Kapitel 16
Badra stand vor dem Sklavenaufseher des Pleasure Palace und sprach die Worte aus, vor denen ihre Seele sich am meisten fürchtete: »Ich konnte die Halskette nicht finden, deshalb biete ich mich an, den Platz meines Kindes einzunehmen.«
Masud schien nicht überrascht. Sie standen im Empfangsraum des Bordells, wo die Kunden ein- und ausgingen, um die Preise für ihre Vergnügungen zu verhandeln. Opulente Diwans mit dicken rotblauen Auflagen sowie Satinholztische mit Perlmuttintarsien sollten die richtige Atmosphäre schaffen. Einzig der Sekretär mit Rollladen, der an einer Seite stand, erinnerte daran, dass es hier um nichts als das Geschäft ging.
Ihre zitternden Beine drohten nachzugeben. Badra wollte das hier so schnell wie möglich hinter sich bringen.
Sie betete, dass Kenneth ihr folgte. Zwar war er verwirrt und wütend gewesen, aber im Grunde seines Herzens war Khepri ein guter Mensch. Er würde dafür sorgen, dass ihre Tochter in Sicherheit gebracht wurde, und das war alles, was zählte.
Badra sah Masud entschlossen an. »So war es abgemacht. Ich biete mich an ihrer Stelle an. Bring sie mir!«
Masud schnippte mit den Fingern, und binnen Minuten erschien Jasmine in der Tür. Sie sah verängstigt aus, doch kaum entdeckte sie Badra, strahlte sie übers ganze Gesicht. Mit einer kleinen Tasche in den Armen rannte sie auf Badra zu. Diese beugte sich hinunter und nahm ihre Tochter in die Arme. Dann blickte sie streng zu Masud und den Wächtern auf.
»Lasst mich eine Minute mit ihr allein! Mehr verlange ich nicht.«
Masud grunzte verächtlich, aber die Männer zogen sich zurück. Badra umarmte Jasmine fest, als wollte sie ihr all ihre Liebe übertragen und alle Hoffnung, die sie in ihrem Herzen hegte. Liebevoll küsste sie die Kleine und flüsterte ihr beruhigende Worte ins Ohr. Dann sah sie in die Tasche, und es versetzte ihr einen Stich, wie wenig ihre Tochter besaß. Da war nur zerlumpte Wechselkleidung, sonst nichts. Sie nahm Jasmines Hand und gab ihr etwas Geld.
»Sie lassen dich frei. Nimm das Geld, steig in eine der kleinen Straßenkutschen und fahr zum Shepherd’s Hotel! Der Fahrer weiß den Weg. Dort wartest du auf einen Engländer namens Kenneth, Duke of Caldwell. Du musst zu ihm, egal, was irgendjemand anders sagen mag. Erzähl ihm, dass ich hier bin! Er ist gütig und wird dich beschützen.«
Das kleine Mädchen schien ihr nicht recht zu trauen, aber Badra drückte ihre Hand. »Bitte, du musst mir vertrauen! Es ist die einzige Möglichkeit, die ich habe, dich von hier wegzubringen.«
Jasmine blickte zu ihr auf. Unschuld und Gutherzigkeit leuchteten in ihren Augen, und Badra erkannte darin eine Spur ihrer eigenen Kindheit wieder, unschuldig und voller Freude, bis ihr alles genommen wurde.
Sie musste ihre Tochter retten.
»Ich mach’s«, flüsterte Jasmine.
Badra richtete sich auf und legte eine Hand auf die Schulter ihrer Tochter, als die Männer zurückkamen. »Ich bringe sie hinaus, um ihr eine Kutsche zu rufen«, erklärte sie Masud frostig. »Ich traue dir nicht.«
Zwei bewaffnete Wächter begleiteten sie nach draußen in den Garten, der das gesamte Gebäude umgab. Ein wächserner Mond hing tief am Himmel. Badra sah hinauf und hoffte, ihr Namensgeber möge ihre Tochter auf den richtigen Weg führen. Im nächsten Moment packten die Wächter ihre Arme, damit sie nicht entkommen konnte. Jasmine ging weiter, warf ängstliche Blicke über ihre Schulter zu Badra und verließ den Garten. Das Bordell lag am Ende einer verlassenen Straße auf einer kleinen Lichtung, wie das Anwesen eines Paschas. Badra folgte ihrer Tochter zwischen den Wächtern bis zu der Stelle, an der die Straße sich mit einer belebteren kreuzte. Sie entdeckte eine kleine Kutsche, die wartend am Straßenrand stand.
»Geh zu dem Mann und tu, was ich dir gesagt habe!«, wies sie Jasmine an.
