Kapitel 4
Gott steh mir bei!, dachte Badra verzweifelt. Ihr Herz hämmerte wie wild in ihrer Brust. Ängstlich beobachtete sie den Ladengehilfen, der Kenneth vollkommen ungerührt ansah.
»Bedaure, Euer Gnaden, ein solches Stück führen wir nicht.«
Erleichtert ließ Badra die Schultern sinken, während der Mann diskret die Schublade zuschob, in der sich die gestohlene Halskette befand.
Kenneth trommelte mit den Fingern auf den Ladentisch und sah auf die Schaukästen hinab. Unwillkürlich musste Badra daran denken, dass er derselbe Mann war, der einen Eid geschworen hatte, sie mit seinem Leben zu beschützen. Und nun war er ein Fremder. Wären seine blauen Augen nicht, hätte sie ihn womöglich gar nicht erkannt. Das dunkelbraune Haar reichte ihm nur noch bis zum Kragen seines Mantels, und seine Wangen, die ehedem von einem getrimmten Vollbart verhüllt wurden, waren glattrasiert. Zum ersten Mal sah sie sein kantiges Kinn. Durch den fehlenden Bart kamen allerdings auch seine vollen sinnlichen Lippen und seine schmale Nase besser zur Geltung. War Khepri lediglich gutaussehend gewesen, so beeindruckte dieser Fremde sowohl mit einem atemberaubenden Äußeren als auch mit seinem vornehmen, tadellosen Auftreten. Sein grauer Wollübermantel reichte ihm bis zu den Oberschenkeln. Badra blickte auf seine Füße – keine weichen blauen Lederstiefel, sondern polierte schwarze Schuhe.
Einst hatte sie in diesen blauen Augen nichts als Freundlichkeit gesehen. Heute hingegen schienen sie kälter als die Luft draußen. Ganz und gar ein wahrer englischer Herzog, hielt Kenneth die breiten Schultern vollkommen gerade und die in Seidenhandschuhe gehüllten Hände hinter dem Rücken verschränkt.
Er war immer schon ein aufmerksamer, scharfer Beobachter gewesen, hatte jede ihrer Bewegungen überwacht, und sie fürchtete, er würde bemerken, dass sie zu schnell atmete. Dann würde er Fragen stellen und Antworten verlangen. Doch er studierte lediglich die Kunstgegenstände und erkundigte sich nach ihrer Herkunft. Aus dem Hinterzimmer waren Stimmen zu hören, als die Tür aufging. Badras Herz setzte einen Schlag lang aus, als Rashid in den Raum trat.
Auf das Geräusch hin hatte Kenneth sich umgedreht. Rashid blieb stehen, als er ihn sah, und prompt wurde Badra heiß.
Abschätzig sahen die beiden Männer sich an. In Rashids braunen Augen funkelte eine solche Abscheu, dass Badra erschauderte. Seine Loyalität dem Scheich gegenüber gebot ihm, Kenneth als einen Verräter zu betrachten.
Eine halbe Ewigkeit starrten beide sich an.
»Hallo, Khepri«, sagte Rashid auf Arabisch, und sein Kinn unter dem dichten schwarzen Bart spannte sich. »Wie ich sehe, bist du wohlauf. Was für ein Jammer!«
Angsterfüllt beobachtete Badra, wie Kenneth die Augen ein wenig zusammenkniff und in derselben Sprache erwiderte: »Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich je wiedersehe, Rashid.« Er lächelte ihn eiskalt an. »Was für ein Jammer!«
»Ich denke, ich schulde dir etwas für die Art, wie du Jabari bei deiner Abreise beleidigt hast, Khepri«, sagte Rashid frostig.
Kenneth lächelte immer noch. »Dann gib es mir, wenn du Manns genug bist, denn ich möchte dich nicht in meiner Schuld wissen.«
Rashids Hand schnellte zur gleichen Zeit an seine Seite wie Kenneths. Verwirrt sah Badra von einem zum anderen.
