• Kapitel 29 •
Franziska merkte, wie ihre Tochter ins Zelt schlüpfte und sich auf dem Boden vor ihrer Bettstatt ausstreckte. Auch hörte sie, wie Magdalena leise schimpfte. Doch schon bald verriet ihr gleichmäßiger Atem, dass sie schlief, während Johann leise schnarchte.
Franziska versuchte, tief durchzuatmen, und musste husten. Das Wurstkrautöl, mit dem Magdalena ihre Haut eingerieben hatte, schien zu wirken und ihre Lunge zu befreien. Auch der Weidenrindensaft und der Kreuzblumensud halfen, denn sie fühlte sich nicht mehr so schwach. Als der Hustenanfall abgeklungen war, schloss Franziska die Augen und holte die Bilder zurück, die sie in ihrer tiefen Bewusstlosigkeit gesehen hatte. Sie erinnerte sich an ein wunderbares Gefühl, als sie in gleißendem Licht durch einen Tunnel gewandelt war und am Ende ihr verstorbenes Kind, das sie so sehr vermisste, erblickte. »Johannes!«, flüsterte sie wieder, und sogleich füllten sich ihre Augen erneut mit Tränen. Nun, bei Bewusstsein, musste Franziska erkennen, dass die Bilder ein Fiebertraum gewesen waren. Ihr wurde im selben Augenblick mit Schrecken bewusst, mit welcher Gleichgültigkeit sie seit dem Tod von Johannes ihren Mann und ihre Kinder Magdalena und Benjamin gequält hatte.
»Was habe ich ihnen angetan?«, weinte Franziska leise und vergrub ihr Gesicht tief in beiden Händen, damit Mann und Tochter durch ihr Schluchzen nicht geweckt wurden.
Johannes’ Gesichtchen schob sich erneut in ihre Gedanken. Der Knabe war ihr in dem Augenblick im Licht erschienen, als sie bereit war, darin zu versinken. In ihrem Fiebertraum hatte der Junge vor ihr gestanden und sie mit seinen hellen Augen angelächelt.
Sie wollte ihn mit ausgebreiteten Armen auffangen, doch er bewegte sich nicht und lächelte sie nur weiter an. Franziska sah, dass Johannes das schöne Kind geblieben war, als das er in ihrer Erinnerung lebte. Als er gestorben war, konnte er gerade laufen, und in ihrem Fiebertraum stand er mit seinen kleinen dicken Beinchen vor ihr, obwohl er doch längst so groß und so alt sein musste wie Benjamin, sein Zwillingsbruder.
Franziska lächelte unter Tränen. Im selben Augenblick erfasste sie tiefe Traurigkeit. Weil der lebende Bruder dem toten Zwilling so sehr glich, hatte sie Benjamin ihre Liebe vorenthalten. Franziska wurde schmerzhaft bewusst, dass sie ihrem Jungen vorwarf, dass er leben durfte, während sein Bruder hatte sterben müssen.
»Mein kleiner Johannes hat mir die Augen geöffnet«, murmelte sie erschöpft, aber von einer großen Last befreit.
••
Magdalena erwachte und setzte sich sofort auf, um nach ihrer Mutter zu schauen.
Franziska sah sie aus klaren Augen an und lächelte.
»Geht es dir besser?«, fragte das Mädchen leise, und ihre Mutter nickte.
Zur gleichen Zeit betrat Johann das Zelt und brachte einen Teller mit Essen und einen Becher Kräutersud. Als er Franziska aufrecht im Bett sitzen sah, presste er seine Lippen aufeinander, da seine Gefühle ihn zu übermannen drohten. Mit glänzenden Augen ging er zu ihr und küsste sie auf die Wange.
»Schön, dass du wohlauf bist«, flüsterte er heiser. Dann räusperte er sich und murrte: »Die Schweden essen seltsames Brot.« Er zeigte die dünnen Scheiben und hielt sie ins Licht. »Sie platzen auseinander, sobald man sie anfasst.«
»Wir müssen ihnen dankbar sein«, erklärte Franziska leise und lächelte ihren Mann an.