Das Kind blickte unsicher zu ihr auf.
»Geh!«, wiederholte Badra und schob die Kleine vorwärts. Tränen brannten ihr in den Augen. »Jetzt! Lauf, Jasmine!«
Jasmine lüpfte ihr Kleidchen und trippelte davon. Die Wächter standen stumm da, während Badra ein leises Gebet sprach.
»Geh mit Gott, meine Kleine! Möge er dich wohl behüten.«
Dann drehte sie sich um und ging mit den Wächtern zurück zum Bordell.
Jabari verschwendete keine Zeit mit Fragen, als Kenneth ihm erzählte, was geschehen war. Er bestand darauf, den Herzog nach Kairo zu begleiten. Kenneth kaufte Zugkarten für ein Erste-Klasse-Abteil für den Scheich, Rashid, Ramses und sich. Ihre Einigkeit bestätigte ihm einmal mehr, wie stark die Bande unter den Khamsin waren.
Sorge und Wut erfüllten ihn. Die ganze Fahrt nach Kairo über hatte er das Gefühl, seine widerstreitenden Emotionen würden ihn einer Würgeschlange gleich ersticken. Er zog den Dolch, den Badra an der Ausgrabungsstelle fallen gelassen hatte, aus seiner Scheide und betrachtete ihn.
Einst hatte er sich damit die Hand aufgeschlitzt und ihn ihr vor die Füße geschleudert. Jetzt war er zu einem Symbol ihrer Vergangenheit geworden – und ihrer Gegenwart.
Badra tat nichts grundlos. Sie schätzte alles Vertraute und ein Leben in ruhigen geregelten Bahnen. Es gab nur wenige Dinge, die sie dazu bringen konnten, von ihrem gewohnten Weg abzuweichen. Wenn sie es jedoch tat, dann mit einer rücksichtslosen Entschiedenheit.
In das Bordell zurückzugehen, in dem sie als Kind verkauft worden war, kam einem freiwilligen Sprung in eine Schlangengrube gleich. Das klang nach Selbstzerstörung. Kenneth war allerdings nicht entgangen, wie trotzig sie das Kinn hob, als sie es ihm eröffnete. Und das wiederum konnte nur eines bedeuten: Etwas ungemein Wichtiges stand für sie auf dem Spiel.
Ihm war klar, dass sie in ernsthaften Schwierigkeiten stecken musste, nur wusste er nicht, in welchen. Aber das würde er herausfinden. Badra verschanzte sich hinter Mauern, dicker als die einer Pyramide, und diese musste er durchbrechen, wenn er erfahren wollte, was sie vor ihm verbarg.
Sie stiegen in Kairo aus dem Zug und fuhren direkt zum Shepherd’s Hotel. Dort ging Kenneth voraus zum Empfang. Die verwunderten Blicke der Engländer ignorierte er, schritt an einer Gruppe plaudernder Gäste vorbei, die ihm Grüße zuriefen, und blieb erst wie angewurzelt stehen, als ein kleines Mädchen in einem langen roten Kleid mit aufgestickten gelben Blumen auf ihn zugerannt kam.
Die Kleine war dünn und ihr langes mitternachtschwarzes Haar zerzaust. Mit flehendem Blick sah sie zu ihm auf. »Bitte, Sir, seid Ihr der Duke of Caldwell?«
Ein vorüberkommender Portier entdeckte sie, und sogleich ergoss sich eine wüste Tirade arabischer Beschimpfungen auf das Kind. »Göre! Hab ich dir nicht gesagt, dass du verschwinden und aufhören sollst, die Gäste zu belästigen? Das fragst du seit gestern Abend schon jeden einzelnen Engländer hier!«
Das kleine Mädchen reckte trotzig das Kinn, was Kenneth auffallend an Badra erinnerte, und klammerte sich fest an Kenneths Hosenbein. Er winkte den Portier weg und bückte sich zu dem Kind hinunter.
»Bist du Jasmine?«, fragte er auf Arabisch.
»Ja. Ich bin Badras Schwester. Sie sagt, sie erwartet Euch im Pleasure Palace.«
Bestürzt sah Kenneth das Mädchen an, das bei aller offensichtlichen Traurigkeit doch mutig seinem Blick standhielt. Ein couragiertes Auftreten, obwohl die Kleine innerlich vor Angst zitterte, wie er annahm. Auch darin ähnelte sie Badra …
»Woher kommst du, Kleine?«, fragte er freundlich.