Zum Glück führte keiner von beiden eine Waffe bei sich, so dass sie sich darauf beschränkten, einander feindselig zu umkreisen wie Hunde, die kurz davor waren, sich gegenseitig an die Kehle zu gehen. Sie hoben die geballten Fäuste. Beide Männer waren ungefähr gleich groß und gleich muskulös. Ohne weiteres könnten sie sich mit bloßen Händen töten.
Wieder ertönten Stimmen, und ein zweites Mal schwang die Tür zum Hinterzimmer auf. Der Geschäftsinhaber und Lord Smithfield kamen heraus. Letzterer trat sofort vor und legte Rashid eine Hand auf den Arm.
»Lass es gut sein!«, sagte der Earl ruhig.
Der Khamsin-Krieger kochte vor Wut und schüttelte die Hand des Adligen ab. Doch er wich mit einem höflichen Nicken zurück.
»Ich werde meinen Gastgeber nicht beschämen, indem ich hier Blut vergieße«, sagte er mit finsterer Miene zu Kenneth. »Aber sei gewarnt, Verräter! Die Zeit wird kommen.«
»Ich freue mich darauf«, erwiderte Kenneth mit einer gefährlich sanften Stimme. »Unterschätze mich nicht, nur weil ich jetzt englische Kleidung trage! Du weißt, dass ich dich besiegen kann.«
Kenneth schien sein Temperament zu zügeln, was Badra deutlich leichter atmen ließ. Rashids Gesicht war immer noch rot vor Zorn, als Kenneth zu ihr sah.
»Deine Kampfkünste solltest du besser aufsparen, um Badra zu schützen. Sie ist deine oberste Pflicht. Oder hast du schon vergessen, was Jabari dich schwören ließ?«
Badra wurde beinahe übel angesichts seiner unverhohlenen Feindseligkeit. Nur mit größter Mühe schien Rashid sich zurückhalten zu können. »Habe ich nicht. Meine oberste Pflicht ist, sie vor dir zu schützen.«
Ach, Rashid!, flehte Badra stumm und sah ihn an. Bitte nicht … Bitte tu ihm nicht mehr weh, als ich es schon getan habe …
Doch es war zu spät. Kenneth sah aus, als hätte Rashid ihm einen tödlichen Hieb mit dem Krummsäbel versetzt. »Du denkst wirklich, ich würde alles aufgeben, was ich als Khamsin-Krieger achtete, und willentlich einer Frau Schaden zufügen, die zu beschützen ich mit einem Bluteid schwor?«
»Du bist kein Khamsin mehr«, antwortete Rashid ruhig. Wie eine greifbare Drohung hingen die Worte in der Luft.
Kenneth wandte sich zu Badra um. »Glaubst du, dass ich Rache will?«
Würdest du sie üben, wenn sich die Gelegenheit böte?, fragte Badra sich und dachte an die Halskette. Sie lächelte, um ihre Angst zu verbergen.
»Ich glaube, wir strapazieren die Geduld des freundlichen Geschäftsinhabers über Gebühr. Für einen Nachmittag dürften wir ihm hinreichend Dramen geboten haben. Vielleicht ist es besser, wenn wir gehen – jetzt sofort«, sagte sie.
Kenneth wich zurück, als hätte sie ihn geohrfeigt.
Badra vermied es, auf seine direkte Frage zu antworten. Hieß das, dass sie ihn sehr wohl für fähig hielt, sie zu verletzen? Nach all den Jahren, die er damit verbracht hatte, ihr Leben besser zu bewachen als sein eigenes?
Für einen Moment stand er mit offenem Mund da, ehe er sich wieder fing und seine Aufgebrachtheit hinter einer steinernen Miene verbarg. Smithfield sah ihn an, als wollte er sich bei ihm für die unerfreuliche Szene entschuldigen. Kenneth bedankte sich bei ihm mit einem angestrengten Lächeln.