»Trotzdem sind sie unsere Feinde«, erklärte Johann grimmig und fügte versöhnlich hinzu: »Wenigstens sind sie protestantisch.«
»Wo ist Benjamin?«, fragte Franziska.
»Er sitzt bei den Schwedenkindern und nimmt sein Frühmahl mit ihnen ein. Sicher auch dünnes Brot«, antwortete Johann. »Ich werde ihnen Speck geben. Vielleicht haben sie Eier, die sie dazu braten können. Das wäre ein anständiges Frühmahl für dich, um gesund zu werden, aber nicht dieses Brot«, brummte er und stapfte wieder hinaus. Am Eingang drehte er sich zu seiner Frau um und sagte: »Ich bin froh, dass es dir besser geht.«
Franziska blickte ihrem Mann nachdenklich hinterher. So viel vergeudete Zeit, dachte sie, als Magdalena sie aus den Gedanken riss.
»Möchtest du Benjamin sehen?«, fragte das Mädchen und schaute ihre Mutter erwartungsvoll an.
»Ja«, flüsterte Franziska. »Bring ihn zu mir.«
Ihre Tochter nickte und eilte hinaus.
Kaum hatte Magdalena das Zelt verlassen, blieb sie vor dem Eingang stehen und suchte Arne. Während ihr Blick umherwanderte, schlug ihr Herz vor Aufregung hart gegen ihren Brustkorb. Als sie ihn nirgends entdecken konnte, atmete sie erleichtert aus und ging zu dem Zelt, das Erik ihr am Tag zuvor gewiesen hatte. Je näher sie kam, desto lauter hörte sie Kinder lachen und herumalbern.
Als sie die Unterkunft der Kinder betrat, herrschte sofort Stille. Alle Augen waren neugierig auf sie gerichtet. Zwischen den vielen Blondschöpfen war es für das Mädchen einfach, ihren Bruder mit seinen dunklen Haaren zu finden.
Kaum sah Benjamin seine Schwester, sprang er auf, kam zu ihr und umschlang ihre Hüften.
Magdalena küsste seinen Scheitel und sagte: »Mutter möchte dich sehen.« Sie kniete sich zu ihm nieder und zog ihn dicht an sich.
»Geht es ihr besser?«, fragte der Junge und schaute sie scheu an.
Magdalena nickte. »Sie wird bald wieder gesund sein«, versprach sie.
Benjamin flüsterte: »Ich habe dich gestern schreien gehört.«
»Ich hatte gehofft, dass du nichts gehört hast«, antwortete Magdalena und suchte nach Worten, um ihm ihre Schreie zu erklären.
»Erik ist zu mir gekommen und hat gesagt, dass du dich erschreckt hast und dass ich mich nicht sorgen müsste«, klärte Benjamin seine Schwester auf.
Magdalena dankte Erik in Gedanken für seine Notlüge.
»Lass uns zu Mutter gehen«, sagte Magdalena und wollte sich erheben, doch ihr Bruder zog sie wieder auf Augenhöhe.
»Dauert das lange?«, fragte er.
»Warum willst du das wissen?«
»Erik hat versprochen, uns eine Geschichte zu erzählen. Er ist nämlich der Geschichtenerzähler der Kinder«, erklärte Benjamin mit leuchtenden Augen, und alle Übrigen nickten.
»Aber du verstehst doch die fremde Sprache nicht«, entgegnete Magdalena und stand aus der Hocke auf.
»Ich lerne sie«, erklärte ihr Bruder mit kindlichem Eifer, sodass Magdalena grinsen musste.
»Frag mich, was Baum in ihrer Sprache heißt.«
Magdalenas Grinsen wurde breiter, aber sie spielte das Spiel mit und fragte mit ernstem Gesicht: »Was heißt auf Schwedisch Baum?«
»Träd«, brüllte Benjamin und sah seine neuen Freunde jubelnd an, die Beifall klatschten. Er hopste vor Freude auf der Stelle und bat: »Und jetzt frag mich, was Zelt heißt.«
»Benjamin, kennst du das Wort für Zelt?«
»Tält«, schrie er, und seine Freunde schrien mit.