Furcht spiegelte sich in ihren riesigen braunen Augen. »Ich komme vom Pleasure Palace. Badra sagte, sie lassen mich frei, aber sie ist dageblieben. Warum?«
Erst jetzt wurde ihm die Tragweite von Badras Worten bewusst. Als höbe sich ein Schleier von seinen Augen, verstand er plötzlich alles, und es schnürte ihm beinahe die Kehle zu. »Sie ist dageblieben, weil sie dich sehr, sehr lieb haben muss, Kleine. Genug, um sich für deine Freiheit zu opfern.«
Der Khamsin-Scheich und die anderen standen um sie herum. »Badras Schwester?« Jabari runzelte die Stirn.
»Nicht ihre Schwester«, erwiderte Kenneth auf Englisch, richtete sich auf und sah den Scheich an. »Ihre Tochter. Fareeqs Kind.«
Er musste unweigerlich schmunzeln, als er ihre verdutzten Gesichter sah. Jasmine blickte verunsichert von einem zum anderen, weil sie nicht verstand, was der weiße Engländer sagte. Kenneth zog sie an seine Seite und legte ihr die Hand auf den Kopf. Als er fühlte, wie sie zitterte, sah er hinunter. Das arme Ding bebte vor Angst. Er holte eine kleine ovale Dose aus seiner Tasche, hob den Deckel ab und nahm das Schutzpapier innen ab. Dann bückte er sich zu Jasmine und hielt ihr die Dose hin.
»Magst du Zitronenbonbons?«
Vorsichtig nahm sie einen der Bonbons. »Was sind das?«
»Probier mal!«, ermunterte er sie.
Ihr Elfengesicht strahlte vor Freude, als sie den Bonbon in ihren Mund steckte. Kenneth lächelte.
»Hab keine Angst, Jasmine«, sagte er leise. »Badra bat darum, dass ich mich um dich kümmere, und das werde ich auch. Sie vertraut mir.«
Sie betrachtete ihn mit großen Augen, die zu erwachsen und zu ernst für ihr Alter wirkten. »Badra hat gesagt, ich soll Euch vertrauen.« Sie legte ihre Hand in seine. »Ich vertraue ihr, also vertraue ich Euch auch.«
Eine schlichte Aussage, die Kenneth zu Herzen ging. Er nickte zu Ramses. »Das ist Ramses. Er hat eine kleine Tochter und ist ein sehr guter Vater. Er wird für eine Weile auf dich aufpassen.«
Jasmine beäugte den muskulösen Krieger misstrauisch, unbeeindruckt von Ramses’ freundlichem Lächeln. »Hat er auch Zitronenbonbons?«
Prompt hielt Ramses die Hand auf, und Kenneth gab ihm lachend die Dose mit den Süßigkeiten. »Jetzt hat er welche. Geh mit ihm, Kleine!«
Er sah Ramses nach, der mit dem Mädchen zu einer Sesselgruppe ging und tat, was jeder gute Vater in einer solchen Situation tun würde – er beruhigte ein Kind, das offensichtlich etwas Traumatisches erlebt hatte. Jabari starrte den beiden mit offenem Mund nach.
»Warum hat Badra uns nichts davon erzählt?«, fragte er schließlich.
»Ich vermute, sie wollte ihre Identität geheim halten, weil sie sich schämte, ein uneheliches Kind zu haben, noch dazu von deinem erklärten Erzfeind.«
Der Scheich schien entsetzt. »Denkt sie denn, ich würde ihre Tochter nicht in unseren Stamm aufnehmen?«
Kenneth verzog keine Miene, als er ihm antwortete: »Erinnerst du dich, was du einmal gesagt hast? Dass du alle Kinder von Fareeq als deine Feinde betrachtest und gezwungen bist, sie zu vernichten?«
Jabari wurde kreidebleich und sah sehr unglücklich aus.
»Da habe ich im Zorn gesprochen. Ich hätte Badras Kind nie etwas angetan.«
»Ich weiß«, sagte Kenneth seufzend. »Die Zimmer werde ich auf meinen Namen buchen, wenn es dir recht ist. Ich habe ein Kundenkonto in diesem Hotel. Danach muss ich weg.«
Jabari sah ihn an. »Und wo willst du hin, Khepri?«
»Ich hole Badra zurück«, antwortete er entschlossen.
Rashid plusterte sich auf. »Das ist meine Aufgabe!«, wandte er beleidigt ein.
»Dir fehlt das Geld dazu«, erwiderte Kenneth sachlich. »Und sie werden weniger misstrauisch sein, wenn ein englischer Herzog etwas exotische Damengesellschaft wünscht, als wenn ein ägyptischer Krieger dort auftaucht.«
»Der wohlhabende englische Herzog wünscht also, Badra zu kaufen, ja? Du glaubst, für Geld bekommst du alles, nicht wahr? Aber du kannst dir damit keine Ehre kaufen«, konterte Rashid scharf.