»Eine nette Überraschung«, sagte er.
Der Earl seufzte. »Ich dachte, Sie würden sich gern die Artefakte ansehen, die Sie mitgebracht haben, um sie an Ihren Cousin zu verkaufen.«
Kenneth warf einen kurzen Blick auf den ruhigen, aber vor Wut schäumenden Rashid. »Nur wenn sich darunter ein scharfer Dolch befindet.«
Verwirrt sah Badra zu Victor. Er war genauso groß wie Kenneth, hatte ebenfalls leuchtend blaue Augen und offensichtlich denselben scharfen Verstand. Allerdings waren seine Züge deutlich schmaler, wohingegen sein Körper recht korpulent wirkte.
»Mr. Edwards, der Inhaber … er ist dein Cousin?«, fragte sie.
»Du müsstest dich an ihn erinnern. Du hast ihn im Khamsin-Lager gesehen, als er und mein Großvater kamen, um mich zu holen«, antwortete Kenneth kühl.
»Ich wusste nicht …« Sie wandte sich an Victor. »Sie haben keinen Backenbart mehr, und Ihr Haar ist …«
»Weg.« Grinsend strich Victor sich über seinen fast kahlen Kopf. »Außerdem habe ich zugenommen. Ich gebe es ungern zu, aber ich erinnere mich auch nicht an Sie oder an unseren Freund Rashid hier. An jenem Tag habe ich viele neue Gesichter gesehen, und in der Erinnerung vermischen sie sich alle.«
»Ja, wir Araber sehen eben alle gleich aus«, mischte Rashid sich hörbar gereizt ein.
Smithfield sah unglücklich aus und nickte in Richtung Tür, vor der ihre Kutsche stand. »Wir gehen dann besser. Gehen Sie auch, Caldwell?« Der Earl sah aus dem Fenster. »Ist Ihr Kutscher hier?«
»Ich habe ihn nach Hause geschickt und ihm aufgetragen, in einer Stunde wiederzukommen«, gestand Kenneth.
Er bemerkte den Wagen des Earls vor dem Geschäft und wurde vor Verlegenheit rot. Wieder hatte er sich einen Fauxpas geleistet. Englische Adlige schickten ihre Kutscher nicht nach Hause, wo sie sich vor dem Feuer ihre durchgefrorenen Knochen wärmten, während ihre Herrschaften einkauften. Adlige ließen ihre Bediensteten in der Kälte warten. Und waren sie gutherzig, wie Smithfield, statteten sie ihre Kutscher mit warmen Pelzen aus und gaben ihnen kleine Kohleöfen, die ihnen die Füße wärmten.
»Ich fahre jetzt heim«, sagte Smithfield höflich – äußerst diplomatisch, »und in meiner Kutsche ist reichlich Platz. Möchten Sie uns vielleicht begleiten?«
Kenneth war erleichtert, nicht durch den eisigen Wind marschieren zu müssen. Deshalb nickte er und dankte dem Earl stumm. Der verwitwete Adlige, der eine ägyptische Prinzessin geheiratet hatte, war ein wahrer Freund. Sein Wissen um die ägyptische Kultur machte ihn zu einem unschätzbaren Berater für Kenneth, und manches Mal schon hatte Smithfield sich bei Kenneths Bemühungen, sich an die englische Kultur anzupassen, als Lebensretter erwiesen. Wie oft hatte der Earl ihn davor bewahrt, sich zu blamieren, ihn mit den Gepflogenheiten der feineren Kreise vertraut gemacht und ihm Dinge beigebracht, die für wohlhabende Engländer selbstverständlich, für Kenneth jedoch vollkommen fremd waren.
Smithfield wandte sich an Rashid.
»Ich denke, ich gehe lieber zu Fuß«, sagte Rashid und sah Badra an. »Kommst du mit mir?«
Sie trat einen Schritt vor und stolperte gleich wieder.