»Aber weißt du auch das wichtigste Wort?«, fragte eine Stimme hinter ihnen, die Magdalenas Beine sofort weich werden ließ, sodass sie sich auf Benjamin abstützen musste.
Ihr Bruder wandte sich Arne zu, der unbemerkt eingetreten war, und fragte mit erwartungsvollem Blick: »Welches Wort ist das?«
»Freund!«
»Das kenne ich auch«, schrie der Junge aufgeregt. »Vän!«, jubelte er, riss die Arme in die Höhe, und sofort wurde er von seinen neuen Freunden umringt.
Arne hob ihn hoch und sagte: »Ja, das ist richtig, kleiner vän!« Dann setzte er ihn auf den Boden und blickte Magdalena schelmisch an. »Geht es dir gut?«
»Warum fragst du?«, wollte sie wissen und wagte kaum, den Blick zu heben.
»Dein Gesicht sieht erhitzt aus«, erklärte er, sodass das Mädchen erschreckt aufschaute.
Als sie jedoch den Schalk in seinem Blick erkannte, spürte sie, wie die Hitze in ihren Wangen sich verstärkte. »Dummkopf«, fauchte sie und nahm Benjamin an die Hand, um mit ihm das Zelt zu verlassen.
Wütend, weil sie ihre Gefühle nicht beherrschen konnte, und zornig über Arne, der sie damit ärgerte, stapfte Magdalena über den Platz und zog ihren Bruder hinterher. Als sie den Duft von gebratenem Speck erschnupperte, ging sie geradewegs zu Eriks Zelt. Wie sie vermutet hatte, saßen Gustavsson und ihr Vater am Feuer und brutzelten Speck in einer Pfanne.
»Lasst mir eine Scheibe übrig«, bat sie und verließ wieder das Zelt, um Benjamin zu seiner Mutter zu bringen.
Als Magdalena das Tuch des Eingangs zurückschlug, hörte sie ihre Mutter mit einer Frau reden. Kaum erkannte sie die zweite Stimme, stellten sich ihre Nackenhaare auf. Sie schob Benjamin nach vorn, der mitten im Zelt stehen geblieben war und schüchtern von seiner Mutter zu der fremden Frau sah.
»Du musst Benjamin sein«, sagte Brigitta und fuhr dem Jungen über den Kopf.
Er nickte vorsichtig und ging dann zu seiner Mutter, die die Hände nach ihm ausstreckte.
»Komm zu mir, mein Schatz«, sagte Franziska und zog ihren Sohn an sich. »Geht es dir gut? Hast du den Überfall unversehrt überstanden?«, fragte sie und sah ihn besorgt an.
Sein Gesicht kam dicht an ihr Ohr. »Die bösen Männer sind tot«, flüsterte er und schaute ängstlich zu der fremden Frau.
»Deine Mutter hat mir von eurem schrecklichen Erlebnis erzählt«, sagte Brigitta voller Mitgefühl. »Dieser Überfall muss für euch alle furchtbar gewesen sein«, erklärte sie und schaute Magdalena an, die nur nickte.
»Wir können Gott danken, dass Erik und Arne in der Nähe waren«, fuhr Brigitta fort und fügte hinzu: »Auch wenn wir auf dem Schlachtfeld Feinde sind, so seid ihr in unserem Lager in Sicherheit und könnt euch erholen, bis wir weiterziehen.«
»Wann wird das sein?«, fragte Franziska zwischen zwei Hustenanfällen.
»Wie ich hörte, geht es unseren Kranken dank des Bärlauchs bedeutend besser. Ich vermute, dass wir in zwei Tagen aufbrechen werden, damit wir schnell wieder bei unserem Heer sind.«
»Heer?«, fragten Mutter und Tochter wie aus einem Mund.