»Du wagst es, mich zu beleidigen?«
Rashid funkelte ihn verächtlich an. »Ich wage es, die Wahrheit auszusprechen. Du willst Badra kaufen, um sie als deine Hure zu benutzen.«
Kenneth wurde unbeschreiblich wütend und war drauf und dran, Rashid auf der Stelle einen Fausthieb zu versetzen. Dann aber dachte er an Jasmine und sah zu dem kleinen Mädchen hinüber, das neben Ramses saß.
»Nicht hier!«, zischte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Gehen wir nach draußen.«
Jabari schwieg und nickte nur kurz, als Rashid ihn fragend anschaute. Mit einem erzürnten Laut machte der junge Krieger auf dem Absatz kehrt und folgte Kenneth nach draußen, vorbei an den älteren Männern, die auf der eleganten Terrasse bei ihrem Nachmittagstee saßen, die Stufen hinunter und an dem Schlangenbeschwörer vorüber, der die Touristen unterhielt. Auf der Straße blieben beide Männer stehen.
»Klären wir das ein für alle Mal, Rashid. Du und ich – jetzt!«
»Mit Vergnügen!«, antwortete er wutentbrannt.
Kenneth wartete nicht. Frauen, die mit ihren englischen Ehemännern auf der Straße promenierten, schrien auf, als Kenneth die Faust gegen Rashids Kinn rammte. »Das ist dafür, dass du mich beleidigt hast!«, knurrte er.
Rashid zuckte nicht einmal mit der Wimper. Die beiden Männer begannen, sich mit erhobenen Fäusten zu umtänzeln. Dann prallte Rashids Faust hart in Kenneths Bauch. Er krümmte sich keuchend. Der Mann hatte einen verflucht heftigen Schlag.
»Das ist dafür, dass du Jabari beleidigt hast, meinen Scheich, als du nach England abgereist bist!«, erklärte Rashid höhnisch.
Kenneth wich seinem nächsten Schlag aus und schaffte es, einen Überraschungstreffer zu landen. Rashid verzog das Gesicht vor Schmerz und wich zurück.
Es war lächerlich, was sie hier veranstalteten – sich zu prügeln wie die Schuljungen. Kenneth packte Rashid beim Kragen seines blauen Binish und zerrte ihn näher zu sich. Rashids Nasenflügel bebten.
»Hör mir zu!«, raunte Kenneth ihm gefährlich ruhig zu. »Badra gehört mir. Das tat sie immer schon. Und ich werde tun, was nötig ist, um sie zu retten. Sie gab alles auf, um ihre kleine Tochter aus der Sklaverei zu befreien. Jetzt muss ich sie da rausholen, aber ich bezweifle, dass ich es allein kann. Falls du also aufhören willst, ein sturköpfiger Idiot zu sein, kannst du mir helfen, statt meine Zeit zu verschwenden.«
Rashid kniff den Mund zusammen, erhob jedoch nicht noch einmal die Fäuste. Stattdessen funkelte er Kenneth zornig an.
»Immer schon dein, Kenneth? Um sie zu erniedrigen? Um sie zu benutzen und dann wegzuwerfen? Ich sterbe lieber, als dass ich zulasse, dass du ihr weh tust!«
»Gütiger Gott!«, entgegnete Kenneth verärgert. »Du denkst, das würde ich tun? Eher treibe ich mir ein Messer in die Brust. Ich liebe sie!«
Verdammt! Er hatte nicht vorgehabt, das zuzugeben.
»Was?« Rashid runzelte verwundert die Stirn.
»Ich liebe sie«, wiederholte Kenneth und lockerte seinen Griff. »Das habe ich immer und werde es auch immer. In den ganzen Jahren, die ich ihr Falkenwächter war, habe ich sie geliebt.«
Rashids Züge verfinsterten sich, und er schien gleichsam in sich zusammenzusinken. »Du liebst sie«, sagte er nachdenklich, als könnte er es nicht glauben.
»Ja, ich liebe sie und würde sie nie, niemals verletzen – nicht willentlich. Ich will alles tun, damit sie glücklich ist.«
Ein Schatten legte sich über Rashids Gesicht.
»Also, hilfst du mir nun? Beenden wir diesen lächerlichen Streit und raufen uns ein einziges Mal zusammen, um der Frau zu helfen, an der uns beiden viel liegt?« Kenneth streckte ihm die Hand hin.
Für einen kurzen Moment dachte er, der Krieger würde ablehnen und ihn wütend beiseitestoßen. Dann aber schüttelte Rashid ihm die Hand. »Ja, ich helfe dir.«
Kenneth grinste. »Gut. Und jetzt geh dich waschen, Mann! Du siehst furchtbar aus!«
»Nicht so schlimm wie du«, konterte Rashid. Seite an Seite stiegen sie die Stufen zum Hotel hinauf.