»Ich bezweifle, dass sie es in diesen Stiefeln schafft«, gab Kenneth zu bedenken. »Oder willst du sie den ganzen Weg tragen?«
»Das mache ich vielleicht«, konterte Rashid.
»Nein, ist schon gut«, sagte Badra rasch. »Ich sehe dich dann beim Earl, Rashid.«
Ihr Falkenwächter schritt an ihr vorbei aus dem Geschäft.
Badra atmete erleichtert auf, als die Kutsche losfuhr. Ihr gegenüber saß Kenneth, ganz in die eine Ecke gedrängt und stumm aus dem Fenster blickend. Sogleich meldete sich ein altvertrauter Schmerz in Badra. Ihr Khepri. Wie sehr sie ihn vermisst hatte! Am liebsten wollte sie seine Hand nehmen, seine Kraft fühlen, die sie fünf Jahre lang beschützt hatte, und den Krieger wiederentdecken, der in diesem fremden Engländer verborgen war. Mit ein wenig Zeit könnte sie ihn vielleicht wiederfinden, nun, da das Schicksal sie noch einmal zusammengebracht hatte. Dann aber sah sie Jasmines liebliches, unschuldiges Gesicht vor sich. Bei dem Gedanken daran, was ihrer kleinen Tochter bevorstehen könnte, ballte sie die Hände in ihrem Muff. Sie musste schnellstmöglich nach Ägypten zurück, um ihre Tochter vor der Sklaverei zu retten.
Als sie sich in die Samtpolster zurücklehnte, sah sie, dass Smithfield ihr zulächelte. »Vermisst du Ägypten?«, fragte er sie auf Englisch.
»Ja«, gestand sie. »Ich habe das Gefühl, ich werde gar nicht wieder warm, ehe ich nicht die ägyptische Sonne auf meinem Gesicht spüre.«
»Ja, Ägypten ist vollkommen anders als England. Ich frage mich oft, wie Katherine zurechtkommt.«
»Ihr geht es gut, auch wenn sie ihren Vater vermisst.«
Der Earl lächelte versonnen und strich sich die einzige graue Locke in seinem rabenschwarzen Haar aus der Stirn. »Noch ein Enkelkind. Ich bin zu jung, um schon Großvater zu sein. Wie dem auch sei, ich mache mir keine Sorgen um Katherine, denn Ramses ist ein guter Ehemann und Vater.«
Und er vergöttert Katherine, ergänzte Badra in Gedanken. Es war ein Leichtes gewesen, den fürsorglichen Krieger zu überzeugen, dass die weite Reise eine zu große Strapaze für seine schwangere Frau war. Badra hatte ihm versichert, dass sie an seiner statt die goldenen Mumienmasken nach England bringen könnte, die Lord Smithfield haben wollte. Ihr Falkenwächter indessen war überhaupt nicht begeistert gewesen, und erst auf beharrliches Nachfragen hatte er Badra schließlich gestanden, warum: Einst hatten Engländer das Al-Hajid-Lager besucht, und einer von ihnen hatte Rashid missbraucht. Der Mann lief nach wie vor frei herum …
Als die Kutsche langsamer wurde, schaute der Earl aus dem Fenster. »Der Verkehr … für diese Jahreszeit ist es ungewöhnlich belebt auf den Straßen.«
Badra und Kenneth sahen ebenfalls nach draußen. Rauhreif bedeckte die Grünflächen der Parks, die leeren Bänke und die kahlen Bäume. Auf einmal kam Badra der Raum in der Kutsche viel zu eng und zu heiß vor. Sie zog das Seitenfenster herunter, worauf ein eisiger Luftstrom ins Innere drang. Im nächsten Moment kamen sie neben eine glänzend schwarze Kutsche mit einem goldenen Wappen auf der Seitentür. Der ganze Wagen, dessen Fenster von dichten Vorhängen verhangen waren, wippte heftig hin und her.