Brigitta nickte. »Hat man euch das nicht gesagt? Wir gehören zu einem großen Heer, kommen von der Festung Philippsburg in Baden und ziehen nach Norden.«
»Aber hier sind Frauen und Kinder und nur wenige Männer. Was habt ihr mit einem Heer zu schaffen?«, fragte Magdalena, während Benjamin quengelte:
»Kann ich zurück zu meinen Freunden gehen?«
Als Franziska fragend Magdalena anblickte, erklärte sie, dass ihr Bruder den schwedischen Geschichtenerzähler nicht verpassen wollte.
Ihre Mutter stimmte lächelnd zu.
»Kinder scheinen furchtbare Erlebnisse schnell zu vergessen«, meinte Brigitta, als der Junge aufgeregt hinauslief.
»Das ist gut so«, erklärte Franziska ernst.
Magdalena war neugierig geworden und wiederholte ihre Frage.
»Ihr habt wohl noch kein Heer gesehen?«, fragte Brigitta mit spöttischem Unterton. »Zu jedem Heer gehört ein Tross, und zu dem gehören wir.«
»Wir kommen aus dem Land an der Saar, auch Westrich genannt …«, wollte Franziska erklären, doch ein Hustenanfall hinderte sie daran.
»Hier, Mutter, trink den Kräutertrank«, sagte Magdalena und hielt ihr den Becher an die Lippen. Nachdem Franziska einige Schlucke zu sich genommen hatte, legte sie sich erschöpft zurück.
»Ich denke, wir lassen sie ruhen«, erklärte Magdalena und wies Brigitta an, das Zelt zu verlassen.
Draußen fragte Magdalena die Schwedin: »Was ist ein Tross?«
Brigittas Blick verengte sich, und sie erklärte: »Er ist die Nachhut, in der die Frauen ihren Soldatenmännern folgen.« Dabei sah sie das Mädchen mit ihren kornblumenblauen Augen durchdringend an, sodass es eingeschüchtert schwieg.
Brigitta lächelte freundlich, drehte sich um und ging ohne ein weiteres Wort davon.
Magdalena sah der Schwedin hinterher, die mit wogendem Gang den Platz überquerte. Dabei schwang ihr hellblaues Kleid mit dem dunkelblauen Umhang hin und her. Ihre dunklen, langen Haare, die durch ein Tuch zurückgehalten wurden, wippten im Takt dazu.
Nachdenklich sog Magdalena ihre Unterlippe zwischen die Zähne, als ihr Vater hinter sie trat und sie so unverhofft ansprach, dass sie erschrak.
»Ich habe dir Speck übrig gelassen, aber wenn du ihn nicht bald isst, wird es ein Schwede tun«, sagte er leise und blickte sich grimmig um.
»Vater, du bist ihnen gegenüber ungerecht. Sie haben uns gerettet«, wagte Magdalena zu sagen.
»Ja, ja, das weiß ich! Aber ich bin froh, wenn wir weiterziehen können. Ich traue ihnen nicht«, erklärte er mürrisch und ging zu Franziska ins Zelt.
Magdalena stöhnte leise auf und schlenderte zum Feuerplatz, wo Erik eine Pfeife rauchte.
»Mein Vater sagte, dass du Speck für mich hast«, sagte sie schüchtern. Das Mädchen erkannte selbst durch die Rauchwolke, die seinen Kopf umhüllte, Eriks Grinsen.
»Der Duft des gebratenen Specks hat so manchen meiner Landsmänner angezogen, aber ich habe dein Essen verteidigt«, spaßte Gustavsson und reichte ihr eine Platte mit dem knusprig gebratenen Rauchfleisch. Auch brach er von dem runden, dünnen Brot ein Stück ab, das Magdalena misstrauisch betrachtete.
»Tunnbröd ist etwas Besonderes, denn dank ihm erhalten wir auch in der Fremde die Erinnerung an unsere Heimat lebendig«, erklärte Erik mit der Pfeife zwischen den Zähnen.
»Mit Brot?«, fragte Magdalena ungläubig und biss in den Speck.