Kenneth fand das Bordell in einem Außenbezirk Kairos, nachdem er dem Kutscher ein paar Münzen zugesteckt und ihm diskret zugeraunt hatte, wohin er wollte. Das Gebäude sah wie eine gehobene Kairoer Villa aus, zweigeschossig und mit einer massiven Holzeingangstür. Und es stand auf einem ziemlich großen Grundstück, bot also reichlich Abstand zu den Nachbarn – damit sie die Schreie der kleinen Mädchen nicht hörten, die im Haus festgehalten wurden.
Drinnen standen opulente Möbel. Dicke Perserteppiche lagen auf dem Marmorboden, und die hohen Decken waren stuckverziert. Kenneth fand heraus, dass am morgigen Nachmittag eine Auktion stattfand, bei der zwei Frauen zur Versteigerung angeboten wurden. Eine von ihnen war Badra.
Enttäuscht und rastlos kehrte er ins Hotel zurück. Jabari sagte kaum etwas, als er die Nachricht empfing, nur dass er mehr Krieger zu ihrer Verstärkung herbestellen wollte. Kenneth schickte ein Telegramm an seinen Anwalt in London, in dem er ihn beauftragte, per Eilauftrag eine große Summe auf eine Bank in Kairo zu überweisen. Die brauchte er, um Badra zu kaufen. Als Nächstes rief er nach Zaid und instruierte ihn, zur Ausgrabung zu fahren und de Morgan und Victor seine plötzliche Abreise mit »dringenden geschäftlichen Angelegenheiten« zu erklären. Kenneth wies Zaid an, dortzubleiben und ein Auge auf Victor zu haben. Er traute seinem Cousin nicht.
In dieser Nacht lag er in dem breiten Bett in seiner eleganten Suite und konnte nicht schlafen. Wie ein Leichentuch hing das Moskitonetz über ihm. Als er schließlich einnickte, plagten ihn Träume von einem anderen Mann, der Badra kaufte, sie in einen dunklen Raum zerrte, langsam die Tür hinter sich schloss und ihm so die Sicht auf ihre großen angsterfüllten Augen nahm. Ihre Schreie hallten ihm durch den Kopf.
Am nächsten Nachmittag fuhr er wieder in den Pleasure Palace. Er wartete mit anderen Männern im Ka’ah, dem großen Empfangszimmer des Bordells, und hatte alle Mühe, seine Wut im Zaum zu halten. Dutzende Männer hockten auf roten Kissen auf dem Boden, an die mit hohen Polstern versehene Wand gelehnt, während andere herumgingen, Datteln aßen oder Fruchtsäfte tranken. Kenneth setzte sich und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf seine Knie.
Als die Palastwachen die potenziellen Käufer in den Raum nebenan baten, ermahnte er sich im Stillen, sich nicht anmerken zu lassen, dass er Badra erkannte. Nichts jedoch hätte ihn gegen den entsetzlichen Schmerz wappnen können, den er empfand, als er sie auf dem Podest erblickte. Mit ihren großen dunklen Augen und dem schwarzen Haar war sie schön wie die Wüstennacht, wenn Tausende Sterne am Himmel funkelten.
Sie hielt ihren feuerroten Rock in einer geballten Faust, das Kinn trotzig in die Höhe gereckt, und starrte auf die Männer hinab. Sie alle stierten die Frauen lüstern an und machten anzügliche Bemerkungen. Am liebsten hätte Kenneth sie auf der Stelle vom Podest geholt und wäre mit ihr geflohen. Sie zu schützen war ein fester Bestandteil seines Seins. Er musste sie retten!
Sie ließ sich anstelle ihrer Tochter als Konkubine verkaufen. Ihre Liebe erstaunte und beeindruckte ihn. Aber warum hatte sie die Artefakte gestohlen? Aus demselben Grund? Es gab noch einige offene Fragen, die sie ihm beantworten musste.
Es schmerzte ihn, sie so zu sehen. Er wusste, dass sie Angst hatte, und doch stand sie vollkommen regungslos da. Sie zitterte nicht einmal. Eine Mischung aus Liebe und Verlangen brachte Kenneths Blut zum Kochen, als der Auktionator sie herumdrehte und sie auf eine Weise entblößte, wie Kenneth es sich in den Jahren als ihr Wächter höchstens zu erträumen gewagt hatte.
