, und es schloss vor Wonne die Augen. Noch nie hatte das Kind sich so wohlgefühlt. Das warme Gefühl, das sich in seinem Bauch ausbreitete, wollte es niemals wieder missen. Es grunzte leise, als sie aufhörte. Aus Angst, das angenehme Gefühl zu verlieren, schlug es die Augen auf. Da sah es, wie die Frau das Tuch erneut in die Brühe tunkte, um ihm dann sanft über seine hellen Haare, die eingefallenen Wangen, die Ohren und die Nase zu streichen. Das Kind war über diese ungewohnten Berührungen so glücklich, dass ihm vor Freunde ein lautes Grunzen aus der Kehle entwich.

Sofort hielt die Frau in den Bewegungen inne, und ihr Blick veränderte sich. Bestürzt stellte das Kind fest, dass ihre Augenfarbe dunkler wurde und sie bereits die Hand hob. Das Kind zuckte zusammen, doch die Frau ließ die Hand sinken und erhob sich wortlos. Mit einem strafenden Blick wandte sie sich von ihm ab und ging hastig zur Treppe. Das gute Gefühl, das das Kind empfunden hatte, schwand.

»MUTR! MUTR!«, keuchte das Kind und streckte seine Ärmchen nach ihr aus.

Die Frau drehte sich ihm zu und schrie: »Nenn mich nicht so. Du bist nicht mein Kind! Du bist nicht mein Sohn!« Laut aufschluchzend wandte sie sich um und stieg die Stiege hinauf.

Wie erstarrt blickte das Kind der Frau hinterher. Es verstand den Sinn ihrer Worte nicht – wusste nicht, was sie bedeuteten, fühlte nur, dass sie sich schlecht anhörten. Es wünschte sich sehnlich, dass sie zu ihm zurückkommen und ihm wieder mit dem Tuch über das Gesicht streicheln würde, damit das warme Gefühl im Bauch wiederkam. Mit angehaltenem Atem lauschte das Kind nach den vertrauten Geräuschen, die sie begleiteten, wenn sie zu ihm in den Keller stieg. Alles blieb still. Das Kind schrie, strampelte und schlug um sich, sodass es gegen den Eimer stieß. Das Wasser ergoss sich auf den Boden, versickerte im Stroh und verwandelte das Lager in eine nasse, aufgeweichte Masse. Als das Kind die Nässe in seinem Rücken spürte, winselte es und versuchte sich aufzusetzen. Es stützte sich mit seinen missgestalteten Ärmchen ab, doch es hatte keine Kraft und fiel zurück auf sein durchnässtes Lager. Tränen liefen über sein Gesicht, das eben noch gestreichelt worden war. Das Kind begriff nicht, was ihm widerfahren war, aber es wusste, dass das wunderbare Gefühl, das ihm die Wärme beschert hatte, vergangen war. Zurück blieb ein heftiges Pochen in der Brust. Obwohl die Frau oft böse zu ihm war, vermisste es sie. Seine Augen füllten sich erneut mit Tränen, und es flüsterte: »Mutr!« Es verstand den Sinn des Wortes nicht, doch es schien mit ihr zu tun zu haben. Verzweifelt wiederholte das Kind das Wort. Doch wie immer hörte sie es nicht.

Es fror, denn nicht nur sein Lager war nasskalt, sondern ebenso sein Hemdchen und die Decke. Frierend versuchte das Kind sich aufzusetzen, was ihm nach einigen Versuchen gelang. Mühsam rutschte es zur ersten Treppenstufe, wo das Wasser nicht hinreichte. Vor Anstrengung keuchend saß es da und blickte die steile Stiege hinauf, als es vor Erstaunen die Augen weit öffnete. Das Herzchen pochte heftig in seiner Brust, weil es Angst hatte, sich zu täuschen. Das Kind schloss die Augen, riss sie wieder auf und blickte wieder nach oben. Als es begriff, dass es sich nicht täuschte, quiekte es vor Freude laut auf.

Die Kellertür stand weit offen.