»Tunnbröd gibt es nur in Schweden.«
Das Mädchen biss in das Stück, und es zerbrach in weitere Teile. »Ich hoffe, ihr habt noch mehr, was euch an eure Heimat erinnert«, lachte sie.
Erik nickte. »Viele unserer Kinder sind in eurem Reich geboren und haben von Schweden keine Vorstellung. Deshalb versuche ich mit meinen Erzählungen, ihnen unsere Heimat näherzubringen.«
»Mein Bruder Benjamin kann es kaum erwarten, deine Geschichte zu hören. Er lernt sogar eure Sprache.«
»Es ist schön, dass unsere Kinder ihn den Überfall vergessen lassen. Viele der Jungen und Mädchen haben auch Schlimmes gesehen und erlebt. Aber in der Gemeinschaft kommen sie besser darüber hinweg.«
Magdalena blickte auf ihre angebissene Scheibe Speck. »Im Land an der Saar, wo wir lebten, haben wir von den schlimmen Dingen des Krieges nichts gesehen oder kaum etwas gespürt. Nur die Flugschriften haben darüber berichtet, aber alles schien weit weg zu sein.«
»Dafür muss man dankbar sein«, sagte Erik und fragte nachdenklich: »Warum seid ihr auf Reisen gegangen?«
Magdalena legte das Brot auf den Teller, den sie zur Seite stellte. »Wir sind auf dem Weg zum Eichsfeld, wo meine Eltern geboren wurden.« Das Mädchen stockte und schluckte.
Erik blickte sie nachdenklich an und wartete geduldig, bis sie weitererzählte.
»Mein Vater hofft, dass meine Mutter in ihrer alten Heimat vergessen wird, was in der Fremde geschah.«
Der Schwede sog gedankenverloren an seiner Pfeife und nickte schwach. Jetzt ergab Arnes Vermutung vom Vortag, dass Franziska keinen Lebenswillen mehr gehabt habe, einen Sinn und zeigte, dass er recht hatte.
»Was war das?«, fragte Gustavsson leise.
Magdalena sah zu ihm auf, und ihr Blick verschwamm. Doch bevor sie antworten konnte, kamen die Kinder angelaufen und setzten sich lachend und schwatzend ums Feuer. Benjamin nahm dicht neben seiner Schwester Platz und drückte sich an sie.
»Vad har du att berätta?«, rief ein Mädchen mit langen blonden Zöpfen.
»Du möchtest wissen, was ich euch erzähle?«, wiederholte Erik die Frage auf Deutsch, und die Kinder nickten.
»Da heute Benjamin und Magdalena unsere Gäste sind, werde ich die Geschichte ausnahmsweise nicht auf Schwedisch, der Sprache unserer Heimat, sondern auf Deutsch erzählen«, erklärte Erik Gustavsson. »Seid ihr damit einverstanden?«, fragte er die Kinder.
Alle nickten.
Erik klopfte gemächlich die Pfeife an einem Stein aus, um die aufgeregten Kinder zu beruhigen. Erst als alle Blicke auf ihn gerichtet waren, schaute er Magdalena und Benjamin an und erklärte ihnen: »Bevor ich mit meiner Geschichte beginne, müsst ihr Folgendes wissen: Einige unserer Legenden handeln davon, dass in schwedischen Wäldern eigenartige Wesen leben, die man Trolle nennt. Zwar kenne ich niemanden, der je einen Troll gesehen hat, aber da sich das Gerücht seit Jahrhunderten hartnäckig hält, müssen die Geschichten etwas Wahres erzählen.«
Er wandte sich nun den übrigen Kindern zu. »Es heißt, dass diese Geschöpfe riesig und nicht besonders hübsch sind. Sie sollen krumme und dicke Nasen sowie Warzen im Gesicht haben. Das verleiht ihrem Aussehen etwas Derbes. Auch haben Trolle, so erzählt die Legende, besonders große Hände und Füße.«