Smithfield gab einen verärgerten Laut von sich, öffnete die Tür und stieg aus. »Ich sehe einmal nach, was da los ist. Ich befürchte, wir stecken fest. Da vorn bewegt sich gar nichts«, rief er und schloss die Tür wieder.
»Die Kutsche dort bewegt sich – sehr sogar«, bemerkte Kenneth.
Badra war froh, dass er das beklemmende Schweigen brach, beugte sich vor und sah nach draußen. Aus der Kutsche drangen lautes Stöhnen und leise Schreie.
Badra wurde feuerrot und stammelte: »Ich … ich dachte, die Engländer tun so etwas hinter verschlossenen Türen.«
»Ihre Türen sind geschlossen.«
»Aber sie … sie sind in der Öffentlichkeit!«
Kenneth sah wieder hinüber. »Ja, und mein Protokolllehrer hätte dazu gewiss die eine oder andere Anmerkung.«
Ein amüsiertes Funkeln leuchtete in seinen Augen auf, wich jedoch gleich einem berechnenden Blick, als er Badras Verlegenheit erkannte. Ihr wurde eiskalt, weil er ihre Scham so offensichtlich genoss. Er sah abwechselnd zur Kutsche und zu ihr, bevor er unverhohlen auf ihre Schenkel unter dem dichten Wollstoff schaute. Dann lächelte er vielsagend und gefährlich.
Ihr einstiger Wächter hätte sich niemals unterstanden, sie so schamlos und anzüglich anzusehen. Vielmehr hätte Khepri die Faust gegen jeden erhoben, der sich eine solche Ungehörigkeit erlaubte.
Aber er war jetzt Kenneth und nicht mehr Khepri.
Badra wurde wütend. »Tust du so etwas jetzt auch? Das ist vulgär – und ich hätte es nie von dir gedacht!«
Schlagartig nahmen seine Augen einen eisigen Ausdruck an. »Ganz und gar nicht. Ich brauche keine Kutsche, denn die englischen Damen sind vollkommen zufrieden mit meinem Bett.«
Nun errötete sie nicht vor Scham, sondern vor Eifersucht. Sie malte sich aus, wie eine hübsche blonde Engländerin stöhnend die weißen Schenkel um Kenneth schlang, seine rhythmischen Bewegungen sie auf die Matratze pressten.
Dann aber erschien ein anderes Bild: Scheich Fareeqs aufgedunsener, fetter Leib, der auf sie zukam, seine fleischige Faust, die brutal auf ihren von blauen Flecken übersäten Körper einschlug, bevor er sie auf die Ziegenfelle warf und mit Gewalt in sie eindrang. Sie wimmerte und schrie vor Schmerz …
Badra schluckte und zog eilig das Fenster wieder hoch.
Gleich darauf wehte eisige Luft hinein, als Smithfield die Tür öffnete und in die Kutsche zurückstieg. »Es wird nicht mehr lange dauern. Vorn ist ein Wagen in eine Vertiefung gefahren, aber sie ziehen ihn schon wieder heraus.« Er folgte den Blicken der anderen beiden zur benachbarten Kutsche. »Das ist Baron Ashburys Wagen. Aber er ist krank und zu seinem Landsitz gefahren. Seine Frau muss in der Stadt sein – obwohl sie zurzeit nicht empfängt.«
»Nun, irgendjemanden empfängt sie auf jeden Fall«, entgegnete Kenneth trocken.
Der Earl riss seine blauen Augen weit auf, als er die Bewegungen der Kutsche bemerkte. »Gütiger Himmel! Ja, das tut sie eindeutig.«
Kenneth lachte tief, während Badras Wangen vor Scham glühten. Zum Glück ruckte ihre Kutsche jetzt und fuhr weiter.