Er wurde unbeschreiblich zornig, wollte den schleimigen Auktionator mit Fäusten traktieren und ihm zeigen, was es bedeutete, einen Khamsin-Krieger zu erzürnen. Stattdessen sah er Badra ins Gesicht und brachte alle Selbstdisziplin auf, die er als Krieger erlernt hatte, als er ihrem Schutz verpflichtet gewesen war und sein eigenes Verlangen hatte unterdrücken müssen. Während dieser Jahre hatte er sich tagein, tagaus gewünscht, mit Badra in den Sand zu sinken, um tief in die weiche Pforte ihres phantastischen Körpers hineinzustoßen und ihr Worte der Leidenschaft ins Ohr zu flüstern. Er hätte seine Seele verkauft, um in ihrer Nähe zu sein.
Mein, mein, mein, hallte es ihm durch den Kopf, während er sich wütend unter den Männern umblickte. Sie alle begafften Badra mit gierigen Augen, als wäre sie ein köstliches Gericht, das sie verschlingen wollten.
Er hingegen hatte sie nie, nicht ein einziges Mal in den fünf Jahren, die er sie bewacht hatte, als etwas betrachtet, das man benutzt und dann wegwirft. Diese Männer kannten sie nicht, wussten sie nicht zu schätzen. All die Liebe, die er jahrelang unterdrückt hatte, überflutete Kenneth innerlich wie der Ozean den trockenen Sand. Er sah Badra an und schickte ihr eine stumme Botschaft, von der er inständig hoffte, sie könnte sie irgendwie vernehmen.
Ich liebe dich. Ich werde nicht zulassen, dass dich ein anderer Mann zu seiner Lustbefriedigung benutzt und missbraucht, was ich fünf Jahre lang beschützte: deine Ehre und deine Tugend. Du bist keine Ware, die man kaufen und verkaufen kann. Du verdienst die Liebe eines Mannes, der dich als den Schatz verehrt, der du bist. Für mich bist du kostbarer als Gold. Ich würde alle Reichtümer aufgeben, die ich besitze, um dich für eine Nacht in den Armen halten zu können. Für eine Nacht deiner wahren Liebe gäbe ich den Rest meines Lebens.
Ihm wurde unerträglich heiß, als er ihren wohlgeformten Schenkel sah. Der Auktionator hatte ihr Kleid hochgehoben, um zu zeigen, was Badras Käufer im Bett erwartete, und dabei anzüglich ins Publikum gegrinst. Kenneth fluchte im Geiste, und automatisch wanderte seine Hand zu seiner Hüfte. Kein Krummsäbel. Er musste sich ausschließlich auf seinen Verstand und seine brennende Liebe verlassen.
Mit zusammengebissenen Zähnen blickte er sich unter den Männern um, die sich immer dichter an das Podest drängten. Da er ihre Angst spürte, bedeutete er Badra mit den Augen, was er ihr nicht sagen konnte.
Hab keine Angst! Ich werde nicht zulassen, dass sie dich bekommen.
Vor ihren Augen wurde ihre alptraumhafte Vergangenheit ein zweites Mal Wirklichkeit. Badra starrte in die gesichtslose Menge, fest entschlossen, sich weder die Furcht noch die Scham anmerken zu lassen, die es ihr einjagte, wie ein Schaf verkauft zu werden. Sie hatte das hier schon einmal durchgemacht, mit elf Jahren, zitternd und durcheinander, voller Angst vor den dunklen Augen der Männer, die sie gierig angeglotzt hatten. Damals hatte sie keine Ahnung gehabt, was die Männer von ihr wollten. Heute wusste sie es.
Die Zeit schleppte sich unerträglich langsam dahin. Badra biss sich auf die Unterlippe, als der Auktionator ihr Kleid bis zum Oberschenkel anhob.
»Seht her, meine lieben Freunde! Habt ihr je so etwas Köstliches gesehen? Die hier bringt euch ganz sicher ins Paradies, wenn ihr sie in euer Bett mitnehmt. Sie ist keine Jungfrau mehr, aber dafür umso erfahrener in der Kunst, sinnlichen Hochgenuss zu bereiten.«
Ein Raunen ging durch den Raum, das ihre Beherrschung bis an die Grenze strapazierte. Wenn sie ihre Angst bemerkten, würden sie sich erst recht wie die Wüstenschakale auf sie stürzen. Badra stand kerzengerade da und versuchte, Ruhe zu bewahren. Du bist kein Schaustück! Du wirst dich von diesen Männern nicht ängstigen lassen!
Sie musste sich auf etwas Friedliches, Heiteres konzentrieren, um die geifernden Männer und ihre abstoßenden Bemerkungen aus ihrem Kopf zu vertreiben.
Khepri. In der Menge konnte sie ihn nirgends entdecken.