Als Gustavsson das Aussehen dieser Fabelwesen beschrieb, nahm er seine Hände zu Hilfe. »Ihre Haare sind zottelig und lang, sodass man die Trollfrau kaum vom Trollmann unterscheiden kann. Wenn diese Wesen auftauchen, richten ihre plumpen Schritte große Schäden in unseren Wäldern an. Ihr müsst wissen, dass die Kinder der Trolle ebenso hässlich sein sollen – so erzählt man sich jedenfalls –, und deshalb würden die Trolleltern sie gegen hübsche Menschenkinder austauschen.«
Als er während des Erzählens in die Gesichter seiner kleinen Zuhörer schaute, musste er schmunzeln, da sie ihn aus großen Augen aufgeregt anstarrten. Er stopfte sich seelenruhig seine Pfeife und flüsterte dann: »Von solch einem Wechselbalg handelt die Geschichte, die ich euch heute erzählen möchte.«
Magdalena spürte, wie die Kinder den Atem anhielten. Auch sie konnte es kaum erwarten, bis Gustavsson endlich die Geschichte zu erzählen begann, als sie im Augenwinkel eine Bewegung bemerkte. Das Mädchen blinzelte in die Richtung und erkannte Arne, der sich nur wenige Schritte von ihr entfernt hinsetzte. Sofort spürte Magdalena, wie Röte in ihre Wangen schoss, sodass sie schnell ihren Kopf drehte und starr zu Erik blickte. Gern wäre sie aufgesprungen und gegangen. Aber sie wollte nicht auffallen, und so blieb sie sitzen.
Erik nickte Arne zu, entzündete seine Pfeife und begann zu erzählen: »Es war Winter, und die Landschaft dick mit Schnee bedeckt, als in einem Waldstück ein Troll-Ehepaar sein wenige Tage altes Trollkind betrachtete.
›Ist es nicht wunderschön?‹, fragte die Trollin ihren Mann und küsste die Stirn ihres Sohnes, als plötzlich Hufgetrappel zu hören war. Hastig versteckten sich die Trolle hinter einem breiten Baumstamm, als ein Mann auf seinem Pferd angeritten kam – gefolgt von seiner Frau, die ein Bündel im Arm hielt. Es handelte sich um ein reiches Bauernehepaar, das auf dem Weg zu den Eltern der Bäuerin war, um ihren neugeborenen Sohn vorzustellen.«
Erik sog mehrmals an seiner Pfeife und stieß den Qualm langsam aus. Dabei blickte er den Kindern fest in die Augen und flüsterte: »Vielleicht war es der Gestank der Trolle, der die Pferde ängstigte. Vielleicht aber auch ein fremdes Geräusch, das sie erschreckte. Wer kann das im Nachhinein sagen? Vieles wäre denkbar, warum die Pferde plötzlich ängstlich wieherten und mit den Vorderhufen in die Höhe stiegen, sodass die Bauersfrau vor Schreck aufschrie und ihr Kind in den Schnee fallen ließ. Als sie sah, wie es einen kleinen Abhang hinunterrollte, versuchte sie ihr Pferd zu beruhigen und zum Stehen zu bringen. Aber die Stute hörte nicht auf ihre Befehle und preschte mit ihr auf dem Rücken im gestreckten Galopp dem Bauern hinterher.
Unentdeckt von den Menschen hatten die Trolle den Vorfall beobachtet und nicht gewagt, sich zu bewegen. Erst nachdem die Bauern nicht mehr zu sehen waren, eilten sie zu dem Bündel und hoben das fremde Kind auf. Da es leise quengelte, zog die Trollfrau die Decke vom Gesicht des Kindes und erschrak. Verwundert blickte sie zu ihrem Mann, der das Kind entgeistert anstarrte.
›Solch ein schönes Kind habe ich noch nie gesehen‹, sagte die Frau leise und blickte von dem fremden zu ihrem eigenen Kind und zurück.