Der Earl sah sie entschuldigend an. »Ich hoffe, das hat dich nicht zu sehr aufgeregt, Badra.«
Sie rang sich ein Lächeln ab, da sie ihren freundlichen Gastgeber nicht in Verlegenheit bringen wollte. »Ist schon gut, Lord Smithfield. Ich bin es nur nicht gewöhnt, solche … Dinge zu sehen.«
»Nein, das hast du natürlich noch nie, vor allem nicht, solange du im Harem eines Scheichs gelebt hast«, höhnte Kenneth auf Arabisch.
Smithfield sagte leise in derselben Sprache: »Wir sollten lieber Englisch sprechen. Badra möchte die Sprache üben, und vielleicht werden Sie sich eher wie der zivilisierte Engländer verhalten, der Sie werden wollen, wenn Sie seine Sprache benutzen.«
Kenneth murmelte eine englische Entschuldigung und wandte das Gesicht wieder zum Fenster. Erneut entstand ein beklemmendes Schweigen, und Badra musste ein weiteres Mal erkennen, wie sehr ihr ehemaliger Beschützer sich verändert hatte. Er war nicht mehr Teil ihrer Welt.
Smithfields Lächeln milderte die Anspannung. »Bei meiner Dinnerparty wirst du reichlich Gelegenheit haben, dein Englisch zu üben, Badra. Ich gehe davon aus, dass Sie ebenfalls kommen, Caldwell.«
»Ich würde sie um keinen Preis versäumen wollen«, erwiderte Kenneth frostig. »Ich freue mich schon darauf.«
Badra war überhaupt nicht wohl bei dem Gedanken. Eine formelle Dinnerparty? Ihr war es unangenehm genug, wie die Leute sie auf der Straße ansahen. Sie war Ägypterin. Anders. Khepri hatte seine englischen Freunde, seine englische Tradition und Kultur. Er fügte sich mühelos in diese Gesellschaft ein. Sie hingegen passte ebenso wenig ins feuchte, schmutzige London wie eine Pyramide.
Wieder wurde es still in der Kutsche. Badra befühlte das Geld, das sie im Antiquitätengeschäft bekommen hatte, und erinnerte sich daran, weshalb sie vor allem hier war. Bei der Vorstellung, dass sie ertappt werden könnte, erschauderte sie. Wenn sie verhaftet und bloßgestellt würde, wäre damit ihr ganzer Stamm entehrt. Aber sie musste es um ihrer Tochter willen tun, koste es, was es wolle.
Verstohlen blickte sie zu Kenneth, der grimmig aus dem Fenster starrte.
Selbst wenn es sie selbst kostete.
Später an diesem Abend lag Kenneth in seinem steifen schweren Bett, in dem Generationen von Tristans gezeugt worden waren. Das breite Bett war so ausladend wie die Dünen Ägyptens, und die Pfosten mit den aufwendigen Rosenschnitzereien dick wie Baumstämme. Er vermisste sein schlichtes Khamsin-Bett: leicht, tragbar und bequem.
Erinnerungen quälten ihn – an kühle Nächte in der Wüste und an Badras verführerischen Gesang. Er drehte sich auf die andere Seite und boxte in sein Kissen. Zu gern würde er schlafen und vergessen, doch Schlaf wollte sich partout nicht einstellen.
Was, wenn sie ihn geheiratet hätte und er als Khamsin-Krieger in Ägypten geblieben wäre? Oder wenn sie sich getraut hätte, ihr Leben in der Wüste aufzugeben, um seine Herzogin zu werden? Nicht zum ersten Mal träumte er davon, Seite an Seite mit Badra über die Bond Street zu flanieren, Badra als charmante Gastgeberin an seinem Tisch zu sehen. Er malte sich aus, wie sie nackt unter ihm lag, sanfte Wonnelaute ausstieß und mit ihm den nächsten Duke of Caldwell zeugte. Monate später würden sie beide voller Stolz ihr Erstgeborenes in den Armen halten.