Aber in Gedanken sah sie ihn vor sich, seine leuchtend blauen Augen, seine kriegerische Strenge und Kraft, seinen städtischen Charme und seine Eleganz als englischer Herzog. Wie sehr er sich verändert hatte – und auch wieder nicht. Er war ein Ehrenmann, ein mächtiger Mann, ihr Beschützer. Was würde Khepri sagen, um ihr die Angst zu nehmen?
Er würde zwinkern und ihr zuflüstern: »Schau sie dir an! Hab keine Angst! Stell sie dir nackt und impotent vor: ihre schlaffen Schmerbäuche, die Grübchen in ihren fetten Hintern, ihre winzig kleinen …«
Ja, das half ihr. Sie malte sich aus, wie Khepri den fetten Mann in der vorderen Reihe ansah. »Sieh dir den an: Hast du je einen Mann mit so vielen Kinnen gesehen? Glaubst du, er hat für jedes Kinn drei Ehefrauen? Ob er jedem Kinn einen eigenen Namen gibt?«
Ach, Khepri!, dachte sie stumm und wünschte sich von ganzem Herzen, ihn zu sehen. Du hast mich immer zum Lachen gebracht. Du gabst mir das Gefühl, mir könnte nichts geschehen. Selbst jetzt, da du weit weg bist, helfen mir die Erinnerungen an dich, zu überleben.
Ihre Entschlossenheit half ihr, aufrecht dazustehen und ihre Schultern durchzustrecken. Lächelnd hielt sie das Bild von Khepri in ihrem Kopf fest, sein freundliches Grinsen und seine kecke Überlegenheit, seine zärtliche Sorge und beachtliche Courage.
Khepri war auf eine Bühne wie diese gestellt worden, als er nach England zurückkehrte – begafft und angestarrt wie sie jetzt von ihren potenziellen Bietern. Daran hatte sie vorher noch nie gedacht. Ob Kenneth sich ebenso nackt gefühlt hatte wie sie? Trotzdem schien er die Rolle des englischen Adligen sehr charmant zu spielen und verriet durch nichts, dass es ihm etwas ausmachte, von den anderen Adligen angestarrt und abgeschätzt zu werden wie eine Ware.
Dass ihr Falkenwächter wahrscheinlich dasselbe durchlitten hatte wie sie, gab ihr neuen Mut, und Badra entspannte sich – bis das Bieten begann. Sie schluckte.
»Gentlemen! Diese bezaubernde Lady ist für einen von Ihnen zu haben, exklusiv, für einen Monat reinster Wonnen. Das unterste Gebot sind fünfhundert Pfund.«
Finger ragten auf, Köpfe nickten, und die Gebote gingen höher und höher. Eine eiserne Furcht schnürte Badra den Brustkorb zu. Von nun an war sie gezwungen, sich Monat für Monat einem neuen Herrn zu fügen. Das war schlimmer, als sie gedacht hatte. Das Gebot erreichte tausend Pfund. Badra dachte an Khepris aufmunterndes Lächeln, an seine sanfte Art. Sie durfte nicht in Panik geraten. Khamsin-Krieger zeigten vor dem Feind nie ihre Gefühle, und sie würde es auch nicht.
Der Mann, der das letzte Gebot abgegeben hatte, stand ziemlich weit vorn. Sein Gesicht war hager, die Wangen eingefallen. Er hatte ein grausames Lächeln. Badra konnte nichts dagegen tun, dass ihr ein Schauer über den Rücken lief, ebenso wenig wie gegen die eisigen Zwingen der Furcht, die sich um ihr Herz legten.
Dann ertönte eine ruhige Stimme, die sagte: »Fünftausend Pfund.« Sie klang arrogant, selbstsicher.
Alle wandten sich nach hinten um, von wo aus die befehlende Stimme leise den stickigen Raum beherrschte. Badra wollte glauben, dass es Khepri war, konnte ihn aber nicht sehen. Sie reckte den Hals, da schlug der Auktionator sie.
»Bleib, wo du bist!«, schnauzte er sie an.
Durfte sie hoffen? Weitere Gebote wurden nicht gemacht, und eine beklemmende Stille legte sich über den Raum.
Der Auktionator rief: »Verkauft! Sir, wenn Sie bitte ins Ka’ah gehen wollen, um die Bezahlung zu regeln – und dann wird Ihre neue Konkubine Sie empfangen. Sie wird Ihre wildesten Wünsche erfüllen.«
Badra wurde weggeführt, bevor sie den großen dunkelgewandeten Fremden näher ansehen konnte, dessen Gesicht im Schatten verborgen war. Ihr blieb nichts, als zu beten, dass ihr neuer Herr sich ihr gegenüber nicht so hart gebärden würde, wie seine Stimme klang.