›Gegen das Menschenkind ist unser eigenes Kind hässlich anzusehen‹, flüsterte der Trollmann nachdenklich, als erneut Pferdeschnauben und Hufgetrappel näher kamen. Die Bauersleute hatten ihre Pferde zügeln können und waren umgekehrt, um ihr Kind zu suchen. Schon von Weitem hörten die Trolle den Bauern schimpfen: ›Wie kann man sein Kind verlieren?‹, und die Frau laut aufheulen: ›Ich habe unseren Sohn nicht mit Absicht fallen gelassen!‹
Die Trollfrau sah ihren Mann fragend an, der stumm nickte. Daraufhin wickelte sie ihren eigenen Sohn in die Decke des Menschenknaben und legte ihn auf den Boden, wo sie das fremde Kind gefunden hatte. Dann stampften sie mit dem Sohn der Bauersleute tief in den Wald und überließen ihr eigenes Kind seinem Schicksal.
Kaum hatte die Bauersfrau die Stelle erreicht, an der das Unglück geschehen war, hielt sie ihr Pferd an und sprang in den Schnee. Als sie leises Kinderwimmern hörte, rannte sie los und fand das Bündel, das sie überglücklich hochnahm. Als auch ihr Mann sie erreicht hatte, schlug er freudig die Decke zurück – und blickte in die hässliche Fratze des Trollkinds. Entsetzt schrien er und seine Frau auf, denn sie glaubten sofort zu wissen, dass man ihnen einen Wechselbalg untergeschoben hatte.
Der Bauer wollte das Trollkind zurücklassen, doch die Frau überzeugte ihn davon, den Knaben mitzunehmen. ›Wir können ihn nicht hierlassen, denn sonst werden wir unseren Sohn niemals zurückbekommen‹, weinte die Bäuerin. Da der Mann seine Frau liebte und ihr keinen Wunsch abschlagen konnte, stimmt er zu, den Wechselbalg mitzunehmen. In den folgenden Jahren wollte der Bauer mehr als einmal das hässliche Wesen loswerden und es in einen Abgrund hinabstürzen, es totschlagen oder verhungern lassen. Immer wieder konnte seine Frau ihn davon abhalten. ›Alles Gute und alles Schlechte, was wir dem Wechselbalg antun, wird auch unserem Sohn widerfahren.‹
Heimlich gab sie dem Knaben die besten Speisen zu essen, und als ihr Mann drohte, den Wechselbalg zu ertränken, brachte sie ihn in Sicherheit.
Der Verlust des eigenen Kindes hatte den Bauern früh altern lassen und ihm alle Lebensfreude genommen. Auch die Liebe zu seiner Frau war erloschen. Und so verließ er eines Morgens ohne ein Wort des Abschieds das Gehöft, um in die Fremde zu ziehen, als ihm auf dem Acker ein Jüngling begegnete, der ihm wie aus dem Gesicht geschnitten glich. Erstaunt blieb er vor dem Fremden stehen, der ihn Vater nannte. Tatsächlich war es sein Sohn, den die Trolle zu seinen Eltern zurückgeschickt hatten.
Mit Tränen in den Augen umarmte der Vater den Sohn und rief: ›Dem lieben Gott sei Dank!‹
Doch der junge Mann schüttelte den Kopf. ›Vater, dankt nicht unserem Heiland, sondern meiner Mutter. Die Trolle waren stets in eurer Nähe und haben euch beobachtet. Habt Ihr den Wechselbalg geschlagen, bekam auch ich Schläge. Als Ihr das Trollkind ertränken wolltet, haben sie auch mich über das reißende Gewässer gehalten. Habt ihr dem Troll Abfall vorgesetzt, musste ich Würmer und Frösche essen. Gab Mutter dem Trollkind heimlich schmackhaftes Essen, wurde auch mein Essen genießbar. Ihr seht, Vater, nicht der liebe Gott, sondern meine Mutter hat dafür gesorgt, dass ich wohlbehalten zu Euch zurückgekommen bin.‹
Da nahm der Bauer seinen Sohn in den Arm und gelobte, seiner Frau zu verzeihen. Von da an lebten sie glücklich und zufrieden«, schloss Erik seine Geschichte und blickte lächelnd in die Augen seiner kleinen Zuhörer, die ihm mäuschenstill gelauscht hatten.