Die Bilder, die ihm durch den Kopf gingen, durchbohrten sein Herz mit einem entsetzlichen Schmerz, wie ihn nicht einmal ein Krummsäbel verursachen könnte. Kenneth vergrub das Gesicht im Kissen, um sein tiefes Stöhnen zu ersticken. Er musste Badra vergessen.
Aber wie könnte er das je?
Fünf Jahre lang war er ihr Schatten, auf Schritt und Tritt in ihrer Nähe gewesen. Und nun versetzte das Schicksal ihm einen fürchterlichen Hieb, indem es dafür sorgte, dass Badra ihn nicht minder hartnäckig verfolgte.
Verdammter Mist – er liebte den englischen Kraftausdruck –, sein Körper pulsierte vor Verlangen nach ihr! Er begehrte sie mit derselben Verzweiflung wie ein Durstender in der Wüste das Wasser. Ihr süßes Lachen, ihr scheues Lächeln wollten ihm einfach nicht aus dem Kopf gehen. Er konnte sie ebenso wenig aus seinen Gedanken verbannen, wie er sich die Kobratätowierung auf dem rechten Arm abwaschen konnte. Beide blieben ihm auf ewig eingeprägt.
Kalter Schweiß lief ihm über den Rücken, als er an etwas ganz anderes dachte – an die gestohlene Halskette. Er wollte den Dieb selbst ausfindig machen, statt sich auf andere zu verlassen. Es wäre ihm eine große Genugtuung, den Verbrecher eigenhändig zu überführen und zuzusehen, wie die Zellentür sich hinter ihm schloss.
Schließlich wurde er doch schläfrig. Er war fast eingeschlafen, als ihn etwas weckte. Sein Kriegerinstinkt, in jahrelangen Kämpfen gestählt, regte sich. Sofort blickte er zu den Glastüren hinüber, die auf die Terrasse führten. Ein Schatten fiel von draußen herein.
Vollkommen still lag Kenneth da, während der Eindringling in den Raum trat. Das Vollmondlicht wurde von etwas erhobenem Silbernem reflektiert.
Blitzgeschwind senkte das Messer sich auf ihn herab, doch Kenneth reagierte schnell, rollte sich herum und packte den Angreifer beim Handgelenk. Für einen kurzen Moment spürte er einen leichten Schmerz, als die Klinge seinen Arm aufkratzte. Dann versetzte er dem Einbrecher einen Fausthieb in den Bauch. Er hörte ein tiefes Ächzen, bevor der andere sich ihm mit einem Ruck entwand und floh.
Kenneth sprang aus dem Bett und rannte hinter der flüchtenden Gestalt her, die sich umdrehte und ihm mit Wucht in die Magengegend trat. Für wenige Sekunden blieb Kenneth die Luft weg. Sein Angreifer nutzte die Gelegenheit, um über das Terrassengeländer zu springen. Bis Kenneth es auf die Terrasse geschafft hatte, war dort nichts mehr als ein Stück baumelndes Tau zu fassen.
Kenneths Atem wurde wieder regelmäßiger, und er winkelte den verwundeten Arm an. Ungläubig, wütend und mit wachsendem Entsetzen sah er dem Eindringling nach.
Die Person, die durch den Garten im nächtlichen London verschwand, war nicht zu erkennen, sehr wohl aber ihre Kleidung. Es war eine auffällige Gewandung, wie sie die Wüstenkrieger trugen, die sich ihrer Ehrbarkeit, ihres Pflichtgefühls und ihrer überlegenen Kampfkünste rühmten. Dieselben Gewänder hatte Kenneth voller Stolz getragen, bevor er sie hier zusammen mit alten Erinnerungen in einer Truhe verstaute. Das Blau der Krieger des Windes.
Einer seiner früheren Brüder hatte soeben versucht, ihn zu ermorden.