Das Haus war ähnlich gebaut wie viele andere Kairoer Villen, mit einem großen ummauerten Garten und dunklen Holzläden vor den Fenstern, von denen man hinaus in den üppigen Blumengarten blickte. Die Privatgemächer im Innern hatten hohe Decken und mit Fliesenschmuck verzierte Wände. Diwane und schwere Kissen waren in einem der Räume verstreut, in einem kleinen Alkoven stand ein obszön großes Bett, auf dessen besticktem Überwurf Seidenkissen lagen.
Zwei Eunuchen bewachten die Tür. Sie sollten dafür sorgen, dass niemand außer ihrem neuen Herrn Zutritt bekam und sie nicht fliehen konnte. Badra ging auf und ab, rieb sich fröstelnd die Arme und kämpfte gegen ihre unbeschreibliche Angst. Du kannst das!, beruhigte sie sich selbst. Du bist eine erwachsene erfahrene Frau, keine verängstigte elfjährige Jungfrau!
Aber sie hatte dieselbe Furcht wie damals als Kind.
Ihr Blick fiel auf den hohen Spiegel an einer der Wände. Sie ging hin, um sich genauer anzusehen. Große ängstliche Augen, umrahmt von schwarzem Kajal, starrten ihr entgegen. Ein türkisfarbenes Seidenkleid mit weißen Volants bedeckte ihren Körper, und ein durchsichtiger Schleier aus weißer Gaze mit an den Saum gestickten Münzen verbarg ihr Gesicht. Der Schleier sollte die exotische Atmosphäre steigern und ihren neuen Herrn erregen, nicht etwa ihre Scham lindern.
Sie trug safranfarbene Pantoffeln aus weichem Ziegenleder mit türkisfarbenen Paspelrändern und aufgestickten türkisfarbenen und weißen Blumen. Beim Anblick der Pantoffeln erschauderte sie, erinnerten sie doch zu sehr an jene, die sie anziehen musste, als sie zum ersten Mal hier Sklavin war.
Resigniert schritt sie hinüber zum Bett und prüfte die Matratze mit einer Hand: weich wie eine Wolke. Zu wissen, was geschehen würde, erschütterte ihr Selbstvertrauen bis ins Mark. Badra setzte sich und verschränkte ängstlich die Arme.
Wer mochte er sein? Noch ein grausamer, sadistischer Mann, der lachte und sie vergewaltigte, bis ihr Geist wie benebelt war? Vielleicht hatte sie diesmal Glück, und ihr Herr würde sich nur brunftig auf sie wälzen, sie aber nicht mit der Peitsche traktieren.
Sie dachte an Khepri, wie sanft er sie früher an die Hand genommen hatte, wenn sie ins Dorf Amarna gegangen waren. Wie er sie wieder zurück zu Jabari geführt hatte. Mit seinen blauen Augen hatte er sich auf der Straße umgesehen, stets auf der Hut vor Feinden. Sie hatte die Sicherheit seines Krummsäbels genossen, der allzeit bereit gewesen war, jeden niederzustrecken, der sie zu berühren wagte.
Khepri. Kenneth, heute. So fremd, dass sie ihn kaum wiedererkannte, und doch strahlte sein großer muskulöser Körper nach wie vor Kraft und Geborgenheit aus. Nur gehörte er jetzt in das grüne Land jenseits des Wassers, der Mann, der sie einst mit so viel Liebe und Hingabe angesehen hatte.
Schritte kamen den Korridor entlang. Badra erstarrte kurz, dann zupfte sie mit klammen Fingern an dem Gazestoff ihrer Haremshose und verschränkte die Arme fest vor der Brust, als die Tür aufging.
Sie hörte das feste harte Auftreten von männlichen Füßen. Am ganzen Leib zitternd, sah sie zu Boden, wo sie braune Lederstiefel näherkommen sah.
Es kostete sie äußerste Anstrengung, etwas zu sagen. »Mein Herr, ich bin gewillt, alles zu tun, was Ihr wünscht. Worum ich Euch nur bitten würde, ist … bitte, bitte, schlagt mich nicht!« Ihre Stimme war leise und bebend.
Neben ihr sank die Matratze unter dem Gewicht ihres neuen Besitzers. Dann griff eine Hand sanft ihr Kinn und hob ihren Kopf leicht an. Mit ihrem letzten bisschen Courage blickte Badra auf – und sah geradewegs in ein vertrautes blaues Augenpaar.
»Meine liebe Badra«, sagte der Duke of Caldwell leise, »wie oft soll ich es dir noch erklären? Solange ich atme, wird dir niemand je weh tun.«